Zusammenfassung
Der Artikel schlägt eine Neulektüre des Fincken Ritter vor, einer 1560 anonym erschienenen Flugschrift, die aufgrund ihres unmöglichen Inhalts sowie der wilden Aneinanderreihung von Gattungstraditionen, Motiven und Topoi gemeinhin zur Unsinnspoesie gezählt wird. Entgegen der Forschung, die sich überwiegend der vom Text angeblich betriebenen Zersetzung von Sinn widmete, argumentiert der Artikel, dass sich mit Blick auf die zentrale Körpermotivik eine neue Perspektive einstellen lässt: Über die Körperlichkeit des titelgebenden Helden erhält das Herleiten, Erproben und Einüben von Eigenlogiken auf Ebene der Erzählverfahren Anschauung. Nicht nur der Held muss sich in einer verkehrten Welt bewähren, bevor er geboren werden kann. Auch das Erzählen davon bildet sich schrittweise aus und schöpft sich in enger Auseinandersetzung mit tradierten Modellen eine Welt eigenen Regeln und Rechts. Dieses Argument wird an drei Momenten der vielgestaltig inszenierten Körperlichkeit entwickelt: Die handlungsantreibende Nahrungssuche des Helden deutet das Modell des Stoffwechsels als Anschluss an tradierte Materie neu. In den drastischen Versehrungen des Helden eröffnet sich das Erzählen einen auktorialen Spielraum zwischen seinem erlebenden und erzählenden Ich. Über Klang-Körper schließlich werden Modelle der Textvervielfältigung und -zirkulation reflektiert. Alle drei Körperübungen zielen darauf, das Verhältnis von Erzählposition und davon abhängigem Weltentwurf zu durchdenken. So wird die körperliche figura des Finkenritters zur poetologischen Reflexionsfigur des Fincken Ritter.
Abstract
In this article, we suggest a new reading of the Fincken Ritter, a pamphlet published anonymously in 1560. Due to its impossible content as well as its wild juxtaposition of genre traditions, motifs, and topoi, this text is commonly classified as nonsense poetry. In contrast to previous scholarship, which predominantly focused on aspects of decomposition of meaning, we argue that a new perspective opens up when looking at the body as a central motif: The corporeality of the eponymous hero grants vividness to the presentation, derivation, and practicing of inherent logics at the level of narrative devices. Not only has the hero to prove himself in a topsy-turvey world before he can be born. The narration also develops step by step, and in close inspection of traditional models, it creates a world with its own rules and laws. This argument is developed at three moments of the multifaceted corporeality: The hero’s quest for food suggests a reinterpretation of the model of metabolism as a connection to preexisting material and tradition. In the hero’s drastic disfigurements, the first-person narrative gains authorial latitude between experiencing and narrating the self. Finally, models of text reproduction and circulation are envisioned through bodies of sound. All three body exercises aim to explore the relationship between narratorial position and the world that depends on it. Thus, the hero’s figura becomes a figure of poetological reflection for the whole text.
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I.
hinführung
Wie kommt ein Ich-Erzähler auf die Welt? In einer der ersten fiktiven Ich-Erzählungen der deutschen Literatur findet sich eine bemerkenswert anschauliche Antwort auf diese Frage.Footnote 1 Die Lesenden finden auf den knapp 30 Seiten der 1560 erschienenen Flugschrift die »History vnd Legend von dem treffenlichen vnnd weiterfarnen Ritter/Herrn Policarpen von Kirrlarissa/genant der Fincken Ritter«.Footnote 2 Dieser berichtet davon, wie er rund 250 Jahre vor seiner Geburt vom Lebermeer aus nach Hause und auf die eigene Geburt zu gereist sei. Das Erzählen von der eigenen Geburt suggeriert mit dem »Ich«Footnote 3 der Rede einerseits eine Einheit von erlebendem und erzählendem Subjekt, trennt aber andererseits beide durch den Akt des Gebärens – in einem buchstäblichen Sinn – existenziell voneinander. Diese Trennung wird im Text als durchaus prekär inszeniert und hat für das gespaltene Ich, das als Erzählender nicht nur eine Welt entwirft, sondern diese als Erzählter auch unmittelbar erfährt, drastische körperliche Instabilitäten zur Folge: Bienen zerstechen ihm die Augen, woraufhin der Körper derart anschwillt, dass er in der erzählten Welt stecken bleibt und nur mittels eines proleptischen Kniffs befreit werden kann – das Ich springt kurzerhand ins Mutterhaus und somit in den nachgeburtlichen Zeit-Raum, der sich u.a. in seinen temporalen, topographischen oder kommunikativen Gesetzmäßigkeiten wesentlich von der pränatalen Welt unterscheidet. Im Mutterhaus holt sich das Ich eine Axt, um sich zu befreien. Andernorts auf seiner Reise reißt es sich bei einem Sprung den Unterleib auf, sodass die Gedärme herausquellen. Hier dann ist keine narrative, sondern eine wörtliche Manipulation erforderlich: Die Organe werden gewaschen, zurückgestopft und der Körper erhält bei dieser Gelegenheit gleich noch eine Affenblut-Transfusion. Als das erzählte Ich sich hingegen versehentlich mit einer Sense den Kopf abschlägt, müssen erzählerische und chirurgische Manipulationen kombiniert werden, um den versehrten Körper mithilfe Ersterer so lange durch einen intakten Phantomkörper zu vertreten, bis er durch Letztere chirurgisch restituiert ist: Der Kopf wird eingefangen, gewaschen und mit roten Bändern am Torso festgezurrt.
Wie diese Beispiele zeigen, inszeniert der Text nicht nur eine prekäre Spaltung seines Ich, sondern er schöpft, so die These dieses Aufsatzes, daraus zugleich gestalterisches wie selbstreflexives Potenzial. Wie im Folgenden auszuführen sein wird, erprobt der Text am Körper seines Protagonisten die eigenen literarischen Möglichkeiten,Footnote 4 setzt dabei insbesondere allgemeinere Überlegungen zum fiktiven Ich-Erzählen ins Bild und reflektiert diese so poetologisch. Der Situierung der Geschichte in eine pränatale Zeit kommt dann nicht nur die Funktion zu, den Helden vor seiner Geburt zum Ritter und »Landtpfleger/des Großmechtigen Fürsten/Morotathorum« (13–14) werden zu lassen und dergestalt eine ganz eigene Auffassung von Geburtsadel zu imaginieren. Der Text eröffnet sich mit seiner pränatalen Erzählkonfiguration zudem einen virtuellen Spielraum, der das Erzählen deutlich von Ansprüchen außerliterarischer Referenzialisierbarkeit befreit und es so erlaubt, am Werdegang des Finkenritters erzählerische Mittel zu erproben und auszubilden.Footnote 5 Das wiederum ermöglicht es den Rezipierenden, auf ausgesprochen vergnügliche Weise die sich im Handlungsverlauf sukzessive entwickelnden Eigengesetzlichkeiten des Textes und seiner Welt kennenzulernen, nachzuvollziehen und sich an die neuen Möglichkeiten, die das hier vorgeführte Erzählen bietet, zu gewöhnen.
Dieser propädeutische Zug des Textes zeigt sich bereits augenfällig an der Kombinatorik, mit der das Erzählen seinen eigenen Ausgangsort entwirft.Footnote 6 Mit Blick auf die Raumkonstitution lässt sich nämlich von einem regelrechten Eingewöhnen in paradoxe Nah-Fern-Räume sprechen, das damit beginnt, den »groß Chan vonn Cathay/zuo Straßburg inn der Ruoprechts Auwe« (18–19) zu situieren. Dieses Verfahren, das eine sagenumwobene Figur aus der Ferne mit einer süddeutschen Stadt sowie einem bäuerlichen Teil ihres Umlands kombiniert, wird anschließend – erweitert und gesteigert – wiederholt, um die Topographie der Erzählung auszubauen: »Priester Johann von India« (22) wird ebenso auf der »Haller Wisen zuo Nürenberg« (23) wie »neben dem Kettenbrunnen zuo Heidelberg« (24) angesiedelt. Das bereits zweifach eingeübte Heranrücken von mythischer Ferne in lokalkolorierte Nähe lässt es wiederum in der Reihe als nachgerade konsequent erscheinen, dass der Ausgangspunkt der Geschichte schließlich hier positioniert ist:
»auf dem kleber Meer/jenseit dem Rennfeld/hinder dem Saltzhaus zu München/nicht weit von dem Pallast/Sanct Patricius Fegfeur/inn Hybernia/da der arm Judas sein sünd mit dem gestolenen Schleyer/auff dem Meer büsset/das ist in Arabia/da die schaaff auff den baumen wachsen […] in der gegne Armenien/des Königreichs/als die Pappagey vnd Sytticus des selben Lands/guote Arabische spraach reden […]« (28–36).
Die hier präsentierte Kombinationskunst fußt auf dem Übungsprinzip der variierenden Wiederholung von Ähnlichem, das sich auch für die am Körper des Protagonisten entwickelten Erzählreflexionen als wegleitend erweisen wird, sodass sich diese regelrecht als »Körperübungen« beschreiben lassen: Ein Verfahren wird gesetzt, sodann schrittweise auf weitere Elemente ausgeweitet und gesteigert, sodass teils äußerst paradoxe Gefüge und Szenarien entstehen, die dem Welt- und Literaturwissen nach eigentlich nicht zusammengehören. Dass es bei diesem Einüben in Eigenlogiken aber keineswegs darum geht, diese einfach zu setzen bzw. ex nihilo zu erfinden, sondern sie vielmehr aus literarischen Traditionen herzuleiten, zeigt sich ebenfalls an der soeben besprochenen Exposition. Denn die in die Nähe projizierten Räume entstammen allesamt literarischen Vorlagen: So erzählt etwa der auch namentlich erwähnte Mandeville von einer Begegnung mit dem Kaiser von China, von Wolle, die auf Bäumen wächst, oder sprechenden Sittichen. Fortunatus will das Fegefeuer des Hl. Patricius besuchen, der Hl. Brandan kommt auf seiner Reise am Lebermeer vorbei uvm.Footnote 7
II.
