I.

autonom

An Ostern 1995 fand an der TU Berlin eine ganz besondere Veranstaltung statt. Auf einem Kongress – schon diese Bezeichnung war im Vorfeld umstritten – versammelten sich die »undogmatischen linken Bewegungen«, und zwar besonders jener Teil, der in den Medien, aber auch in Selbstbeschreibungen und -bezichtigungen, immer »die Autonomen« genannt wurde. Der »Autonomie-Kongress« sollte Bilanz ziehen: zusammentragen, was die notorisch schwer dingfest zu machende Bewegung erreicht hatte, woran sie gescheitert war, und wie es weitergehen sollte. Vor allem im Hinblick auf den letzten Punkt wurde – so lässt es sich in Selbsthistorisierungen der Bewegung, aber auch in der historiografischen und sozialwissenschaftlichen Aufarbeitung nachlesen – nichts Bedeutendes zu Wege gebracht. Der Kongress, der der Bewegung neuen Schwung geben sollte, erscheint im Nachhinein eher als deren Beerdigung.Footnote 1

Die Krise der autonomen Bewegung manifestierte sich auf dem Kongress selbst schon in Form einer Akademisierung. Die Wahl des Veranstaltungsortes ließ natürlich einerseits nostalgisch an die großen Versammlungen der 68er denken, sie erwies sich aber auch als prophetisch: Spätestens seit den 1990er Jahren ist in den politischen Bewegungen der Anteil derjenigen, die über keinen Uni-Abschluss verfügen oder ihn anstreben, stetig gesunken; man wird das wenigstens als Verlust an sozialer Vielfalt werten müssen. Die Akademisierung der Linken hat also zugenommen, und das sicher nicht zum Schlechtesten der Akademie. Die gegenwärtig wieder viel diskutierte Konstellation von Aktivismus und Wissenschaft jedenfalls hat – wenn sie nicht einfach als neuestes must-have aus der anglo-amerikanischen Academia importiert wurde – ihre autochthonen Wurzeln auch in der autonomen Bewegung, die sich auf dem Kongress noch einmal reflektierte, zerfleischte und feierte.

Neben theorie- und bewegungshistorischen Genealogien (und Anekdoten) bleibt vom Autonomie-Kongress vor allem ein Slogan, der schon beim Eröffnungsplenum als vorweggenommenes Ergebnis an der Tafel stand, und der zu einer anderen Theoretisierung des titelgebenden Begriffs einlädt:

Autonomie ist selbstbestimmte Abhängigkeit.

II.

selbstbestimmung

Die Rede von der »selbstbestimmten Abhängigkeit« verschiebt den Begriff der Autonomie so, dass er sich der Tendenz nach auflöst, oder doch wenigstens seine innere Dialektik offenbart. Die »Paradoxien der Autonomie«, die diese »zwischen Willkür und Heteronomie unvermittelt oszillieren lässt«, werden heute auch in der zeitgenössischen post-idealistischen Philosophie wieder debattiert;Footnote 2Autonomie und Befreiung – diesen Titel trägt nicht nur ein Band mit aktuellen »Studien zu Hegel«, er hätte problemlos auch auf einer Broschüre der autonomen Bewegung der 80er Jahre stehen können.Footnote 3

Autonomie kann demnach nur dann als Befreiung und vielleicht sogar als Freiheit erfahren und gelebt werden, wenn sie um ihre Paradoxien weiß und diese reflektiert. Autonomie bedeutet nur als reflektierte Befreiung: Befreiung vor allem vom Anspruch und der Zumutung absoluter Freiheit und völliger Unabhängigkeit. In der Reflexion wird die Vorstellung, dass Unabhängigkeit das Ziel und die Essenz der Autonomie sein könnte, nicht nur als unerreichbar erkannt, sondern auch als falsch und schädlich. Die Formel von der selbstbestimmten Abhängigkeit löst die Paradoxien der Autonomie nicht auf, macht sie aber handhabbar – vielleicht auch im Hinblick auf das Problem literarischer Autonomie und autonomer Literatur.

