Skip to main content
Log in

Unerhörte Narrative. Die medizinische Indikation zwischen Bericht und Erzählung

Narratives unheard(-of). The value of patient narration for medical indication

  • Originalarbeit
  • Published:
Ethik in der Medizin Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Als Vorstellung eines vom Wissen der Medizin abweichenden Behandlungsfalls können Fallberichte darauf Einfluss haben, welche Maßnahmen zukünftig als medizinisch indiziert gelten. Die öffentliche Präsentation der getroffenen Handlungen und Empfehlungen liegt in der Regel ausschließlich in der Hand ärztlicher Autor*innen – Betroffene kommen hingegen kaum zu Wort. Während in der klinischen Patientenversorgung bereits hohes Gewicht auf Patientenperspektiven und -erzählungen gelegt wird, scheinen sich diese Entwicklungen im Fallbericht als Form wissenschaftlicher Kommunikation so (noch) nicht widerzuspiegeln. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden aus gattungstheoretischer Perspektive untersucht, welche Rolle Patientenperspektiven und -erzählungen nicht nur – wie in der bisherigen Forschung vor allem untersucht – im Bereich des Klinischen, sondern gerade auch des Kasuistischen und den damit verbundenen Fragen klinischer Indikationsreflexion und -empfehlung zukommen sollten. Dabei wird nicht zuletzt argumentiert, dass (Patienten-)Narrationen analog zu Indikationsstellungen gerade ein Moment des Ungesicherten und Singulären betonen, das für die Textsorte des Fallberichts und daraus abgeleiteten Indikationsüberlegungen von spezifischem Wert ist.

Abstract

Definition of the problem

As a public presentation of clinical cases deviating from the status quo of medical knowledge, case reports may have an influence on future medical indication. Up to now, the vast majority of case reports reflects only the physicians’ point of view, while at the same time omitting patients’ perspectives. Whereas clinical patient care already attaches considerable importance to the voice and stance of patients, these developments are not reflected in case reports as a form of scientific communication.

Methods and purpose

Focused on a genre-theoretical perspective, the article at hand will thus look into the role patients’ perspectives and in particular narratives should not only play—as has been primarily investigated in previous research—in the clinic, but also with regard to the casuistic and related issues of medical indication.

Conclusion

Against this backdrop, it will be argued that (patient) narratives, just like indications, emphasize a moment of the unsecured and singular, which is of specific value for the genre of the case report and the indications derived from it.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this article

Price excludes VAT (USA)
Tax calculation will be finalised during checkout.

Instant access to the full article PDF.

Notes

  1. Auch auf Ebene schriftlicher Kommunikation, siehe hierzu Fürholzer (2016, 2019).

  2. Für explizit forschungsbezogene Überlegungen zu PROMs siehe insbesondere Bartlett und Ahmed (2017); Griggs et al. (2017); Hamilton et al. (2018); Hsiao und Fraenkel (2017). Einblick in aktuelle Entwicklungen ermöglicht zudem das Journal of Patient-Reported Outcomes.

  3. Das weitgehende Fehlen von Patientenperspektiven in Fallberichten ist nicht nur im Journal of Medical Case Reports festzustellen; siehe exemplarisch Dragnev und Wong (2018); Schmelz und Elsner (2018).

  4. Die Frage nach den Grenzpfeilern ärztlicher Aufklärungspflicht entzündet sich damit auch in der Gegenüberstellung kasuistischen (Noch-)(Nicht-)Wissens.

  5. Als Auseinandersetzung mit einem außerordentlichen Fall gestaltet die Novelle, so Marcus Krause (2014), das Verhältnis zwischen dem Individuellen und dem Regelhaften aus und steht damit in gewisser Nähe zur wissenschaftlichen Fallgeschichte, für welche die Herausarbeitung einer Verbindung zwischen einem singulären empirischen Fall und generalisierbaren Gesetzmäßigkeiten konstitutiv ist (Krause 2014, S. 257).

  6. Zum Aspekt der Subjektivität in Krankheitsnarrativen siehe Kokanović und Flore (2017). Die Engführung von Patient*in und Erzählung soll hier keine Dichotomie zwischen berichtenden Ärzt*innen und erzählenden Patient*innen suggerieren: In Patient-reported outcome measures beispielsweise werden Patientenberichte dezidiert von der Medizin gesucht und genutzt; für den Wert ärztlicher Erzählungen für das Gesundheitswesen siehe umgekehrt Hunter (1991). Dass sich klinische Fälle nicht nur berichten, sondern durchaus auch erzählen lassen, demonstrierte in den 1980er Jahren David Barnard (1986, 1992): In seiner Kasuistik kamen nicht nur der behandelte Patient und dessen Ehefrau zu Wort, sondern auch Barnard selbst gewährte in narrativer Form Einblick in seine subjektive Wahrnehmung von Diagnose und Therapie.