un/sinn
Dass es dem Text um ein Nachdenken über Literatur mit Literatur geht, zeichnet sich schon in dessen Faktur ab. Überschriften unterteilen ihn in eine Exposition, acht als »tagreysen« benannte Episoden und ein Schlusskapitel. Damit liegt ein Prosaroman in Minimalausführung vor, der in sich zahlreiche Motive und Verfahren aus älterer Dichtung aufnimmt, die allein schon durch den Fakt der intertextuellen Anbindung die Literarizität des Fincken Ritters auf verschiedene Weise betonen. Bereits im Titel ruft der Roman die Tradition der Abenteuer‑, Reise- sowie Legendenliteratur auf; die räumliche Anbindung an Jean de Mandeville und an die mythische Figur des Priesterkönigs sind um 1560 bereits ebenso als deutliche Fiktionalitätssignale lesbar wie die Behauptung einer pränatal vollzogenen Reise. Aus der Unsinnsdichtung adaptierte Aspekte – etwa die Begegnung mit einigen der ›schadhaften Gesellen‹Footnote 8, Elemente des Schlaraffischen oder verdrehte Subjekt-Objekt-RelationenFootnote 9 – stellen nicht nur die Wahrheit oder Wahrhaftigkeit des Erzählten, sondern seine Sinnhaftigkeit ganz allgemein infrage.Footnote 10 Die ältere Forschung reduzierte den Fincken Ritter daher häufig auf eine bloße Kompilation von Vorläufertexten, vornehmlich der sogenannten Lügendichtung, die nach der Devise »alles gesteigert und erweitert«Footnote 11 einen unsinnigen Einfall an den anderen reihe. Aktuellere Studien befragen den Text mit neuem Interesse an den Verfahren der Nonsense-Literatur auf seine unterschiedlichen Sinnspiele und Inversionslogiken.Footnote 12 Sie attestieren dem kleinen Roman etwa eine »Lust an der Inversion aller zeitlichen, räumlichen und kommunikativen Koordinaten«Footnote 13, die insbesondere auf die sprachliche Repräsentation von Weltwissen ziele.Footnote 14
Vor allem die fünfte Tagesreise wird in diesem Zusammenhang von der Forschung immer wieder als zentraler Textbeleg für die Lust des Fincken Ritters am höheren Unsinn herangezogen. Beim Versuch, Gras für die Kühe seiner Mutter zu mähen, schlägt sich der Protagonist hier nämlich mit einer Sense den eigenen Kopf ab. Die Handlung setzte demnach durch metaphorische Inversion ins Bild, was für den ganzen Roman Programm sein soll: Die Hauptfigur, die zugleich Erzähler ist, verliert ihren Kopf. ›Kopflos sein‹ suggeriert Unbesonnenheit, Gedanken- oder auch Sinnlosigkeit, sodass die Brücke zur Unsinnsdichtung naheliegt.Footnote 15 So liest, um einen der aktuellsten Beiträge zu zitieren, etwa Ronny F. Schulz diese Stelle als Metapher für die Erzählung, die gleichsam wie der Körper des Protagonisten »in ihre disparaten Handlungsteile zerfällt, die immer wieder neu kombiniert werden können, aber letztendlich doch kein sinnvolles Ganzes ergeben« würden.Footnote 16
Dass es dem Fincken Ritter aber nicht nur um die literarischen Möglichkeiten der Inversion, Subversion oder Zersetzung von Sinn geht, zeigt sich, wenn man die gesamte fünfte Episode sowie ihre Einbettung im Roman betrachtet, nicht bloß das Moment der Kopflosigkeit. Die Episode liegt nämlich nicht nur ziemlich genau in der Mitte des Textes,Footnote 17 sondern markiert in der erzählten Bewegung des Protagonisten darüber hinaus einen auffälligen Wendepunkt. Während der Finkenritter in der ersten Episode auszieht und in den folgenden drei Episoden nahezu konstant fortschreitet,Footnote 18 wird er im Anschluss an die fünfte Tagesreise von dem Wunsch nach Heimkehr angetrieben. So erhält die bis dahin konstruierte ritterlich-aventiurehafte Fortbewegung im mehrfach erwähnten »heym« nicht allein ein längerfristig gültiges Ziel, sondern wendet sich, jedenfalls der semantischen Suggestion nach, auch zu einer Rückkehr.Footnote 19 Die fünfte Etappe beschreibt gerade diese Wendung der Dynamik. Heißt es zu Beginn noch: »Wie ich […] also fürt zeuch […]« (185–186), so ändert sich die Bewegung beinahe abrupt, nachdem der Finkenritter seinen abgeschlagenen Kopf wieder eingefangen und aufgesetzt hat: »In denen dingen wolte ich gantz schnell heym lauffen/vnnd lieff auch geschwinder weder ein pfeil auff einem theller […]« (212–213; Herv. DF/KK). Das bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend ohne nachvollziehbare Motivation erfolgende Weiterziehen, das mehr von Kontingenz als von zielgerichtetem Vorgehen geprägt war,Footnote 20 wird im Moment der Reintegration von Kopf und Körper zur linearen Flugbahn eines Pfeiles, der nun auf seine Zielscheibe zuschießt.
Im aufgerufenen Muster des Ritterromans – schließlich verheißt der Titel an prominentester Stelle die Geschichte vom Fincken Ritter – bestreitet der Held, wenigstens im Modell arthurischer Prägung, vor seiner Rückkehr an den Hof meist die für seinen Aventiureweg bedeutendste Auseinandersetzung. Auch im Fincken Ritter wird in dieser zentralen, die zielgerichtete Heimkehr einleitenden Episode ein agonales Prinzip suggeriert. Allerdings wendet sich der mit scharfer Klinge hantierende Protagonist hier keineswegs gegen eine Bedrohung von außen. Vielmehr erwischt der von ihm ausgeführte Hieb seinen eigenen Körper, indem er sich selbst den Kopf abschlägt. Der Sensenstreich des Finkenritters lässt sich, so möchten wir vorschlagen, als prekäre Geste der Selbstermächtigung lesen, die zugleich invertierter Ritterschlag und ›kämpferische‹ Auseinandersetzung mit sich selbst ist. Der Fincken Ritter setzt folglich eine Auszeichnung sowie Konfrontation mit sich selbst zentral. Und diese Beschäftigung des Textes mit sich, so deutet sich hier ebenfalls an, vollzieht sich maßgeblich über den Körper des Protagonisten, der somit zum Austragungsort poetologischer Reflexion wird. In der Folge des Sensenstreichs werden etwa über Momente der Trennung, des Wiederfindens sowie des Festbindens vom Kopf nicht nur Vorstellungen von körperlicher Integrität, Ablösung und Autonomie, sondern auch von textuellem Zusammenhang reflektiert. Zugleich bringt der mit der De- und Rekomposition des eigenen Körpers einhergehende Bewegungswechsel ein erzählerisches Ringen um Linearität und Teleologie zur Anschauung, das sich unter anderem darin zeigt, dass die plötzliche, pfeilschnelle Beschleunigung und Zielgerichtetheit der erzählten Bewegung sogleich problematisch werden, weil der durch sie verursachte ›Fahrtwind‹ dem Finkenritter erneut den Kopf herabweht (vgl. 214–216). Während der Ritter nun doch noch nicht ohne Umschweife heim-, sondern erst einmal erneut seinem Kopf nachrennt, verlässt auch das Erzählen die soeben erst anvisierte lineare Bahn und geht auf einen nachgerade wörtlichen Exkurs, indem es davon berichtet, was sich »ein welsche meil« (217) abseits des Weges ereignet. Erst nachdem der Finkenritter seinen Kopf gereinigt und mit roten Bändern fest angebunden hat (vgl. 218–220), findet auch das Erzählen den Faden wieder, der den Finkenritter an sein Ziel, das »heym«, und zugleich die Erzählung an ihr Ende führt: die Geburt des Protagonisten.
Angesichts dieses soeben herausgestellten intrikaten Spiels, das sich zwischen dem Ich und seinem Körperteil entfaltet, erscheint nun auch fraglich, ob der Text an dieser Stelle wirklich den Verlust des Kopfes in den Vordergrund rückt und mit der Kopflosigkeit seines Protagonisten allein die eigene Unsinnigkeit ins Bild setzt.Footnote 21 Der Aufwand, den der kleine Roman an dieser Stelle nicht bloß auf die Versehrung, sondern eben auch auf die Wiederherstellung körperlicher Integrität verwendet, regt vielmehr dazu an, in der zentralen Episode eine komplexere Verhandlung der eigenen Sinnhaftigkeit zu erkennen. Der Körper des Finkenritters wird darüber hinaus, wie eingangs angedeutet, nicht erst in dem Moment auffällig, in dem er seinen Kopf verliert, sondern das Ich der Erzählrede macht fortlaufend darauf aufmerksam, dass es über eine materiell-körperliche Dimension verfügt. In diesem Sinne wirkt das Motiv der Körperlichkeit auch insofern textintegrativ, als es die zeitlich verknüpften Episoden des Romans über den Textraum hinweg in dichte paradigmatische Bezüge setzt.Footnote 22 Wird nun einerseits die Korporalität des Protagonisten im Fincken Ritter immer wieder betont und stehen andererseits Protagonisten-Körper und Text-Körper in einer engen Verbindung zueinander, liegt folgender Verdacht nahe: An den eingangs als ›Körperübungen‹ bezeichneten Phänomenen, die als kalkuliert eingesetzte und variierte Motivik der These einer sinnlosen Aneinanderreihung von Vielem massiv widersprechen, werden allgemeinere literarische Eigenlogiken mikrostrukturell durchdacht und/oder eingeübt, die auch den Romantext als Ganzes reflektieren und folglich mit Sinn versehen.Footnote 23 Wir möchten im Folgenden daher die vielgestaltig inszenierte Körperlichkeit des Protagonisten in den Blick nehmen und nach deren erzählreflexivem Potenzial fragen. Dabei konzentrieren wir uns insbesondere auf drei Aspekte: Nahrung und Stoffwechsel (III.), Versehrung und Prothetik (IV.) sowie Klang-Körperlichkeit (V.). Wie die Analyse zeigen wird, besitzt jeder dieser Aspekte eine je eigene poetologische Qualität, sodass die körperliche figura des Finkenritters recht buchstäblich zu einer ästhetischen ReflexionsfigurFootnote 24 des Fincken Ritters wird. Mit dem Geburtsszenario als einem Moment intensivierter Körperlichkeit endet der Roman, weshalb wir in VI. darlegen, wie hier alle zuvor behandelten körperbezogenen Momente kulminieren und dergestalt auch die im pränatalen Zeit-Raum vollzogene Ausbildung zum Finkenritter und Fincken Ritter an ihr sinniges Ende geführt wird. Abschließend stellen wir gleichsam mit dem Text die Perspektive auf unsere Ergebnisse noch einmal »von newem« (7) ein und diskutieren die literaturgeschichtliche Einordnung des Romans (VII.).
III.
nahrung und stoffwechsel
Michail Bachtin weist in seinem Konzept der grotesken Körperlichkeit dem zentralen Motiv der Nahrung die Funktion zu, Körper und Welt in den Akten des Essens, Verdauens und Ausscheidens zu entgrenzen und zu vermischen: Der groteske Körper »verschlingt die Welt und läßt sich von ihr verschlingen«Footnote 25. Die implizite Körperkonzeption des Fincken Ritters verleiht dem Verhältnis des Protagonisten zur Nahrung eine geradezu entgegengesetzte Funktion. Nahrung ist über den Verlauf der Tagesreisen durchaus ein Telos im Erzählen, schließlich wird die Bewegung des Ich durch die Welt immer wieder als eine Bewegung hin zur Nahrung vorgestellt. Bereits die Exposition und Verortung des Erzähler-Ichs zeigt den Finkenritter beim Fang eines »groß kostlich essen schoener Jllkrebs« (27–28); während der zweiten Tagesetappe will er »Würsten vnd Häringen nach ziehen« (60); die vierte Tagesreise berichtet davon, wie er einer Biene in ein Baumloch folgt, weil er »gedacht/da würde [er] honig finden« (155–156), und in der fünften denkt er beim Anblick einer grünen Wiese voller Gras: »das were meiner muoter Kuoh guot gewesen« (187–188). Selbst von ihm abgetrennte Körperteile sind noch auf Nahrung hin orientiert: Der beim Mähen abgeschlagene Kopf »lieff den Rhein hinab/als gült es jhm ein guot gloch oder mahl« (204–205). Der Protagonist wird aber erst am Ende der achten Tagesetappe in einen vitalistischen Stoffwechsel mit seiner (Um‑)Welt eingebunden. Erst kurz vor seinem Übergang in ein postnatales Sein isst er zum ersten Mal. So wirkt die Nahrungssuche zugleich wie ein Weg zum Geborenwerden, der durch wiederholtes Scheitern einer Inkorporation von Lebensmitteln in auffälliger Weise zerdehnt wird und erst bei nahezu vollständiger Auflösung des pränatalen Körpers an sein Ende kommt.