III.

abhängigkeiten

Die autonome Klammer schließt sich. Die vielförmigen Veränderungen literarischer Produktion in der Gegenwart, die den Ansatzpunkt dieses Jubiläumsheftes der DVjs darstellen, können vielleicht auf den einen Nenner gebracht werden, dass sie sich dem Anspruch autonomer Literatur nicht mehr unterordnen lassen. Das Leitbild literarischer Autonomie, das vor gut zweihundert Jahren zunächst (klassisch-romantisch) im Rekurs auf die Autonomie »der dichterischen Persönlichkeit« und dann (in der emphatischen Moderne) auf die »sprachliche Autonomie der Literatur« selbst begründet wurde, verliert in der Gegenwart an Plausibilität.Footnote 4 Die Auflösung des lange als konstitutiv angesehenen Autonomie-Gebots vollzieht sich dabei auf Seiten der Produzent*innen und der Leser*innen offenbar geschmeidig und gedeihlich: Der Markt läuft (so gut oder schlecht oder schwankend wie Märkte eben laufen), vom ehedem erwarteten oder schon festgestellten Bedeutungsverlust der Literatur ist keine Rede mehr.

Wenn sich in der Gegenwart also die Klammer der Autonomie schließt, dann lohnt es sich, noch einmal darauf zurückzuschauen, wie und wo die Klammer geöffnet wurde. Dabei empfiehlt es sich, auch wieder einschlägige Untersuchungen dieser Frage zu konsultieren, die in einer Zeit abgefasst wurden, als die Autonomie der Literatur schon einmal vehement in Frage gestellt wurde. Bei Christa Bürger etwa wird die Herausbildung und Durchsetzung des Autonomiegedankens als ein in sich widersprüchliches Ineinander von Ermöglichung und Verlust, von Kompensationen und Ausgleichbewegungen geschildert: Die Möglichkeit, im Bereich der Literatur frei (nahezu) alles sagen zu dürfen, wird erkauft mit dem Verzicht darauf, tatsächlich alles zu sagen. Der Bereich der autonomen Literatur wird dabei »abgehoben« – so eine wiederkehrende Vokabel – von der »Lebenspraxis« der Rezipient*innen, äußerlich abgetrennt von jeder direkten, etwa politischen Wirksamkeit und Wirkungsabsicht, aber auch innerlich von allen affektiven Beimischungen, die insofern als »unrein« oder subaltern angesehen werden, als sie sich auf etwas anderes als den (Selbst)Genuss der literarischen Sprache richteten.Footnote 5 Die »niederen« Bedürfnisse, die die Leser*innen trotz alledem ja noch haben, werden fortan in der »niederen Literatur« befriedigt oder artikulieren sich in einem Personenkult um die großen Dichterheroen, die ihrerseits ihr ganz eigenes Reich im Bereich einer »hohen Literatur« errichten, das nur noch von ihnen und ihresgleichen betreten werden kann und darf.Footnote 6

Kunst- oder Literaturautonomie kann verstanden werden als eine Unabhängigkeitserklärung, die vollzogen und anerkannt werden muss. Literatur macht sich unabhängig von allen äußeren Ansprüchen, und wer hinfort diese Literatur angemessen (und eben nicht dilettantisch oder banausisch) rezipieren will, der muss lernen, sie »aus sich selbst heraus und um ihrer selbst willen« zu verstehen.Footnote 7

Einer der interessantesten und sicher wiederaufzunehmenden Aspekte des Ansatzes von Christa Bürger (und Peter Bürger) liegt darin, die autonome Literatur als »Institution« zu fassen, d. h. im Hinblick darauf, wie die einmal erklärte Unabhängigkeit gesellschaftlich eingerichtet, wie das autonome Terrain also nicht nur abgetrennt, sondern als abgetrenntes auch gesichert wird.Footnote 8 Hier kommen dann auch die Literaturwissenschaft und die Literaturkritik zum Zuge, und nicht nur um 1800 amalgiert sich beides in der Figur des Kunstrichters, der mit der angemessenen Rezeptionshaltung auch die Werte vermittelt, an denen die Rezeption und Bewertung ausgerichtet sein soll.