  7. Als Einführung in die Narrative Medizin siehe etwa Greenhalgh und Hurwitz (1998).

  8. Im Terminus des Narrativen ist das Epistemische bereits etymologisch enthalten, leitet sich der Begriff „gnarus“ doch von „gna“, derselben Wurzel des Wortes „gnosis“, sprich: „Wissen“, ab (Marcum 2008, S. 161).

  9. Laut Michael Bies und Michael Gamper (2012) zeichnet sich Literatur „in wissenshistorischer Hinsicht vor allem dadurch aus, dass sie ungewöhnliche Kombinationen von Wissensbeständen herstellen und in von den Wissenschaften vernachlässigte Gebiete vordringen kann. Aufgrund dieser starken Affinität zum Nicht-Wissen kann Literatur eine wissensgeschichtlich prominente strategische Position einnehmen: Sie verwandelt Grenzen des Wissens in Schwellen des Wissens; sie positioniert sich an Orten, wo Wissenschaften keine exakten Ergebnisse erzielen können oder dürfen; sie erzählt fiktionale Geschichten über Problembereiche gegenwärtigen Wissens mit Bezügen zu vergangenem und zukünftigem Wissen; und sie stößt vor in Bereiche, in denen ein verifizierbares Wissen nicht zu erlangen ist“ (Bies und Gamper 2012, S. 14–15).

  10. Für eine ausführliche Analyse und ethische Diskussion einer aus Patientenperspektive verfassten Fallgeschichte versus des zugehörigen ärztlichen Fallberichts siehe Fürholzer (2019, S. 77–104), insbesondere ab S. 87.

Literatur

  • Barnard D (1986) A case of amyotrophic lateral sclerosis. Lit Med 5:27–42

    Article  CAS  Google Scholar 

  • Barnard D (1992) ‘A case of amyotrophic lateral sclerosis.’ A reprise and reply. Lit Med 11:133–146

    Article  CAS  Google Scholar 

  • Bartlett SJ, Ahmed S (2017) Montreal Accord on Patient-Reported Outcomes (PROs) use series e paper 1: introduction. J Clin Epidemiol 89:114–118

    Article  Google Scholar 

  • Behrens R, Zelle C (2012) Vorwort. In: Behrens R, Zelle C (Hrsg) Der ärztliche Fallbericht: Epistemische Grundlagen und textuelle Strukturen dargestellter Beobachtung. Harrassowitz, Wiesbaden, S VII–XII

    Google Scholar 

  • Bies M, Gamper M (Hrsg) (2012) Literatur und Nicht-Wissen: Historische Konstellationen 1730–1930. diaphanes, Zürich

    Google Scholar 

  • Cassell EJ (1991) The nature of suffering and the goals of medicine. Oxford University Press, New York

    Google Scholar 

  • Charon R (2001) Narrative medicine: a model for empathy, reflection, profession, and trust. JAMA 286:1897–1902

    Article  CAS  Google Scholar 

  • Dragnev NC, Wong SL (2018) Do we CARE about the quality of case reports? A systematic assessment. J Surg Res 231:428–433

    Article  Google Scholar 

  • Düwell S, Pethes N (2014) Fall, Wissen, Repräsentation – Epistemologie und Darstellungsästhetik von Fallnarrativen in den Wissenschaften vom Menschen. In: Düwell S, Pethes N (Hrsg) Fall, Fallgeschichte, Fallstudie: Theorie und Geschichte einer Wissensform. Campus, Frankfurt am Main, S 9–33

    Google Scholar 

  • Eckermann JP (1986) Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Beck, München

    Google Scholar 

  • Engel GL (1977) The need for a new medical model. A challenge for biomedicine. Science 196:129–136

    Article  CAS  Google Scholar 

  • Fürholzer K (2016) Alter Ego. Ein philologischer Blick auf Text und Autor der Patientenverfügung. Jahrbuch Literatur und Medizin, Bd. 8, S 165–182

    Google Scholar 

  • Fürholzer K (2019) Das Ethos des Pathographen. Literatur- und medizinethische Dimensionen von Krankenbiographien. Winter, Heidelberg

    Google Scholar 

  • Gagnier JJ, Kienle G, Altman DG, Moher D, Sox H, Riley D, Care Group (2013) The CARE guidelines. Consensus-based clinical case reporting guideline development. Glob Adv Health Med 2:38–43

    Article  Google Scholar 

  • Greenhalgh T, Hurwitz B (1998) Why study narrative? In: Greenhalgh T, Hurwitz B (Hrsg) Narrative based medicine: dialogue and discourse in clinical practice. BMJ Books, London, S 3–16

    Google Scholar 

  • Griggs CL, Schneider JC, Kazis LE, Ryan CM (2017) Patient-reported outcome measures. A stethoscope for the patient history. Ann Surg 265:1066–1067

    Article  Google Scholar 

  • Hamilton CB, Hoens AM, Backman CL, McKinnon AM, McQuitty S, English K, Li LC (2018) An empirically based conceptual framework for fostering meaningful patient engagement in research. Health Expect 21:396–406