Diese körperliche Auflösung bildet nun aber keinen unhintergehbaren Endpunkt, sondern ist als (Wieder‑)Geburt zugleich die Inszenierung eines Neuanfangs. Die Ausrichtung der Nahrungssuche auf die Geburt deutet das Ich selbst bereits früh als wegleitende Motivation in seiner Erzählung an, wenn es im Anschluss an die fehlgeschlagene Kaufmannskarriere, der die erste Tagesreise gilt, über einen möglichen alternativen Werdegang spekuliert: »Da gedachte ich in mir/mich anders zuo gebrauchen/vnd der Ritterschafft nach zutrachten/vnd das ich wölt/Würsten vnd Häringen nach ziehen« (58–60). Und eben dies will es so lange tun, »biß [es] auch ein mal auff erdtrich keme/wie andere menschen« (60–62). Durch die Adverbiale, die der anvisierten und kulinarisch perspektivierten Rittertätigkeit hinzugefügt ist, wird sowohl die Aventiurefahrt terminiert als auch deren Endpunkt als eine Zeit imaginiert, in der dem Essen nicht mehr nur nachgezogen werden muss, sondern es wohl auch konsumiert werden kann. Der Aventiurezeit als Phase ohne Nahrungsaufnahme korrespondiert die Beschreibung des ritterlichen Körpers, der unter anderem folgendermaßen reisefertig zugerichtet wird: »band meinen dägen an das Miltz« (65). Neben weiteren Verkehrungen (oben-unten; hinten-vorne)Footnote 26 deutet sich in der Positionierung des Degens an einem inneren Organ eine Innen-Außen-Inversion an, die dem Transfer der äußerlich befindlichen Nahrungsmittel in ein körperliches Innen zur Verdauung sowie anschließenden Ausscheidung – und demnach auch der grotesken Vermischung mit der Welt – entgegensteht. Während die Lebensmittel andernorts buchstäblich weltkonstituierende Funktion einnehmen – reist der Finkenritter doch streckenweise durch schlaraffische Gegenden aus Saumägen oder Bratwürsten (vgl. 227–233) –, bleibt der Ritter während seiner Reise in dem Sinne ein von dieser Welt Abgegrenzter, dass die Nahrung außerhalb seines Körpers bleibt. Ausdrücklich heißt es zu Beginn der letzten Etappe, dass der Protagonist »vngessen vnnd vngetruncken« (291) in einem Windschiff nach Hause segelt. Erst zu diesem Zeitpunkt, als er auf dem mütterlichen Hausflur aufprallt, ist sein dabei stark in Mitleidenschaft gezogener Körper in der Lage, einen Speckkuchen in sich aufzunehmen, mit dem er sich ›erlaben‹ soll. In Folge dieses Vorgangs kann er nicht nur von der Mutter geboren werden, sondern kommt hier auch allererst »zuo [sich] selber« (305). Der Verzehr des Speckkuchens ist folglich so eng mit der Geburt sowie beides mit einem das Ich integrierenden Vorgang verbunden, dass die Nahrungsaufnahme hier nicht eigentlich die vitalistische Funktion aufrechterhält, sondern den Körper überhaupt erst an das vitalistische Prinzip von Nahrungsaufnahme und -ausscheidung und damit an einen Stoffwechsel mit der Umwelt anbindet. Dies zeigt sich auch in der im Anschluss eingeführten neuen Zeitrechnung, welche die bisher geltenden Tagesreisen durch eine andere Größe ersetzt. Das Gebäck der Mutter ist nämlich nicht allein Stimulus der (Wieder‑)Geburt des Finkenritters, sondern zugleich Maß seines nachgeburtlichen Alters: »vnnd wann mein Muoter noch ein mal bachen wirdt/so bin ich eben dreyer speckkuochen alt« (340–342).
Indem der Text folglich wiederholt Momente der Nahrungssuche, einer verweigerten, miss- und erst am Ende glückenden Aufnahme von Essen ausstellt, greift seine Motivik durchaus ›gastroenterale‹ Modelle poetischer Produktivität auf, in denen in einer topischen Analogie zu Nahrungsaufnahme, -prozessierung und -ausscheidung über die Produktion von Texten nachgedacht wird.Footnote 27 Steht hier Nahrung für die tradierte materia von Prätexten, die immer wieder von Neuem um- und weitergearbeitet sowie zum Ausgangsmaterial für spätere Texte wird, betonen diese Modelle folglich einerseits das Zyklische sowie andererseits den Traditionsbezug literarischer Produktion. Mit seiner Zentralstellung des notwendigen Geburtsvorgangs bricht der Fincken Ritter in seiner Imagination eines solchen Stoffwechsels aus diesem Paradigma des Um- und Weiterschreibens aus und stellt dem Moment der Wiederaufnahme dasjenige eines Neubeginns zur Seite. So gewendet, zeigt sich die Nahrungssuche des Finkenritters, die in Backvorgang und (Wieder‑)Geburt mündet, als eine durchaus zugespitzte Auseinandersetzung mit den zentralen Modellen der frühneuzeitlichen Textproduktion, vor deren Hintergrund eben auch das Erzählen nicht aus dem Nichts schöpft, sondern seine Welten aus tradierten Textwelten generiert.Footnote 28 Im Fincken Ritter wird der Traditionsbezug keineswegs vollends verabschiedet, schließlich konstituiert sich die pränatale Welt ihrer intertextuellen Faktur nach fast ausschließlich aus tradierter materia,Footnote 29 und auch das Anzitieren der Topoi selbst ist schließlich eine Bearbeitung des Bestehenden. Mit der Verschiebung seines Zuständigkeitsbereichs ins Pränatale und der damit einhergehenden Suspension von Sinnansprüchen aber wird das Modell des Weiter- und Umschreibens, das Text aus Text generiert, für eine grundlegende Erneuerung in Stellung gebracht. Diese erfolgt aber im Grunde von innen heraus, sucht und erprobt der Fincken Ritter doch gerade im Umgang mit tradiertem Material schöpferische Potenziale und entwickelt in enger Auseinandersetzung mit dem Bestehenden neuartige Eigenlogiken. Besonders eindrücklich wird dieses Spiel mit etablierten Modellen, um schlussendlich über sie hinauszugehen, ebenso in der vierten Tagesreise, innerhalb derer der Protagonist sich in einen Eichenbaum auf Honigsuche begibt. Denn die unerwartete Konfrontation mit den dort befindlichen Insekten setzt eine eigentümliche Ausgestaltung des Bienengleichnisses ins Bild:
»[…] da fande ich einen vbergrossen/dicken/geschmeidigen/kleinen Eychbaum/darein was ein Ymme geflogen/ich gedacht/da würde ich honig finden/vnnd schloffe zuo dem selbigen loch hinein inn den baum/die Ymmen erschracken flogen herauß/vnd hatten mir die Augen zerstochen […] ich war zornig/lieff bald heym/vnd holt ein axt/vnd hüwe den Baum ab […]« (153–159 sowie 163–164).
Mit dem Bienengleichnis scheint hier ein wirkmächtiger Topos literarischer Produktivität anzitiert, narrativ ausgestaltet und nahezu gewaltsam dekonstruiert. Die von Blüte zu Blüte fliegende Biene, die das Gesammelte zu Honig verarbeitet, veranschaulicht traditionell die Produktivität der imitatio, d.h. die eifrig nachahmende Auseinandersetzung mit älteren Texten.Footnote 30 Der Finkenritter hingegen wählt nicht den Anschluss an die Blütenlese – sammeln und das Gesammelte zu Honig verfeinern –, sondern er nimmt eine Abkürzung, um sich unmittelbar des fertigen Produkts, des Honigs, zu bedienen. Die zufällige Beobachtung einer Biene verleitet ihn dazu, dieser durch ein Baumloch zu folgen. Der listige Eindringling kommt nun aber nicht zu seinem Ziel; er landet mitten im Bienennest und wird gestochen, was zu enormen Schwellungen führt, derentwegen er im Baum stecken bleibt. Die Abkürzung des Protagonisten erscheint folglich durch die Stiche zwar sanktioniert; doch motiviert die Schwellung der Stichverletzung zugleich auch einen unterhaltsamen erzählerischen Exkurs. Denn der am Handlungsort feststeckende Körper wird vom Ich-Erzähler gleichsam im Baum zurückgelassen, um, wie eingangs erwähnt, aus dem »heym«, das eigentlich dem postnatalen Zeit-Raum zugeordnet und dem Erlebenden somit noch gar nicht zugänglich ist, eine Axt zu holen und das Problem des Feststeckens auf gewaltsame Weise zu lösen.
Was dem Finkenritter in dieser Episode geschieht, könnte vordergründig als misslingender Anschluss des Textes an die tradierte imitatio gelesen werden: Finkenritter und Fincken Ritter verweigern die Blütenlese, indem sie eine Abkürzung nehmen, stecken dann aber fest und brechen schließlich gewaltsam aus dem offensichtlich zu eng gewordenen Bienennest aus. Der ›Ausbruch‹ als zugespitzte Auseinandersetzung mit dem topischen Modell aber leistet mehr: Obwohl der Protagonist das vom anzitierten Gleichnis vorgegebene Handlungsmuster verabschiedet, wird es im Roman durch seine narrative Ausgestaltung ausgesprochen produktiv, sodass der Finken Ritter anders als sein Held durchaus an seinen Honig kommt, der ja in der komischen Literatur auch ein Topos (Versüßung der bitteren Medizin) für die unterhaltsame Kurzweil ist. Die Suche des Finkenritters nach Nahrung reflektiert folglich den Umgang mit literarischem Stoff (materia) nicht nur, sondern diese Reflexionen erweisen sich selbst als ausgesprochen schöpferisch und unterhaltsam: Tradierte Topoi und/oder Motive werden – entgegen dem Diktum der älteren Forschung – im Fincken Ritter eben nicht einfach nur aus älteren Dichtungen kompiliert, sondern narrativ ausgestaltet und variiert. So findet der Text zwar vielleicht keinen Anschluss an die in diesen Bildern gedachten Modelle literarischer Produktivität, aber durch die metaphorische Inversion der Bildgehalte macht er sie doch ausgesprochen produktiv, indem er den Protagonisten etwa mitten in sie hineinsetzt – wie in obigem Beispiel mitten ins Bienennest.Footnote 31
IV.
versehrung und prothetik
In Momenten, in denen der Körper des erzählten Ichs sich verletzt, tritt die »Leiblichkeit«Footnote 32 des Ich-Erzählens besonders deutlich hervor. Möglichkeiten von Versehrung und Heilung – wie etwa das Waschen und Zurückstopfen von Gedärmen in die Bauchdecke weidwunder Patient:innenFootnote 33 – sind in der Körperkonzeption der Zeit durchaus geläufig. Ungewöhnlich an derjenigen des Fincken Ritters aber ist, dass die Integrität des Körpers vorläufig suspendiert und die Zeit der Desintegration überbrückt und zerdehnt werden kann. Hinter dem versehrten, desintegrierten Körper tritt in diesen Momenten, wie Armin Schulz es nennt, ein »handfester Phantomkörper«Footnote 34 hervor. Denn das Ich kann auch mit zerstochenen Augen sehen, sich kopflos die Stirn blutig stoßen oder mit verkehrt herum aufgesetztem Haupt gleichzeitig nach vorn und nach hinten blicken. In den Momenten der Versehrung scheint im Erzählen eine Art ›Ad-hoc-Prothetik‹ wirksam zu werden: Zuerst wird erzählt, wie ein Teil des erlebenden fleischlichen Körpers verletzt oder gar amputiert wird, woraufhin aber, zweitens, weiter von Wahrnehmungen und Affizierungen der mangelnden Körperteile erzählt werden kann, als wären sie noch da und unversehrt.