Während nun die Auflösung des Autonomieanspruchs bei Autor*innen und Leser*innen in der Gegenwart offenbar eher mühelos vonstatten geht, haben die Kunstrichter*innen der Gegenwart größere Probleme. In der Literatur der Gegenwart kommt all das wieder, was um und seit 1800 ausgeklammert werden musste, damit in der Klammer autonome Literatur entstehen kann, und diese Wiederkehr wird heute nun von der Richter*innen in Wissenschaft und Kritik mit denselben Abwertungen versehen, die schon im Konstitutionsprozess zum Einsatz kamen: Die neue Literatur (und ihre Leser*innen) vermischten »hohe« und »niedere Literatur«, wodurch ein ungenießbares Mischmasch in der Mitte entstehe; die Literatur rekombiniere nur noch moralische oder politische, in jedem Fall aber sachfremde, weil bloß inhaltlich-motivische Wiedererkennungsmomente, sie hebe sich dadurch also nicht ausreichend vom Alltag der Produzent*innen und Leser*innen ab, wodurch dann auch die Bewertungskriterien der Alltagswelt mit denen der Literatur verwechselt würden. Es gibt nun also Romane über (bzw. gegen) Rassismus, es gibt Aktivismus in Versen, Care-Romane, Mietmarkt-Literatur, Betroffenentheater, Climate Fiction, Aufsteigerprosa, Opfererzählungen etc. pp., – alles interessant (»und ich stimme damit politisch ja auch vollkommen überein, keine Frage!«), aber niemand – so wird gesagt – stelle mehr die doch eigentlich wichtige, die Kunstrichter-Frage: Ist das denn alles auch gut geschrieben?

Die eben dargestellte Position ist natürlich eine Karikatur, aber ich finde es doch erstaunlich, wie ungebrochen die (literaturwissenschaftliche) Kritik in ihrer Reaktion auf diverse Gegenwartsliteraturen oftmals jene autonome Unabhängigkeitserklärung wieder für bare Münze nimmt und absolut setzt, von der man theoretisch ja längst weiß oder wissen könnte – je nach theoretischem Gusto von Adorno (»Doppelcharakter der Kunst als autonom und fait social«), aus den Cultural Studies, aus der Soziologie und der Literatursoziologie, aus der Sozialgeschichte der Literatur oder aus der Ethnologie –, dass es sich um ein historisches Konstrukt mit ausgeprägt politischer Schlagseite handelt. Das Ausblenden der Genese und Bedingtheit der eigenen Position kann man getrost Ideologie nennen, und als ihr Kern erweist sich – für mich dann doch überraschend – das mal ironisch verbrämte, meist aber doch sehr ernst vorgetragene Beharren auf dem eigenen verfeinerten Formempfinden.

IV.

neu und alt

Wenn die Klammer der Autonomie sich schließt, dann betrifft das zunächst einmal die Gegenwartsliteratur, die ich (ehrlich gesagt: eher sporadisch) lese und für die ich lesend nach Kriterien suche, über die ich noch nicht verfüge. Ich weiß nur, dass ich die umstandslose Applikation der alten, dem autonomieästhetischen Formkanon entnommenen, nicht mehr wirklich ernst nehmen kann. Ich frage mich beim Lesen tatsächlich nicht, ob das, was ich da lese, »gut geschrieben« ist. Es muss »irgendwie interessant« sein (wie Rainald Goetz vielleicht sagen würde), d. h.: für mich »anschlussfähig« an die Dinge und Zusammenhänge, die mich ansonsten interessieren – das reicht mir schon, und dass die Gegenwartsliteratur oft gerade durch ihre Themen, Motive und Inhalte interessant ist, stört mich erst einmal nicht. Gelernter Autonomieästhet, der ich bin, gehe ich einstweilen stillschweigend davon aus, dass die besagte Literatur nie nur durch ihre Inhalte wirkt, sondern dadurch, dass, mit Marx, dieser Inhalt eben jene Form annimmt (und keine andere). Wir müssen eine neue Sensibilität und neue Begriffe für diese Zusammenhänge entwickeln; »gut geschrieben« ist dafür viel zu grob. Wenn diese Formel fällt, ist unweigerlich der Nullpunkt jeder Wertedebatte erreicht.