    Article  Google Scholar 

  • Hess V (2014) Observatio und Casus: Status und Funktion der medizinischen Fallgeschichte. In: Düwell S, Pethes N (Hrsg) Fall, Fallgeschichte, Fallstudie: Theorie und Geschichte einer Wissensform. Campus, Frankfurt am Main, S 34–59

    Google Scholar 

  • Hess V, Mendelsohn AJ (2010) Case and series: medical knowledge and paper technology, 1600–1900. Hist Sci 48:287–314

    Article  Google Scholar 

  • Hsiao B, Fraenkel L (2017) Incorporating the patient’s perspective in outcomes research. Curr Opin Rheumatol 29:144–149

    Article  Google Scholar 

  • Hunter KM (1991) Doctors stories. The narrative structure of medical knowledge. Princeton University Press, Princeton

    Google Scholar 

  • Hurwitz B (2017) Narrative constructs in modern clinical case reporting. Stud Hist Philos Sci A 62:65–73

    Article  Google Scholar 

  • Keegan DA (2015) Reducing pain in acute herpes zoster with plain occlusive dressings. A case report. J Med Case Rep 9:1–3

    Article  Google Scholar 

  • Kokanović R, Flore J (2017) Subjectivity and illness narratives. Subjectivity 10:329–339

    Article  Google Scholar 

  • Krause M (2014) Zu einer Poetologie literarischer Fallgeschichten. In: Düwell S, Pethes N (Hrsg) Fall, Fallgeschichte, Fallstudie: Theorie und Geschichte einer Wissensform. Campus, Frankfurt am Main, S 242–273

    Google Scholar 

  • Lucius-Hoehne G (2008) Krankheitserzählungen und die narrative Medizin. Rehabilitation 47:90–97

    Article  Google Scholar 

  • Marcum JA (2008) An introductory philosophy of medicine: Humanizing modern medicine. Springer, Berlin

    Book  Google Scholar 

  • Neitzke G (2015) Medizinische und ärztliche Indikation – zum Prozess der Indikationsstellung. In: Dörries A, Lipp V (Hrsg) Medizinische Indikation. Ärztliche, ethische und rechtliche Perspektiven. Grundlagen und Praxis. Kohlhammer, Stuttgart, S 83–93

    Google Scholar 

  • Pomata G (2010) Sharing cases: the observationes in early modern medicine. Early Sci Med 15:193–236

    Article  Google Scholar 

  • Pomata G (2013) The recipe and the case: Epistemic genres and the dynamics of cognitive practices. In: Greyerz K, Flubacher S, Senn P (Hrsg) Wissenschaftsgeschichte und Geschichte des Wissens im Dialog – Connecting Science and Knowledge. V&R, Göttingen, S 131–154

    Chapter  Google Scholar 

  • Riley DS, Barber MS, Kienle GS et al (2017) CARE guidelines for case reports: explanation and elaboration document. J Clin Epidemiol 89:218–235

    Article  Google Scholar 

  • Schmelz B, Elsner P (2018) Qualität dermatologischer Kasuistiken in deutschsprachigen Fachzeitschriften. Hautarzt 69:602–605

    Article  CAS  Google Scholar 

  • Titzmann M (2003) Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik. In: Posner R (Hrsg) Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. De Gruyter, Berlin, S 3028–3103

    Google Scholar 

  • Wahrig G (2002) Deutsches Wörterbuch, 7. Aufl. Bertelsmann, Gütersloh München (Neu herausgegeben von Dr. Renate Wahrig-Burfeind)

    Google Scholar 

  • Wieland W (1975) Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie. De Gruyter, Berlin

    Book  Google Scholar 

  • Wiesing U (2017) Indikation. Theoretische Grundlagen und Konsequenzen für die ärztliche Praxis. Kohlhammer, Stuttgart

    Google Scholar 

  • Willer S (2005) Fallgeschichte. In: von Jagow B, Steger F (Hrsg) Literatur und Medizin: Ein Lexikon. V&R, Göttingen, S 231–235

    Google Scholar 

Download references

Danksagung

Mein großer Dank gilt Michael S. Balzer, Elsa Romfeld, Alice Schwab und Christiane Vogel, die das Manuskript in einer frühen Phase durch konstruktive Kommentare bereichert haben. Den beiden anonymen Gutachter*innen sei für ihre wertvollen Rückmeldungen ebenfalls mein aufrichtiger Dank ausgesprochen.

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Katharina Fürholzer.

Ethics declarations

Interessenkonflikt

K. Fürholzer gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Ethische Standards

Für diesen Beitrag wurden von der Autorin keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.

Rights and permissions

Reprints and permissions

About this article

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this article

Fürholzer, K. Unerhörte Narrative. Die medizinische Indikation zwischen Bericht und Erzählung. Ethik Med 32, 267–277 (2020). https://doi.org/10.1007/s00481-020-00585-z

Download citation

  • Received:

  • Accepted:

  • Published:

  • Issue Date:

  • DOI: https://doi.org/10.1007/s00481-020-00585-z

Schlüsselwörter

Keywords

Navigation