Diese Prothetik des Erzählens wird schon vor der ersten Verletzung des Ichs eingeübt. Zu Beginn der dritten Tagesreise begegnen dem Ich ein sehender Blinder, ein bekleideter Nackter und ein flinker Lahmer. Während der sehende Blinde und der bekleidete Nackte, an die christliche Verkehrungsrhetorik angelehnt, als verlebendigte Heilsversprechen erscheinenFootnote 35 – eine Suggestion, die durch die Überschrift der Tagesreise noch verstärkt wird, die »seltzame Gesichte[ ]« (76) ankündigt –, verhält es sich beim Lahmen anders. Der nämlich geht »auff einer Stelzen« (81), verfügt also über eine Prothese, die ihm die Fortbewegung ermöglicht. Die Stelze ersetzt aber nicht nur wörtlich den Fuß der Figur, sondern verschiebt auch die Inversionslogik der Wunder-Heilung, die durch die Reihe der drei Figuren suggeriert wird, zur Wunder-Versehrung. Denn es wird erzählt, dass der Lahme »sich fast vbel an die fersen stieß/das jhm die Steltz hefftig bluotet« (93–94). Die Stelze ersetzt demnach nicht eigentlich das Körperteil, sondern überlagert sich mit ihm: Die Prothese ist Zusatz, nicht Ersatz. Prothese und Körperteil stehen in dieser eigentümlichen narrativen Logik folglich an derselben Stelle und das Erzählen kann zwischen beiden – oder zwischen den Eigenschaften beider – hin und her schalten. Dergestalt übt die blutende Stelze eine spezifische Setzungs- und Vorstellungslogik ein, nach der Imaginationen im wörtlichen, räumlich-materiellen Sinn hergestellt werden, indem Dinge nach vorne, vor etwas hingestellt werden. Diese ›Logik der Prothese‹ (grch. prosthesis – »Voran‑/Vor-etwas-hin-Stellen«) prägt auch die sprachlichen Setzungen der Erzählrede. Wiederholt ruft der Fincken Ritter zunächst eine Vorstellung auf, von der dann behauptet wird, dass das Vorgestellte in der erzählten Welt nicht da sei: »vnnd kame an ein grossen […] vnnd schiffreichen bach […] darinn giengen drey geladener Schiff […] das dritte was nicht da […]/vnd saß in das schiff/das nicht da was/vnnd fuor hinüber« (147–153). Das sprachlich Genannte, doch materiell nicht Existente, zeitigt dann aber trotzdem Effekte in der erzählten Welt. Wenn das Bezeichnete als abwesend behauptet wird, gerinnt es ganz offenkundig nicht zum leeren Zeichen, sondern es bleibt gerade als Vorstellung weiterhin aktions- und reaktionsfähig. Das führt fortlaufend zu Überlagerungen von An- und Abwesendem sowie zu einer Vervielfältigung des narrativ Möglichen: blutenden Prothesen (vgl. 93–94), Schifffahrten auf Schiffen, die nicht da sind (vgl. 147–153), oder einem Kopflosen, der an der Stirn blutet (vgl. 203–206).
Von dieser komplexen Überlagerungslogik ist das Wörtchen »Ich« in besonderem Maße betroffen. Im Ich der autofiktiven Erzählung verbinden sich zwei Entitäten zu einer Einheit: ein erzählendes Ich, das als narrative Instanz retrospektiv eine quasi-autobiographische Geschichte entfaltet, und ein erzähltes Ich, das in der Diegese mit Leib präsent ist und über dessen Wahrnehmungen und Bewusstsein das Geschehen vermittelt wird.Footnote 36 Wie in vormodernen Ich-Erzählungen üblich, ist diese Trennung auch im Fincken Ritter nicht stringent durchgehalten. Doch erweist sich die mangelnde Stringenz hier als kalkulierte Ungenauigkeit im Umgang mit der gewählten Erzählkonfiguration, um die Potenziale der autodiegetischen Instanz auszuloten, die sich gerade aufgrund der Spaltung des Ich und seiner mehrdeutigen Referenz ergeben. Das erlebende Ich ersetzt das erzählende Ich in der Diegese nicht immer vollends, sondern es wirkt mitunter wie lediglich vor die Erzählinstanz hingestellt. Immer wieder entsteht der Eindruck von Metalepsen, in denen das Erzähler-Ich aus dem Hintergrund hervortritt, um sich in der Diegese körperlich ins Geschehen einzumischen und sich dabei auch relativ autonom vom erzählten Ich zu bewegen. In der dritten Tagesreise lenkt der Text recht offensichtlich auf diese für ihn produktive Sollbruchstelle in der autofiktiven Ich-Einheit und entfaltet diese bildlich. Der Finkenritter kommt in dieser Episode zu einer Kirche, in der ein Kaplan aus Hafer gerade die Messe liest: »der Caplan sang ›Amen‹/Ich gedacht/er saget/›fahen mir den‹/da flohe ich vor schrecken zuo der thüren hinauß/vnnd sprang so schnell/das ich weydwund ward/vnnd mir das kröß herauß lampt« (130–134).
Wären dem erzählenden Ich nur die Wahrnehmungen des erzählten Ichs zugänglich, könnte es hier nicht angeben, dass der Kaplan »Amen« gesagt habe, sondern bloß mitteilen, dass der Gesang des Kaplans als ›Fangt mir den!‹ wahrgenommen wurde.Footnote 37 Durch das Nebeneinanderstellen von dem, was tatsächlich gesungen worden ist, und dem, was das erzählte Ich gehört haben will, wird auf Ebene der Erzählrede die Einheit von erzählendem und erlebenden Ich aufgebrochen, die durch das eingangs aufgerufene Muster des quasi-autobiographischen Reiseberichts suggeriert worden war. Auf einmal werden zwei voneinander unabhängige Wahrnehmungen präsentiert, das erzählende Ich löst sich klar vom Erlebenden und der Blick auf ein und denselben Sachverhalt ist dementsprechend aufgespalten. Dieser Sprung zwischen den narrativen Ebenen und die Versehrung der Einheit von erzählendem und erzähltem Ich werden vom Fincken Ritter sodann über den Körper der Hauptfigur erzählt und reflektiert:
»vnnd sprang so schnell/das ich weydwund ward/vnnd mir das kröß herauß lampt. Ich lieff eylends vber ein drucknen bach/wuosche das kröß sauber/thet es widerumb hinein/vnnd schutte etliche klaffter Meerkatzen bluot darzuo/das thet ich darumb/das ich widerumb leichtsinnig vnnd frölich wurd.« (132–138)
Es kommt zu einer buchstäblichen Übersprunghandlung, bei der sich der erschrocken fliehende Protagonist schwer verletzt: Eines seiner Organe fällt heraus, löst sich folglich aus der körperlichen Einheit und muss wieder integriert werden. Die Gedärme werden gewaschen und in die Bauchhöhle zurückgeschoben, was für das Ich auch Gelegenheit bietet, seinen Körper um eine beträchtliche Menge Meerkatzenblut zu ergänzen und den gesamten Vorgang poetologisch zu rahmen. Mit dem Hinzufügen von Blut, »das leichtsinnig vnnd frölich« machen soll, wird der Topos der komischen Literatur als Medizin gegen Melancholie anzitiert.Footnote 38 Die Desintegration der narrativen Einheit und die dadurch scheinbar ausgelöste Desintegration des erlebenden Körpers ermöglichen aber nicht nur komische Effekte. Ähnlich der produktiven Anverwandlung des Bienengleichnisses zeigt sich auch hier – durch die Wahl des Meerkatzen-Blutes – eine kreative Realisierung des Topos durch das erlebende Ich, die merklich erzählreflexive Züge trägt: In dieser Episode, so könnte man zuspitzen, dynamisieren sich das Ich und gleichermaßen auch die Erzählung durch produktives Missverstehen. Das Ich hat das »Amen« in der Kirche zu »fahen mir den« ergänzt. Diese Ergänzung ist weniger nach dem Verfahren der Assonanz gebildet, wie es die Erzählrede vorgibt, als nach einem Prinzip, das dem Lautmaterial des ursprünglichen Klangs (»Amen«) zwar folgt, es aber beliebig unterbrechen und um weitere Laute ergänzen kann. Es handelt sich dabei also weniger um eine fehlerhafte Perzeption als um eine imaginative Ausschweifung: Das Ich produziert im Missverstehen einen Widerhall, der sich nicht auf die bloße Nachahmung des Klangs einer anderen Stimme begrenzt, sondern sich von diesem Klang verselbstständigt. Das hat auf der Handlungsebene zur Folge, dass das Ich sich erschreckt, davon stürmt, sich schwer verletzt und Blut zuführen muss – um die kreative Lebhaftigkeit nicht einzubüßen? In dieser Hinsicht erhält der Umstand, dass dieses Blut von Meerkatzen stammt, poetologische Relevanz, schließlich sind Affen vornehmlich für ihre Nachahmungsgabe bekannt.Footnote 39 Die hier ausgeführte Transfusion lässt sich folglich nicht bloß als Wiederherstellung einer sanguinischen Qualität lesen, sondern zudem als eine ironische Disziplinierungsbemühung, mit der die sich verselbstständigende Erzählinstanz wieder auf die Nachahmung des zugrunde liegenden Musters des autofiktiven Reiseberichts verpflichtet werden soll, die mit ihrer Rede folglich bloß das ›nachzuäffen‹ habe, was vom erzählten Ich erlebt worden ist.
Der restituierte Körper und, damit einhergehend, die Selbstverpflichtung aufs ›Nachäffen‹ währen allerdings nicht lang, denn schon in der nächsten Tagesreise verletzt sich der Protagonist erneut. In der Hoffnung, Honig zu finden, folgt er einer Biene in ein Baumloch und schreckt dabei den Bienenschwarm auf, der ihm die Augen zersticht, »das [ihm sein] hinder gesicht so gar krumb ist worden/als ein sichel« (159–160). Während das krumme Gesicht sprichwörtlich die affektive Reaktion des Finkenritters ins Bild setzt,Footnote 40 legt es der Text mit der Verwendung des scherzhaften Ausdrucks »hinder gesicht«, der eigentlich Po meint, darauf an, seinem Protagonisten zwei Gesichter zu geben und darüber eine gewisse Janusköpfigkeit zu gestalten.Footnote 41 Tatsächlich bietet sich die Figur des Janus als Bild für die komplexe Erzählkonfiguration des Fincken Ritters an, die in der Geburt den Anfang des Protagonisten mit dem Ende des Textes überlagert. Die Doppelgesichtigkeit würde vor diesem Hintergrund auch die Überlagerung von zwei Perspektiven in ein und demselben Ich ins Bild setzen – die zurückblickende Perspektive des erzählenden Ichs und die nach vorne, auf den eigenen Anfang gerichtete Perspektive des erzählten Ichs.
Diese Doppelung wird dann über den Körper des Protagonisten in dieser dritten und ebenso in der fünften Episode auserzählt, denn in der Folge der Versehrung seines doppelten Gesichts vervielfältigt sich anscheinend auch der ganze Körper des Finkenritters. Dem erlebenden Ich werden nämlich nicht nur die Augen zerstochen, sondern es steckt überdies im Baumloch, also in der erzählten Welt fest. Wer könnte es da besser retten als das erzählende Ich? Die folgende Episode nämlich setzt die Möglichkeiten der Erzählinstanz in Form von Gewalthandlung narrativ um und lotet sie dergestalt in ihren Spielräumen aus: Das Erzähler-Ich, das physisch nicht an die räumliche und zeitliche Kontinuität der diegetischen Welt gebunden ist, tritt temporär hinter dem erlebenden Ich hervor und mischt sich in die Handlung ein, um dem Feststeckenden zu Hilfe zu kommen. Es kann aus dem Haus der Mutter, also dem zu diesem Zeitpunkt nur ihm zugänglichen postnatalen Zeit-Raum, eine Axt holen und den Baum zerschlagen. Die Beweglichkeit zwischen verschiedenen diegetischen Ebenen sowie das handgreifliche Gebaren verleihen dem schlagenden Ich hier durchaus auktoriale Züge.