Wenn sich die Klammer schließt, dann betrifft das weiterhin aber auch die historischen Bestände in der Klammer. Es wird deutlich, dass es neben der autonomen Hochliteratur nicht nur immer auch die komplementäre »niedere Literatur« gab, sondern auch Formen und Gattungen, die sich dieser »Dichotomisierung« (Christa Bürger) nicht gefügt haben und die genau dadurch marginalisiert wurden. Als Vormärz-Forscher muss ich hier fast mein gesamtes Material einsortieren: Sozialreportagen, Erlebnisberichte, vor allem die gern und zu allen Zeiten geschmähte »Tendenzpoesie«. Unter diesem Schlagwort wurde später vielfach auch die linke Literatur der 1970er Jahre rubriziert, die gerade eine Renaissance erlebt, in der Forschung, aber auch auf dem Buchmarkt (Dank an den Verbrecher-Verlag!): Stoff, den keine sich selbst ernst nehmende und auf ihr Renommee bedachte Literaturwissenschaftlerin bis vor Kurzem noch ernsthaft angefasst hätte. Das hat sich geändert, und das ist gut so.

Aber auch das Werk eines ausgesprochenen Höhenkammlers wie Ludwig Tieck erscheint nach dem Wegziehen des Autonomie-Schleiers in einem anderen Licht: Neben den verrätselten und selbstreferentiellen autonomieästhetischen Paradetexten werden nun auch die frühen und späten Sozialnovellen wieder beachtet, und zwar als Sozialnovellen; unter dem frühromantischen Gebirg wird der kontinuierliche Unterstrom einer immer auch auf gute Unterhaltung bedachten Volksaufklärung kenntlich. Und schon der frühe, noch vormarxistische Lukács hat in einem Essay über Theodor Storm das L’art-pour-l’art-Ideal des – eben: – bürgerlichen Realismus auch soziologisch als genuin bürgerlich bestimmt und ökonomisch dingfest gemacht.Footnote 9 Dahinter sollte keine Untersuchung realistischer Literatur heute (noch oder wieder) zurückfallen.

V.

neue abhängigkeiten

Nicht nur die Klammer der autonomen Literatur schließt sich, auch die entsprechenden wissenschaftlichen Behandlungsarten werden sich ändern. Die Haltung der »immanenten« Lektüre oder des »close reading« entsprach einem autonomen Literaturbegriff, demzufolge das, was an der Literatur interessant ist, nur in dieser selbst, in ihrer hochartifiziellen sprachlichen Faktur zu suchen ist, und nicht in ihrem Bezug zu (oder ihren Abhängigkeiten von) Anderem, Außerliterarischem. Erhard Schüttpelz hat die These aufgestellt, dass diese Lektürehaltungen (sowie schon ihre noch nicht »literaturtheoretisch« kodifizierten Vorläuferformen in der gymnasialen Schulausbildung) selbst eine bestimmte Literaturproduktion angeleitet haben: Die sprachlich »extremen Hauptwerke« der emphatischen Moderne etwa wurden demnach von Autor*innen verfasst, die eine »antizipierte Hermeneutik« der Textinterpretation schon verinnerlicht hatten.Footnote 10 Wenn also heutigen Autor*innen bisweilen vorgeworfen wird, sie würden in ihren Texten nur vorgefertigte (ethische und ästhetische) Identifikationsangebote abrufen, so wird man dies auch Musil, Eliot und Joyce vorwerfen können – nur dass die peer group jener Autoren nicht woke Aktivist*innen waren, sondern rhetorisch und poetisch gut ausgebildete Literaturkenner*innen, die in der Lektüre den rekursiven Selbstgenuss ihres Formgefühls zelebrierten.

Auch die Literaturwissenschaft wird in der Gegenwart von einem Aktivismus heimgesucht, der allerdings, im Licht der geschlossenen Klammer, nie wirklich abwesend war. Schon die Einsetzung der Institution der autonomen Literatur war ein aktivistisches Unternehmen – Schiller als Aktivist lautete der Titel eines Vortrags von Sandra Richter auf der Tagung Aktivismus und Wissenschaft I. Zur Theorie, Geschichte und Aktualität einer Provokation im Oktober 2022 am ZfL in Berlin –, und die Aussetzung der Autonomie wird wieder auf das Konto aktivistischer Interventionen gehen. Und auch dazwischen, in der Klammer, entstanden viele der zentralen methodischen Innovationen der Geistes- und der Sozialwissenschaften aus der Verarbeitung aktivistischer Impulse.Footnote 11

Was ansteht, ist vielleicht also gar nicht so neu. Auch hier lohnen theoretische Vergegenwärtigungen: Vielleicht müssen wir in Deutschland erst etwas nachholen, was die britischen Cultural Studies schon in den 1960er und 70er Jahren durchgeführt haben. Die Frage nach dem Erkenntnisinteresse wurde hier, so rekapituliert etwa Stuart Hall, zugespitzt in der Frage danach, was die Forschenden am gegenwärtigen Zustand von Kultur und Gesellschaft wirklich nervt – »What really bugs you about questions of culture and society now?«Footnote 12 Interessanterweise wurde der autonomie-kritische Zug, den es in den Literatur- und Geisteswissenschaften der 1970er Jahre auch in Deutschland einmal gab, gerade von der kulturwissenschaftlichen Wende der 1990er Jahre endgültig beerdigt, wobei die deutsche Variante eben nichts mit der britischen bug-Form zu tun hatte, dafür umso mehr mit deutscher Kultürlichkeit und Bildungsbeflissenheit. Ähnliches stellt Hall übrigens für die US-amerikanischen Cultural Studies fest, die schnell »an umbrella for just about anything« geworden seien.Footnote 13

Zum Komplex von »Aktivismus und Wissenschaft« verfolgen wir am ZfL auch die These, dass sich dem Aktivismus von unten, dem grassroot-Aktivismus aus den sozialen Bewegungen, in der Gegenwart zunehmend ein »Aktivismus von oben« zugesellt, der die Wissenschaften für politische Ziele und Funktionen in Dienst nehmen will (und der oft im selben theoretisch-politischen Lingo wie der Aktivismus von unten formuliert ist). Dieser »Aktivismus von oben« drückt sich deutlich etwa in der Forschungsförderung aus. Als ein Beispiel kann das Programm »Horizon Europe« der Europäischen Union gelten. Zielvorgabe und, nun ja, Horizont sind hier die europäischen Werte von Demokratie, Inklusion, Teilhabe etc. Diese Werte – das Wort »values« ist in den Programmtexten und Ausschreibungen allgegenwärtig – sollen nicht nur erforscht, sondern im Forschungsprozess auch operativ gewendet werden: Es geht um die kritische Infragestellung, vor allem aber um die Verbreitung und Verankerung dieser Werte (»implementation« ist ein anders wichtiges Wort): Am Ende sollen etwa auch policy papers und Handlungsvorschläge formuliert werden, die dann in die europäischen Entscheidungsprozesse eingespeist werden können.

Dass man auch unter diesem zunächst einmal drakonisch anmutenden Werte-Regime interessante und vorwärtsweisende literaturwissenschaftliche Forschung betreiben kann, darauf werden einige Kolleg*innen und ich in den nächsten Jahren die Probe machen. Das Forschungsprojekt »Cartography of the Political Novel in Europe« wurde im letzten Sommer im Rahmen der Horizon-Förderung bewilligt und versammelt Wissenschaftler*innen von acht Universitäten und öffentlichen wie auch privatwirtschaftlichen Forschungseinrichtungen aus fünf europäischen Ländern.Footnote 14 Ausgehend von der Beobachtung, dass es gegenwärtig in Europa überall eine wachsende Bedeutung politischer Literatur gebe, erforschen wir Traditionen, Hintergründe und Wirkungsweisen des »politischen Romans« im 20. und 21. Jahrhundert und versuchen, unsere Ergebnisse wiederum politisch nutzbar zu machen.