Fraglich ist, wann sich diese zusätzliche Vervielfältigung des Ich wieder zur doppelgesichtigen Einheit von erlebendem und erzählendem Ich integriert. Der Text fährt in der Handlungsbeschreibung fort, als wäre klar, auf wen und wie viele das im Folgenden agierende »ich« zu beziehen sei:
»In solchem grossen zorn/lieff ich eylends zuo einer grossen/dicken dornhecken/die wolt ich abhauwen/vnnd das loch im Baum damit verstecken […]/Wie ich aber das Beyhel nimm/vnnd will an die sach/so fellt es mir am aller dicksten ort inn die Hecken/ich warde noch zorniger/vnnd lauff gantz schnell in meiner Muoter Kuchen vber den herd/vnd holte ein feur (ach Gott/es wolte so gar kein glück dasein)/vnnd zündt die dörner an« (165–168 u. 169–175).
Dieses Ich erweist sich also erneut als weder zeitlich noch räumlich konsequent an die erzählte Welt gebunden, denn es kann »in [der] Muoter Kuchen« laufen und damit von dem pränatalen in den postnatalen Zeit-Raum. Dieser erneute proleptische Kniff weckt den Verdacht, dass sich das Ich auch zu Beginn der folgenden Tagesreise noch nicht wieder vollends mit dem Teil zu einer Einheit gefügt hat, der in der vierten Etappe im Baum steckenblieb. So nimmt auch das Reisegeschehen am fünften Tag verschiedene Elemente des Vorherigen wieder auf. Das Ich stößt mit der Sense an einen Maulwurfshügel und mäht sich »in demselbigen streich« (202–203) seinen Kopf ab. Nicht nur wird es hier also erneut mit Werkzeug handgreiflich, sondern es setzt das eigene Tun darüber hinaus wieder in direkte Verbindung mit der postnatalen Welt, von der ja nur das erzählende – und bereits geborene – Ich wissen kann: Es möchte Gras für seiner »muoter Kuoh« (188) ernten. Da es aber ausdrücklich mit »demselbigen« Sensenstreich in einen »Maulwerffen hauffen« (202) stößt und sich dadurch selbst den Kopf abmäht, könnte man eine Koordination von Maulwurf(haufen) und Kopf des Ich vermuten. In der immanenten Logik des Textes wäre es nur folgerichtig, wenn das Ich hier jenem Körper den Kopf abmäht, der in der vierten Tagesreise mit zerstochenen Augen – und damit sprichwörtlich blind wie ein Maulwurf – steckengeblieben war. Indem der versehrte Körper der vierten Tagesetappe aus der Wurzel und somit aus dem Erdreich wieder auf die Oberfläche schlüpft, liegt auch dort die Assoziation zum Maulwurf nahe, dem mit dem einen Sensenhieb auf den Hügel nun der Kopf abgeschlagen wird. Anstatt eines kontinuierlichen Nacheinanders der Ereignisse entsteht der Eindruck eines diskontinuierlichen Neben- oder auch Übereinanders, weil sich mit dem Ich auch die Erzählung zu spalten und zu doppeln scheint, es zu Überlagerungen von evozierten Vorstellungen kommt.
Bemerkenswert am Hieb auf den Maulwurfshügel ist, dass er körperlogisch zugleich integrativ wie desintegrativ wirkt: Erlaubt diese Szene, wie soeben erläutert, die Vereinigung der zwei voneinander abgelösten Ich, spaltet es den durch assoziative Motivüberlagerung gerade restituierten Körper im selben Moment erneut, da durch den Schlag dessen Kopf verlustig geht. Nun ist es ausschließlich dieser Teil des Gesamten, der ein Eigenleben entwickelt. Eine weitere Restitution ist folglich vonnöten, in der sich das Ich den erjagten Kopf – »das hinder theyl zuom vordersten« (208–209) – aufsetzt und damit nicht nur die Einheit seines Körpers, sondern auch seine Doppelgesichtigkeit wiedererlangt, die in der vierten Tagesreise aufgrund des zweifach lädierten Sehvermögens zugleich evoziert wie zerstört worden war. Das Ich kann durch den Clou des verkehrt herum aufgesetzten Kopfes wieder »hinden vnd vornen gesehen« (211–212); das handgreifliche Einwirken im Sensenhieb wird folglich zur Bedingung der Möglichkeit, die eigene Janusköpfigkeit wiederherzustellen. In dieser Form möchte das Ich bezeichnenderweise »gantz schnell heym lauffen« (213), steuert folglich erneut den postnatalen Raum an. Mit Versehrung und Restitution der über die Janusköpfigkeit des Protagonisten zum Ausdruck kommenden doppelten Perspektive erreicht schließlich auch das Erzählen einen Punkt, von dem aus das Ende der pränatalen Ausbildungszeit, man möchte beinahe sagen: ›in den Blick‹ genommen werden kann. Nun aber, da die verschiedenen Dimensionen eines Ichs wieder vereint sind und demgemäß die physische Verankerung in der erzählten Welt sich intensiviert, gelingt die Heimkehr – im Unterschied zu den zwei sprunghaften, aber möglichen Mutterhausbesuchen der vierten Tagesreise – nicht so umstandslos. Ein aufkommender Wind weht den Kopf erneut ab, sodass er ein weiteres Mal aufgesetzt werden und diesmal auch adäquat befestigt werden muss: »da […] band [ich] jhn mit roten nestlen auff/vnnd wol zuosammen/Also wuochs er mir bald wider an« (219–220).
Die ganze Episode wird schließlich durch die letzte Bemerkung der Erzählrede gleichsam in den Dienst jenes Sehens gestellt, welches in der vierten Tagesreise durch das zerstochene »hinder gesicht« versehrt worden war: »da was ich stoltz/das ich wider gesehen kundt« (220–221). Erneut wird also der Gesichtssinn betont, was es nahelegt, dass es in den Versehrungen der vierten und fünften Episoden auch um das Erproben und Spielen mit einem Visualisieren und Imaginieren geht. Dieses spezifische Vorstellungsvermögen wird im Erzählen eingeübt:Footnote 42 über ein Ich, das sich selbst zu verlassen in der Lage ist, weil es von einem Phantom- oder besser: Prothesenkörper erzählen kann, der von den zeitlich-räumlichen Kontinuitätsregeln der Diegese suspendiert ist. Dabei begünstigt die zeitliche Voran-Stellung des erlebenden Ich in einen pränatalen Zeit-Raum dieses Erzählen in besonderem Maße, weil sich dergestalt ein nachgerade autonomer bzw. auktorialer Spielraum zwischen erlebendem und erzählendem Ich öffnet.
V.
klang-körper
Eine Betonung der Leiblichkeit des reisenden Finkenritters zeigt sich nicht allein darin, dass es die Figur wiederholt auf Nahrungsmittel abgesehen hat oder verschiedensten Versehrungen ausgesetzt ist. Darüber hinaus agiert der Protagonist in unterschiedlichen Situationen als klingender Körper oder mit klingenden Körpern. Der Text kombiniert dergestalt ein regelrechtes Ensemble aus Klang-Körpern, wobei hierunter nicht allein Hohlkörper gefasst werden, die in Reaktion auf einen äußerlichen Impuls widerhallen, sondern auch tierische wie menschliche Körper, die einen »thon« produzieren, der wiederum in Interaktion mit anderen, belebten wie unbelebten, Körpern treten kann. In gewisser Weise scheint der Fincken Ritter jene Vermischungen von Körper und Welt, die in Bachtins vitalistischer Konzeption konstitutiv für die groteske Körperlichkeit sind, auf Phänomene der Klang-Körperlichkeit verschoben zu haben: Immer wieder wächst im Fincken Ritter Klang aus Körpern heraus, vermischt sich mit der Welt und schafft weitere Klang-Körper.Footnote 43 Dadurch, dass diese Einbindung in einen Kreislauf von Entstehen und Vergehen nicht über Momente skatologischer oder versehrter Körperlichkeit läuft, sondern über klingende und klingen machende Körper, ist die groteske Körperlichkeit im Fincken Ritter in besonderer Weise zu einer ästhetischen Reflexionsfigur ausgebaut: Der Text denkt, indem er erzählt, wie Klänge aus Körpern und Körper aus Klängen entstehen, besonders ausdrücklich auch über die Möglichkeiten der eigenen poetischen Produktion nach.
Anschaulich präsentiert sich diese Klang-Körperlichkeit erneut in der bereits als zentral herausgestellten fünften Tagesreise. Bevor das Ich sich nämlich den Kopf überhaupt erst abmähen kann, muss es eine Sense erwerben. Anstatt mit Geld soll es diese mit einem lauten »juheyaho« (192) bezahlen; dieser Tauschhandel nun setzt Klang und Körper maßgeblich über Echostrukturen in Beziehung. Ähnlich der Nymphe Echo, die gewisse – wenn auch in der Regel die endenden – Laute dupliziert,Footnote 44 erwidert der Finkenritter das Verhandlungsangebot mit einem lauten »ju ju heyjaho« (193), das in seiner Qualität als Wiederholung des Ursprungslauts zusätzlich betont wird, da es heißt: »Ich schrey den nächsten ju ju heyjaho« (193; Herv. DF/KK). Die Antwort des Ichs leitet eine weitere Vervielfältigung des Echoeffekts ein. Der Klang beginnt nun – und dies ist hier in einer bemerkenswerten Bildlichkeit umgesetzt –, sich in die Welt zu bewegen, dabei aber zugleich Resonanz sowie ein weiteres Echo zu erzeugen und sich dergestalt weiter von der ursprünglichen Lautkombination (»juheyaho«) abzulösen. Zunächst nämlich breitet sich das »ju ju heyjaho« des Ich in der Weise aus, »das Berg vnnd thal daruon erschall« (194–195). Sodann springt hinter einer Hecke »[e]in Esel […] embor« und trägt nun nur die vom Finkenritter vorgenommene Duplikation der ersten Silbe (»ju ju«) mit abgesenktem Vokal davon: »schrey als j. a. j. a. vor schrecken« (197–198, Herv. DF/KK). Der schreiende Esel läuft gleichsam als Bild eines sich ablösenden und zur eigenständigen Erzählung werdenden Widerhalls »vber denselben graben« (197) aus dieser Erzählung hinaus.