In Zusammenhang des vorliegenden Versuchs ist das Projekt in mindestens zwei Hinsichten interessant: Erstens verstehen wir die politische Literatur, die wir beobachten, nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Autonomie. Es geht vor allem um die soziale und politische Einbettung der Romane, um ihre Hintergründe und Wirkungsweisen, und wie dies jeweils in den Romanen umgesetzt wird. Wir sprechen vom Roman als einem »Prisma«, durch das die politischen Zusammenhänge hindurchscheinen und wirken. Die Literarizität der Romane ist nur ein sozialer Faktor unter anderen. Wenn wir vom »politischen Roman« als einer »literarischen Gattung« sprechen, dann in einem weiten institutionellen Sinn, der wiederum nicht nur literaturwissenschaftlich erfasst werden kann; entsprechend setzt sich das Konsortium aus Literatur- und Bildungssoziolog*innen, aus Vertreter*innen einer empirischen Bildungswissenschaft, aus politischen Theoretiker*innen und eben Literaturwissenschaftler*innen zusammen; dazu kommen Programmierer*innen und Webdesigner*innen, denn die digitale Darstellbarkeit der Ergebnisse soll von vornherein in den Forschungsprozess miteinbezogen werden. Das führt zum zweiten Punkt: Der mittlerweile ja immer und überall geforderte »Transfer« ist hier keine sekundäre Weitergabe unabhängig davon und zuerst erstellter Forschungsergebnisse, sondern wird als Teil der Forschung selbst betrachtet. Zur Präsentation der Forschung werden nicht ausschließlich schriftliche wissenschaftliche Formate abgefragt (Monographien, Artikel, Sammelbände), sondern vor allem solche, die von Anfang an die Kommunikation mit verschiedenen Öffentlichkeiten suchen: Veranstaltungsreihen an nicht-akademischen Orten, Lesekreise, Stadtspaziergänge und Führungen, Podcasts, Materialien für Schulen und die Erwachsenenbildung, Sommerschulen mit zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren. Diese Formate laufen von Beginn an, die Erfahrungen können also wiederum direkt in die Forschung »am Schreibtisch« eingespeist werden. Das der autonomen Literatur entsprechende privilegierte Darstellungsmedium literaturwissenschaftlichen Wissens: die Interpretation, zumeist von literarischen Einzeltexten in wissenschaftlichen Einzeltexten (»one-on-one-Interpretation« nennt Erhard Schüttpelz das) hat hier ihre Exklusivität verloren und wird vom Fördergeber auch nicht mehr eigens prämiert.

VI.

post

Ich habe der Projektinstallation, die mich gerade beschäftigt, so viel Platz eingeräumt, weil hier tatsächlich Routinen aufgebrochen werden, die für unsere Literaturkonzepte und -konzeptionen bestimmend sind. Dass diese Aufbrüche »von oben«, über die Projektfinanzierung angestoßen werden, muss nicht heißen, dass sie auch wiederum nur für oben nutzbar zu machen sind. Es bleibt abzuwarten und zu wünschen, dass wir als Forschende auch mit diesen Anforderungen und neuen Abhängigkeiten einen selbstbestimmten Umgang finden.

Statt von einer neuen »Heteronomisierung« würde ich denn auch eher von einer postautonomen Konstellation sprechen.Footnote 15 Beide Bezeichnungen bleiben zwar auf die alte autonome Klammer bezogen, der Begriff der Heteronomie oder Heteronomisierung nimmt aber die alte Polarität stärker auf und dreht sie nur um, während die Rede vom Postautonomen die Klammer selbst einklammert und das Ausgeklammerte miteinbezieht. Der Begriff des Postautonomen nimmt die Spannung auf, die schon im Begriff der Autonomie steckt und trägt sie aus: Autonomie als selbstbestimmte Abhängigkeit. Die Autonomie selbst besitzt so schon einen Zug ins Postautonome.Footnote 16