Bereits in der dritten Tagesreise finden sich ähnliche Klangphänomene, die überdies durch die affektive Reaktion des Schreckens mit der soeben besprochenen Verkettung von erklingenden Stimmen verbunden sind. Der Finkenritter verläuft sich in einem Wald und fragt unterschiedliche Gestalten, die ihm begegnen, nach dem Weg. Die Antworten weisen jedoch keinerlei lautliche oder inhaltliche Bezüge zur Rede des Protagonisten auf. Er erzeugt, wie das folgende Beispiel demonstriert, anstelle von Antworten vielmehr ein groteskes Echo, in dem die maximale lautliche Ähnlichkeit des Widerhalls zur maximalen Differenz verkehrt ist: »Ich fraget den Koler auch/ob ich recht dahin/vnnd herwider gieng. Darauff sagt er/›Nicht vil lieber Freund/ich stümmel da Weiden.‹« (118–121).Footnote 45 Zwar produzieren alle die von ihm Angesprochenen dem Köhler ähnlich einen Stimmklang, den das Ich sogar semantisch verstehen, aber eben nicht auf seine Frage, wohin es sich bewegen solle, beziehen kann. Für das Ich bleiben die Antworten in Ermangelung jeglicher Referenzialisierbarkeit ähnlich leeres Sprachmaterial, wie wenn die Gestalten seine Frage bloß wie ein Echo wiederholten. Die Deutung, die dem Ich bleibt, ist folglich keine semantische, sondern eine performative: »er fatzet mich« (112–113).Footnote 46
Die Struktur, in der die Erzählung wiederholt Klang-Körperlichkeit entfaltet, ist jene des, wenn auch mitunter korrumpierten, Echos.Footnote 47 Solche Echoeffekte von Schall und Widerhall werden aber nicht nur als Handlungsmomente realisiert und auserzählt, sondern die Resonanz und Reflexion von Klängen prägen auch das Syntagma der Erzählung in unterschiedlichen Intensitäten. Auf mikrostruktureller Ebene bildet sich eine solche Struktur durch die variierende Wiederholung von Klängen über unterschiedliche Textsegmente hinweg aus. Das führt zu einem Echoeffekt, der sich paradigmatisch über den Textraum ausbreitet. Jedes Wort der Erzählrede scheint in Variationen widerhallen zu können, wofür sich beliebig viele Beispiele aus dem Text anführen ließen: Der Finkenritter will etwa Leberwürste jagen, trifft dann in einer späteren Episode auf einen Köhler, der Tannzapfen zu Leberwürsten brennt und Weiden stümmelt; später wird der Finkenritter weidwund und lässt sich einen Mantel mit gebrannten Eiszapfen belegen uvm. Auch die sprachliche Oberfläche des Textes hallt folglich in sich selbst wider. Darüber hinaus wird das Syntagma des Romans von einer Bewegung geprägt, wie sie in den Momenten der Klang-Körperlichkeit durchgespielt wird: Klang breitet sich von einem Ursprung aus, erschallt in der Welt und kehrt als Widerhall zum Ursprung zurück. Dass diese Bewegung von Klang auf das Engste mit der erzählten Reise und der Bewegung des Finkenritters zusammenhängt, wird bereits im Titel vorgeführt, in dem die namentliche und funktionale Einführung der Hauptfigur zuerst mit demselben Sprachmaterial endet, mit dem sie begonnen hat: »Der Fincken Ritter. History vnd Legend von dem treffenlichen vnnd weiterfarnen Ritter/Herrn Policarpen von Kirrlarissa/genannt der Fincken Ritter« (1–4). Diese klangliche Wiederholung greift der stärker auf die Handlungszusammenfassung ausgerichtete zweite Teil des Titels noch einmal auf, variiert aber diesmal das sprachliche Material der anfänglich gegebenen Information am Ende: »wie der drithalb hundert Jar/ehe er geboren ward/viel land durchwandert/[…] vnd erst von newem geboren worden« (4–8). Dergestalt verknüpft sich gerade die Verhandlung der Klang-Körper, in der es um das Aussenden und Rückkehren von »thon« geht, mit dem Syntagma des Romans, der sich als Reisebericht des ›exile and return‹-Schemas bedient, das Heimkommen aber zugleich als Wiedergeburt inszeniert. Auf diese Weise stellt er eine spezielle Rückkehr, nämlich die Heimkehr zum klanglichen Ursprung aus – und baut so auch hier ein Spannungsfeld von Abhängigkeit und Ablösung auf.
In der sechsten Tagesreise wird der vom erzählten Ich ausgehende Klang besonders eng mit der vom erzählenden Ich ausgehenden Rede verknüpft und die Echostruktur auf die Makrostruktur der Erzählung bezogen. Der Klang, den das Ich in der erzählten Welt verursacht, lässt sich in dieser Episode in seiner Entstehung, Ausbreitung und Qualität beobachten, kehrt aber ebenso zirkulär zu seinem Ursprungsort zurück wie der Wider-Hall. Das Ich berichtet nämlich davon, wie es an einem Samstag bei einem Lautenschläger einkehrt, den es bei der Zurichtung des Instruments für das sonntägliche Aufspielen in neun Dörfern unterstützen möchte, dann aber »leyder nicht wol darmit« kann, strauchelt »vnd […] durch den Lautensternen/wol ein gantz viertel stund in die Lauten« fällt, »ehe [es] auff den boden« (250–252) kommt. Dieser Fall und sein Aufprallen evozieren einerseits Schrecken beim Lautenschläger, der unter anderem Angst um sein Instrument hat, andererseits aber auch einen »thon« (255), der gemeinsam mit dem Ich, welches über eine Leiter wieder emporsteigt, die Laute verlässt und »in aller stercke/den selben abendt/die nacht vnnd morgen vber alles feld [läuft] zuo den neun Dörffern/biß mittag/am Sonntag« sich ausbreitet, sodass es »inn jedem Dorff besunder [klingt]/das es ein freude zuohören« ist (256–260).
Als Produzent des »thons« übertrifft das Ich sogar den eigentlichen »Meyster«, da der Klang vom Finkenritter zwar nicht intentional hervorgerufen ist, aber – losgelöst von Urheber und Instrument – anderen Menschen zugänglich wird, ohne dabei auf die Anwesenheit des Ich am Rezeptionsort oder eine durch es ausgeübte kontinuierliche Performanz angewiesen zu sein. Ferner schließt der Text es zumindest nicht aus, dass der »thon«, wenn auch auf je eigene Art, in allen neun Dörfern gleichzeitig erklingt, selbst wenn der Lautenschläger ihn nacheinander in jedem besuchten Dorf erleben und die Gelegenheit nutzen kann, nicht selbst aufspielen zu müssen: »vnd dantzt selber mit/vnnd sahe darmit auch zuo/das es recht naher gieng« (263–265). In der Art und Weise, wie der »thon« losgelöst von seinem Urheber an vielen Orten zugleich vernehmbar ist, könnte eine Reflexion des Drucks als Verbreitungsmedium des Fincken Ritters anklingen; der Widerhall, der sich ausbreiten und erfreuen kann, illustrierte dann jenes Vervielfältigungsphantasma, das in der Zeit im Spannungsfeld von copia (Fülle) und Kopie verhandelt wird.Footnote 48
VI.
geburten: »thon « , ich-erzähler, text
Weitaus konkreter noch als über die möglichen Reflexe des Drucks als Verbreitungsmedium oder über die affizierende und unterhaltsame Wirkung aller vom Ich angestoßenen Töne wird das eigene Erzählen aber in zwei anderen Momenten über klingende Körper reflektiert und darüber zugleich als ein Akt des Hervorbringens inszeniert: in der Bewegung des Heimkehrens und innerhalb des am Romanende platzierten Geburtsszenarios. »Die sechst Tagreyse« schließt mit der Information: »Sobald es aber vmb den abend ward/so vergieng der thon von jhm selbs/vnnd zohe wider heym/all gemächlichen in sein Lauten« (265–267). Dergestalt sind »thon«-, Text- und Ich-Bewegung merklich koordiniert. Schon der Kapiteltitel hatte nämlich angekündigt, man würde nun erfahren, »[w]ie der Edele Ritter wolt heym ziehen« (222). Vorerst aber ist es lediglich der Lautenklang, dem es echohaft gelingt, zu seinem Ursprungsort zurückzukehren. Die Heimkehrbewegung des Ich wird in der folgenden siebten Tagesreise zerdehnt, die Reise setzt sich zunächst noch ein wenig »weitter fürt« (272), und das Erzählen hallt noch einmal in sich selbst wider, bevor es in der letzten Episode dann zu seinem Ursprungsort zurückkehrt. Dieses Wiederhallen wird dadurch bewirkt, dass die eingeschobene siebte Etappe scheinbar gleichzeitig Geschehendes in zeitlich aufeinander Folgendes überführt. Die Erzählung ließ das Ich in der sechsten Episode bei der Laute stehen und wechselte in die auktoriale Vogelperspektive, aus der beobachtet werden konnte, wie sich der »thon« in den 24 Stunden seines Klingens durch die unterschiedlichen Dörfer bewegte und dort eine verkehrte Welt zum Tanzen brachte: »Als dann so dantzten die kinder/vnnd die alten schwachen/Die knaben und döchter sahen zuo« (260–262). Wenn in der siebten Tagesreise das Ich wieder zu erzählen beginnt: »Vnd wie ich nun weitter fürt zohe/vnnd nahend zuo einem dantz kame« (272–273), unterstellt der Text, dass hier vom »thon« wieder – geradezu metaleptisch – auf das Ich zurückgeschnitten wird, das sich nun auch selbst, dem »thon« folgend, von der Laute zu den tanzenden Dorfbewohnern bewegt. Es beobachtet jetzt, was von seinem »thon« ausgelöst wird, doch wandelt sich die zuvor mit dem »thon« verknüpfte »freude« (260) im Ich-Erleben zu »angst vnd noth« (277). Auch der »dantz« (273), dem der Finkenritter beiwohnt, zeigt sich als verkehrte Welt, deren Verkehrung sich vor allem klanglich äußert und sich damit als Echoeffekt des »thons« lesen lässt: »da bullen die Bauren/[…] grinnen die hanen/vnd kräieten die Sew/vnnd plerten die hüner« (273–275). Gegen dieses »grausame[ ] leben« (276) muss der Finkenritter sich »leibs vnnd wehrs erleben« (277–278), was er so heldenhaft »mit den fersen« (281) tut, dass er schließlich die Ritterschaft erlangt und demnach erst an dieser Stelle recht eigentlich zu »dem Finkenritter« wird: »das ich mit einer ruoßigen löcherechten kerstenpfannen zuo Ritter geschlagen/vnd der streng Fincken Ritter genant warde« (281–283). Zugespitzt formuliert, wird er hier also durch das Erleben oder besser noch: das Überleben seiner eigenen poietischen Produktion zum Ritter geschlagen und nobilitiert. Der mit einer schmutzigen und kaputten Pfanne durchgeführte Schlag erscheint vor diesem Hintergrund als abschließende Geste der Selbsternennung und -ermächtigung, in der mit dem ironischen Bilderbruch auch der Sensenstreich der fünften Tagesreise erneut anklingt. Zugleich aber weist die Episode im Ausstellen des ›Werdens vom Ich zum Finkenritter/Fincken Ritter‹ auf die sich im Anschluss vollziehende Geburt voraus und deutet damit an, dass der vollzogene Ritterschlag allein für den erfolgreichen Abschluss dieses Werdens nicht ausreichend ist.
Ähnlich dem Lautenton kehren sich in der achten und letzten Tagesetappe der Finkenritter wie auch die Erzählung vom Finkenritter zu einem Körper, demjenigen der Mutter nämlich, die dafür verantwortlich zeichnet, dass er »zuo letst […] von newem geboren« (7–8) wird. Diese schon im Romantitel angekündigte (Wieder‑)Geburt zeigt nun wiederum auffallende Parallelen zur ›Geburt‹ des »thons« aus der Laute: In beiden Situationen folgt das Hervorbringen aus dem jeweiligen Körper einem relativ langen Fall des Protagonisten auf den (Erd‑)Boden.Footnote 49 Nun wird die poetologische Dimension dieser Geburt aber nicht nur dadurch hervorgehoben, dass der Finkenritter aus seiner Mutter wie der »thon« aus dem Lautenkörper kommt. Das Geburtsszenario am Schluss lässt all die bisher über die Körperlichkeit des Finkenritters ausagierten poetologischen Momente kulminieren und führt sie dergestalt an ein Ende. Hierbei fällt zunächst auf, dass der Geburtsvorgang zeitlich eng auf die erzählte Reisezeit getaktet ist. Die beim Backen des Speckkuchens entstandene Hitze leitet die Wehen ein: »also was fast grosse noth vnnd mühe da/wol dritthalben tag/ehe sie mich geberen kund« (310–311; Herv. DF/KK). Über die pränatale Reisezeit heißt es: »wie er drithalb hundert Jar/ehe er geboren ward/viel land durchwandert« (4–5; Herv. DF/KK). Diese um den Faktor hundert vergrößerte, aber in gewählter Ziffer wie syntaktischer Parallelität erzeugte Koordination von Geburtswehen und ritterlichem Umherschweifen lässt sich dann als regelrechter Abenteuerzeitraum begreifen, der die Geschichte des Protagonisten mitsamt ihrer erzählreflektierenden Ausbildung des erlebenden Ichs zum Finkenritter als Geburtsvorbereitung, als einen Weg zur Textgeburt auch des Fincken Ritters beschreibt.Footnote 50
Angesichts der deutlichen Analogie zwischen der Lautenepisode und der Geburtsepisode lohnt es sich, den Anfang des kleinen Romans noch einmal hinsichtlich des Aspekts der Klang-Körperlichkeit in den Blick zu nehmen, also den Teil, in dem die Erzählsituation ausgestaltet und die erzählte Zeit etabliert wird. Der geburtliche Anfang des Finkenritters – und damit zugleich das Ende des Fincken Ritters – sind nämlich eng auf diesen Romanbeginn bezogen. Wie schon eingangs angemerkt, wird im ersten Absatz der Exposition die erzählte Zeit mit der Zeit wundersamer Reiseberichte, namentlich denjenigen von Mandeville, verschränkt.Footnote 51 Im zweiten Absatz wird der Raum rund um den Ausgangspunkt der Reise regelrecht kartographiert:
»Dazumal fieng ich ein groß kostlich essen schoener Jllkrebs/auf dem kleber Meer/jenseit dem Rennfeld/hinder dem Saltzhaus zuo München/nicht weit von dem Pallast/Sanct Patricius Fegfeur/inn Hybernia/[…] das ist in Arabia […] in der gegne Armenien/des Königreichs/als die Pappagey vnd Sytticus des selben Lands/guote Arabische spraach reden/auch Lautensternen schneiden/vnd Lieder dichten können.« (27–37)
Die Positionsbestimmung des Ausgangsortes, die in ihrer Anordnung der Gegenden immer weiter in die Ferne schweift, nimmt hier bereits eine Reisebewegung vorweg, deren Ziel ein Land ist, in dem Papageien und Sittiche Sprache produzieren, »Lautensterne[ ] schneiden/vnd Lieder dichten können«. Zentral scheint hier, dass der Endpunkt der in den folgenden Tagesreisen zu erlebenden und zu erzählenden Reise in der Exposition angelegt ist, die das Phänomen von Klangproduktion, Resonanz und Widerhall bereits partiell vorprägt: Während sich der Finkenritter fischend an einem bestimmten Ort befindet, reist die Erzählung – wie der Ton nach dem Lautensturz des Finkenritters – schon einmal kartographierend voraus. Und tatsächlich folgt der Finkenritter der vorgezeichneten Bewegung insofern, als er kurz vor seiner Geburt durch einen Lautenstern fällt und nach seiner Geburt ein Rätsellied dichten kann. Er erreicht in diesem Sinne folglich das schon in der Exposition anvisierte Ziel.
Das Bild des ›Lautensterne-Schneidens‹ könnte das über den gesamten Textverlauf ausgestellte Generieren von Klang-Körpern beschreiben, wie es der kleine Roman auf unterschiedlichsten Ebenen vollzieht: Die Textoberfläche dient insgesamt als Klang-Körper, in welchem das eigene lautliche Wortmaterial in einem dichten Netz paradigmatischer Verweise widerhallt. In der erzählten Welt hingegen werden immer wieder Körper zum Klingen gebracht (vgl. der schreiend davonrennende Esel) oder Klangkörper generiert, die in Strukturen von Echo und Resonanz eingebunden sind. Nicht nur materielle Körper werden zum Klingen gebracht, sondern auch die tradierte materia der Literatur (Motive, Topoi, Sprichwörter), indem der Finkenritter – wie beim Bienengleichnis ziemlich wörtlich – in sie eindringt, d.h. der Text sie von einem Ich erleben und so in der Erzählung erklingen lässt. Nicht zuletzt scheint der Roman mit dem am Ende realisierten Anschluss an einen Stoffwechsel zu antizipieren, dass er an die Zirkulation des literarischen Betriebs angeschlossen und zum Prätext anderer Texte werden kann – etwa bei Johann FischartFootnote 52 –, von denen er selbst wiederum zum Klingen gebracht wird.
Das Geburtsszenario suggeriert durch die mit ihm aufs Engste verknüpfte erfolgreiche Nahrungsaufnahme (Speckkuchen; Saugen an der Mutterbrust) aber nicht allein eine Anbindung des Finkenritters/Fincken Ritters an seine (literarische) Umwelt. Darüber hinaus thematisiert das Geschehen vor und nach der Geburt Akte des Gestaltgewinns, die Momente der Nahrungsaufnahme mit denen der Versehrung verbinden:
»So baldt ich aber auff Erdtrich kame/vnd geboren warde/auch mein Muoter des vnflats entbunden/vnnd ledig was/wolt mich die Hebam gleich baden/das wolt ich nicht leiden (dann ich hette sein nicht gewonet) sunder ich sprang von stund an auß dem Bade/vnd verkroch mich in ein winckel/[…] Aber zuom letsten ward ich doch wider gefunden/dann ich was in einer spinnwebben behangen bliben/da nam mich die Hebamm wider/vnnd will mich in die Windlen einwicklen/vnd einbinden/das mocht ich gar nicht leiden/vnd schluog jr die faust in den halß/das jr die naß vberlieff/vnnd nichts mehr gesach/aber ich sprang stracks zuo meiner muoter in vmbhang/vnnd verbarg mich/fieng an zuo saugen/da dorfften sie mich nicht von dannen nemmen/ich wolte sonst vnbillichen geschrawen vnd geweynet haben/damit kam ich von den Weibern zuofriden/vnnd gieng jederman heym. Auch bin ich darzuo noch auff diesen tag meiner lieben muoter kind […].« (320–340)
Das kurz vorm Geburtsakt verheißene Zu-sich-selbst-Kommen des Finkenritters realisiert sich offenbar auch in einer (wiederzugewinnenden) Konturierung – bei gleichzeitiger Ablehnung zu starker, formgebender Einwirkung durch Dritte: Während das vorgeburtliche Ich buchstäblich verflüssigt war (Leber und Blase zerplatzt, zerrinnende Hirnmasse und Herzblut), erscheint das gerade geborene Ich nicht nur mit wiederhergestelltem Körper, sondern auch insofern ›konturierter‹, als es sich vehement Versuchen anderer, seine Gestalt zu beeinflussen, widersetzt. Dergestalt produziert es zwei weitere kleine Erzählungen, die an die vorgeburtlichen Körperübungen erinnern und eine mitunter recht gewaltsame Verteidigung gegen An- und Einbindungsbestrebungen von außen demonstrieren: Zuerst verweigert das Ich ein Bad und wehrt sich flüchtend gegen den Versuch fremder Hände, dasjenige von ihm zu lösen, was nicht zu ihm gehöre. Später lässt es sich von Fremden nicht in Windeln wickeln. Diese Konfliktsituationen verhandeln jedoch nicht grundsätzlich den Vorgang einer Konturierung, auch mittels An- und Einbindung in Gewebe (textus), als problematisch, sondern verorten das Problem vielmehr in der darin deutlich abgesprochenen Autonomie des Ich. Sein versehentliches Verfangen in einer Spinnwebe nämlich führt zu weitaus geringerer Abwehrreaktion. Das »behangen bliben« (329–330) im Netz beendet die Hebamme, die zugreift und den Protagonisten windeln will. Das erst provoziert Gewalt. Über Anbindung entscheidet das Ich bevorzugt selbst: So vollzieht es noch eine letzte Übersprunghandlung und springt in den Umhang der Mutter, wo es selbstständig zu saugen beginnt. Mit diesem Anschluss an einen Stoffwechsel wird die an seinem Körper durchexerzierte Ausbildung des Ich-Erzählens schließlich abgeschlossen, denn als unmittelbare Folge zieht nicht nur »jederman«, sondern auch die Erzählung endgültig »heym«; sie kommt im Präsens an: »Auch bin ich darzo noch auff diesen tag meiner lieben muoter kind«.
Erlebendes Ich und erzählendes Ich, die innerhalb der acht Tagesreisen über vielfältige Verfahren bildhaft des- und reintegriert worden waren, werden – nun nicht mehr durch die Geburt existenziell voneinander getrennt – zu einer Einheit. So endet das Geburtsgeschehen, das schon zu Beginn als ein Prozess des Zu-sich-selbst-Kommens gerahmt war, damit, dass jene Erzählposition erreicht wird, von der wiederum die erzählerische Gestaltung des gesamten Romans abhängt. Der (Wieder‑)Gewinn von (körperlicher) Kontur sowie das gleichzeitige Beharren auf Autonomie werden hier folglich zum Reflex der Ausbildung dieser Erzählposition, die ihre Handlungsspielräume und schöpferischen Möglichkeiten innerhalb der Reiseetappen verschiedentlich erprobt und auch für die Lesenden nachvollziehbar ins Bild gesetzt hat. Diese in ihrem Werden zu verfolgende Position bedient sich dabei – und dies nicht allein – in der Verwendung bekannter Strukturierungsmerkmale (Kapiteleinteilung eines Prosaromans oder Itinerars) oder rhetorischer Mittel (Metaphern, Paradoxa) sowie der Anbindung an tradierte Gattungen (Legenden‑, Ritter‑, Reiseliteratur) einer im 16. Jahrhundert geläufigen Formensprache für ihr Erzähltes. Doch füllt sie diese imitierten Formen äußerst eigenwillig aus – im Bild der fünften Tagesreise: geradezu dem eigenen Kopf folgend und zugleich doch keineswegs kopflos.
VII.
fluchtpunkte oder: alles auf anfang?
Der Text fügt am Ende bezeichnenderweise ein Rätselgedicht an, das dieses Ausbilden einer Erzählposition noch einmal nachzeichnet und vor dem Hintergrund unserer Lektüre beinahe als dessen komische Abschlussprüfung begriffen werden kann. Der Zwölfzeiler nimmt die eigentlich bereits im Prosatext aufgeworfene und dort auch ansatzweise geklärte Frage erneut auf, wie alt der Finkenritter sei: »Ja wann mein Mueter schickt jhr sachen/Das sie bald widerumn will bachen/Als dann so wird ich mit gewalt Gleich eben dreyer kuechen alt« (352–355).Footnote 53 Der Text – ob in Prosa oder nun auch in gereimten Versen – bleibt bis zum Schluss paradox. Dort, wo er Aufklärung verspricht (»wer wissen wölle«), irritiert er weiter: nicht nur durch die Tatsache, dass die vorgeburtliche Zeitrechnung in Jahrhunderten und Tagesreisen mit Einsetzen der Geburt durch eine Rechnung in Speckkuchen abgelöst wird. Der unmögliche Zeit-Raum bestimmt sich durch sich überlagernde konventionelle Zeitangaben, der wiederum mögliche Zeit-Raum erhält eine erfundene Zeitrechnung. Auch das anvisierte Speckkuchen-Alter selbst scheint, wie so vieles in diesem Roman, widersprüchlich: In der erzählten Zeit hat die Mutter bloß einmal, kurz vor der Geburt, gebacken, während das Rätselgedicht aber ein Alter von zwei Speckkuchen voraussetzt und prospektiv einen dritten Kuchen in Aussicht stellt. Mit Blick darauf, dass das Gedicht unmittelbar nach der rätselhaften Altersangabe die Geschichte des Finkenritters offenbar wieder von vorn zu erzählen beginnt (»Vor zeit groß Ritterschafft ich pflag/Dieselb gebraucht all meine tag/Mit mannheyt auff dem Finckenherdt […]«, 356–358), erweist sich diese Widersprüchlichkeit aber als durchaus programmatisch. Denn mit dieser Geste des erneuten Anfangens wendet sich der Text zurück ins summarische Erzählen der Heldentaten aus der Retrospektive, und das Gedicht nimmt wieder jene Erzählposition ein, die Titel und Exposition des Romans prägen. Dergestalt wird hier, am Abschluss des Textes, möglicherweise die erneute Lektüre und/oder das erneute Erzählen als Weg zur Rätsellösung vorgeschlagen. Der Weg zum nächsten Backvorgang als Alterungsindikator des Protagonisten käme somit einer Textwiederholung gleich,Footnote 54 und der Finkenritter/Fincken Ritter bände sich in einen schier unendlichen Erzähl- und Lektüre-Kreislauf ein. Der hier suggerierte Reset zielt aber wohl nicht allein auf die Replikation des Textmaterials. Indem der Erzählvorgang sich jedes Mal als Wiedergeburt von Finkenritter und Fincken Ritter inszeniert, deutet sich hier zudem die Möglichkeit an, bei jeder Wiederholung doch immer auch neue Erfahrungen von »seltzame[n] ding[en]« (5) zu machen, die – durch den Text und ebenso im Text – »gesehen« oder allgemeiner: wahrgenommen werden können.