Wie andere Post-Begriffe, die gegenwärtig im Schwange sind (und die alle von den anspruchsvolleren Varianten der Postmoderne-Debatte vergangener Jahrzehnte zehren) – Post-Digitalität, post-mediale Konstellation, post-artifizielle Literatur … –, geht es beim Postautonomen nicht so sehr um die Deklaration eines Endes und die Ausrufung eines Neuen, als um eine kritische Revision des Vergangenen und noch Vergehenden. Aufgegeben werden die starken und meist asymmetrischen Gegensätze, um deren Zusammengehörigkeit zu zeigen. Die Gegensätze werden dabei so weit relativiert, dass sie irgendwann vielleicht auch einmal irrelevant werden können. Alles, was es in der Epoche der Autonomie gegeben hat, wird es weiter geben, aber die starken Dichotomien, die das Feld bisher strukturiert haben, haben ihre Plausibilität verloren. Es wird weiterhin literarische Texte geben, die um eine starke Demarkation von der Alltagswelt oder von politischen Ansprüchen bemüht sind, aber diese Demarkation wird nun nur mehr als eine Möglichkeit (unter anderen) gelten, auf das Andere und Äußere der Literatur Bezug zu nehmen. Nichts zeichnet einen solchen Text per se von einem solchen aus, der starke aktivistische Positionierungen vornimmt. Beide müssen plausibel machen, warum ihre Inhalte genau diese Form gefunden haben, und keine andere. Nur danach wird man sie bewerten können (wenn man das denn will).

Und es wird sicherlich auch weiterhin Einzeltextinterpretationen geben und geben müssen. Aber das vielleicht tatsächlich wieder mehr im Sinne der »Anfängerübung«, als die die Literaturinterpretation nach Erhard Schüttpelz in früheren Hochzeiten der »Höheren Kritik« einmal gegolten hat; »Anfängerübung« in dem Sinn, dass nach den Interpretationen dann endlich die weitergehenden Fragen gestellt werden können; Fragen nach jenen Zusammenhängen, die über den Bereich einer autonom verstandenen Literatur hinausweisen.Footnote 17

VII.

postscriptum

Auch mit den Autonomen war nicht wirklich Schluss nach dem Autonomie-Kongress. Die Bewegung verschwindet nicht, aber transformiert sich, und zwar so, dass am Ende vielleicht gar nicht mehr von einer Bewegung im Singular die Rede sein kann. Es findet eine Ausdifferenzierung statt, »autonom« wird nun zum Beiwort einzelner Bewegungen, die jeweils ein Feld bewirtschaften, das – je spezifisch – auch für das Ganze stehen kann; Bewegungen, die untereinander kaum noch etwas miteinander zu tun haben (und meist auch nichts mehr miteinander zu tun haben wollen): Es gibt nun eine autonome Antifa, autonome antirassistische und Flüchtingsunterstützer*innen-Gruppen, eine autonome Schwulen- und Lesben-, sowie eine autonome feministische und später queerfeministische Bewegung.

Noch später wurde diese Vielfalt wieder zusammengefasst unter der Bezeichnung einer »postautonomen Bewegung«, und diese Zusammenfassung ist nicht bloß ein klassifikatorischer Akt. Sichtlich besorgt bemerken vor allem die staatlichen Verfolgungsbehörden im beobachteten Feld ab Ende der 1990er Jahre plötzlich wieder einen Trend hin zu größeren Bündnissen und eine neue Aufmerksamkeit und Offenheit für die Organisationsfrage.Footnote 18 Die alten politischen Ansprüche der autonomen Bewegung (antiautoritär, antihierarchisch, subjektivistische »Politik in der ersten Person«) bleiben bestehen, die Formen, in denen sie politisch ins Werk gesetzt werden sollen, werden aber hinterfragt; vor allem die Tribalisierung in eigenen Szenen (oder »scenes«) mit strikten Abgrenzungsmechanismen und -ritualen wird nun verdächtig und in Frage gestellt. Damit werden aber auch alte Gegensätze problematisch, die bis dahin identitätskonstitutiv waren, etwa der Gegensatz zu langlebigen Parteistrukturen.Footnote 19

In den selbstkritischen Debatten über die Sackgassen, in die die Bewegung hineingeraten war, wurde als Begründung vielfach »Theoriefeindlichkeit« und »Reflexionsunfähigkeit« ausgemacht. Aus den daraufhin überall gegründeten Lesezirkeln und Theoriegrüppchen wurden nicht wenige der Akteur*innen später in die kulturwissenschaftlichen Uni-Seminare und Doktorand*innenkolloquien gespült. Den damals oft erhobenen komplementären Gegen-Vorwurf der »Praxis-Abstinenz« (»Ihr quatscht doch immer nur!«) habe ich dann lange nicht mehr gehört. Vielleicht wäre es wieder einmal Zeit dafür. Klammer zu.