In dieser sich selbst faltenden Textbewegung bietet der Fincken Ritter nicht zuletzt höchst verdichtet eine gewissermaßen praktische Antwort auf die allgemeine Frage an, wie und unter welchen Bedingungen ein Erzählen, das in der Mitte des 16. Jahrhunderts maßgeblich der Programmatik von imitatio und aemulatio verpflichtet ist und sich als Um- und Wiedererzählen bestehender Vorlagen zeigt, von Neuem beginnen oder eben: »von newem geboren« (7) werden kann.Footnote 55 ›[V]on newem‹ bedeutet auch für den Fincken Ritter keine unerhörte ursprungslose Innovation oder Originalität im Präsentierten. Schließlich setzt dieser kleine Roman mit seinen selbstreflexiven Übungen bei tradierten Modellen und Formen an. Deren Bearbeitung dann ist es, in der sich der Text als ausgesprochen kreativ und auch traditionelle Konventionen überschreitend zeigt. Wie es die zuvor dezidiert herausgestellte Körperlichkeit des Finkenritters programmatisch veranschaulicht, kommt es hier zu den wildesten De- und Re-Kompositionen, aus denen dann wiederum bisher ›nicht gesehene‹ – und mit vorhandenem Welt- und Literaturwissen womöglich auch nicht so leicht einsehbare – Optionen erwachsen. Die Novität des Fincken Ritters ist dann gerade nicht das in jeder Hinsicht noch nie Dagewesene, sondern ein durch Verfahren der Verschiebung, Verkehrung, Umbesetzung und Ergänzung innerhalb des Altbekannten sich eröffnender Möglichkeitsraum sowie die Freiheit, die sich der Roman in Anwendung dieser Verfahren nimmt. Er greift Elemente zeitgenössischer Diskurse auf, integriert sie aber nicht bloß kompilierend zu einem neuen Text. Vielmehr bearbeitet er übernommene Fragmente der Tradition, indem er sie etwa in neue kleine Erzählungen überführt und dergestalt nicht allein das Adaptierte differenziert reflektiert, sondern in der narrativen Entfaltung zugleich auch Optionen des Erzählens durchspielt. In dieser Hinsicht ließe sich der Fincken Ritter als »erschwerte Form«Footnote 56 begreifen, da er Prozesse seines textuellen Werdens (»von newem geboren«) äußerst dicht ausstellt oder gar narrativ ins Bild setzt. Wie die Analyse hat zeigen können, zielt der Text dabei immer wieder auf bestimmte Konventionen der zeitgenössischen Literatur (Muster, Topoi, Gattungen) und exploriert, wie sich diese scheinbar ›festen Formen‹ durch verschieden intensive Modifikationen wieder in ihrer Gemachtheit wahrnehmbar und damit poietisch produktiv machen lassen.
Dass es dem Fincken Ritter um eine solche Produktivität geht, zeigt sich mitunter an seiner dichten Auseinandersetzung mit verschiedenen Schöpfungsmodellen: Der Held versucht sich während der Reise vergeblich zu ernähren, er dringt auf dieser Nahrungssuche in das topische Bienennest ein, aus dem er sich dann aber gewaltsam selbst befreit. Die ziemlich wörtliche Textgeburt am Ende schließt das Erzählen nicht ab, sondern stellt es vielmehr zurück auf Anfang und setzt sich auf diese Weise zugleich in einen eigenen Kreislauf. Metabolismus, Blütenlese und Fruchtbarkeit dienen, spitzt man den Gehalt der unterschiedlichen Episoden zu, dem kleinen Roman in ihrer tradierten Form offensichtlich nicht mehr als adäquate Reflexionsmodelle des eigenen Schaffens, fordern sie doch konstant zur produktiven Auseinandersetzung auf. Die auf organische Prozesse rekurrierenden creatio-Modelle werden narrativ entfaltet und so in ihrer Logik hinterfragt: Indem ein Ich mit Körper mittels metaphorischer Inversion in sie hinein gesetzt wird, sodass sie als zeitlich sich entwickelndes erzähltes Geschehen in die einzelnen Episoden integriert werden können, verhandelt der Roman Fragen wie etwa folgende: Wie tritt materia überhaupt in einen geregelten Stoffwechsel? Was geschieht vor einer Textgeburt? Was passiert mit dem Werk, hat es den Urheber erst einmal verlassen? Der Fincken Ritter führt auf beinahe paradoxe Weise vor, wie literarische Schöpfung funktionieren könnte: tradierte Vorstellungen von Schöpfung problematisierend, doch darüber zugleich selbst nahezu schöpferisch tätig, da Neues hervorbringend.
Um ›von newem‹ zu erzählen, setzt der Fincken Ritter ganz allgemein und in erhöhtem Maß – logisch, rhetorisch und topisch – beim Paradoxen an. Der kleine Roman wurde (wie die sogenannte Unsinnsdichtung insgesamt) immer wieder auf die Tradition des rhetorischen Adynatons bezogen, das für die Unwahrscheinlichkeit einer Sache argumentiert, indem es diese mit einer Unmöglichkeit vergleicht.Footnote 57 ›Unmögliches‹ präsentiert auch der Fincken Ritter in der Tat vieles – gerade auch aus dem Vorrat traditioneller Adynata.Footnote 58 Die Operation des Abgleichens aber findet sich in seiner Erzählung von einer Welt, die geltendem Weltwissen konsequent widerspricht und sich darin aber keineswegs auf eine Welt außerhalb des Textes bezieht, nicht. Was, möchte man fragen, soll in einer solchen Welt ›unmöglich‹ sein? Die ›Un‑/Möglichkeiten‹ im Fincken Ritter sind zwar vom Abgleich mit geltendem Weltwissen abgekoppelt, aber dadurch gerade keine wildgewordenen Selbstläufer. Ihre mit bemerkenswerter Präzision aufeinander aufbauende Kombinatorik fragt nicht wie das rhetorische Adynaton nach Wahrscheinlichkeiten, die auf eine Urteilsposition außerhalb des Textes referieren, dafür aber umso pointierter nach dem Potenzial für das Erzählen, das durch eine Verschiebung der Fremd- zur Autoreferenzialität entsteht.
Mit diesem auf sich selbst gerichteten und in diesem Sinne autoreferenziell funktionierenden Aushandeln von Un‑/Möglichkeiten scheint im Roman die Paradoxenliteratur der Renaissance – in der das Paradox sowohl im engeren Sinn als logischer Widerspruch wie auch als Widerspruch zur Lehrmeinung begegnet – auf bemerkenswerte Weise nachzuhallen.Footnote 59 Repräsentativ lässt sich das an einer um die Mitte des 16. Jahrhunderts recht einflussreichen philosophischen Schrift nachzeichnen, die überdies den griechischen Begriff erstmalig in die deutsche Sprache einführt: Sebastian Francks Paradoxa (1534). Sein Werk behandelt allerlei Widersprüchlichkeiten aus der Heiligen Schrift, darunter auch Aspekte, die, wenngleich unter ganz anderen Vorzeichen, ebenso im Fincken Ritter bearbeitet werden: Verschränkungen von Anfang und Ende, doppelte und erneute Geburten, zweigeteilte Menschen oder eine grundlegende Doppelgesichtigkeit aller Dinge.Footnote 60 Was der Fincken Ritter neben einzelnen inhaltlichen Elementen mit Sebastian Franck vor allem teilt, ist die Idee, auf radikale Weise »die schrifft an die schrifft zu hetzen«,Footnote 61 und so ein – wie in der abschließenden, auf sich selbst zurückweisenden Textbewegung des Romans angedeutet – in sich geschlossenes Verweissystem zu bilden. Das schließt jedoch die mehrfach betonte hohe Dichte an intertextuellen Bezügen und Versatzstücken keineswegs aus, die im Fincken Ritter allerdings selten bloß als zitathafte Anspielungen genutzt, sondern aufgrund ihrer narrativen Entfaltung zum erlebbaren Teil der eigens entworfenen Welt gemacht und dergestalt in das diese bestimmende Verweissystem integriert werden. Denn mit den übernommenen Elementen wird dank der gewählten Erzählperspektive ein ausschließlich vom Ich abhängiger Raum eigenen Rechts entworfen – eine eigene Welt gar, die sich überdeutlich durch den nur ihr zugehörigen Zeit-Raum des pränatalen Erlebens konstituiert.Footnote 62 In dieser Welt dann sind Verschiebungen, Um- und Ausgestaltungen von Gewohntem oder die Kombination von logisch, zeitlich, räumlich nicht zueinander Gehörigem möglich. Indem der Roman das Eigene auf diese Weise aus fremden Versatzstücken konstruiert, oszilliert die Darstellung konstant zwischen Eigenlogik und Fremdreferenz. Interessanterweise aber rekurriert der Roman trotz der makrostrukturell dominierenden Formgebung als Reisebericht weniger bis gar nicht auf eine historische Welt, sondern vielmehr auf textuelle Entwürfe, die diese Welt bereits diskursiv, präskriptiv oder narrativ ver- oder bearbeitet haben. In diesem Sinne ›hetzt‹ auch der Fincken Ritter in seiner intertextuellen Dimension »die schrifft an die schrifft« und koordiniert dergestalt Welterzeugung wie -erfahrung eng mit der Erzeugung und Erfahrung von Text. Eine derart unterhaltsame wie souveräne Weltschöpfung – die zwar aus literarischen Versatzstücken besteht, aber doch deutlich Anspruch auf Autoreferenzialität erhebt – kann durchaus als bemerkenswerte Station in eine Vorgeschichte zur literarischen Autonomie gestellt werden.
Bedeutsam für die Konstruktion einer solchen Geschlossenheit ist auch auf einer übergeordneten Ebene die logische Paradoxie mit ihren drei Elementen der Selbstbezogenheit, Widersprüchlichkeit und Zirkularität. Im Fincken Ritter ließe sich mit Sonja Glauch geradezu eine »Poetik des Paradoxen«Footnote 63 identifizieren, nutzt der kleine Roman die logische Paradoxie doch als Bauprinzip seiner in hohem Maß auf sich selbst reflektierenden, sich selbst widersprechenden und in sich selbst kreisenden Erzählkonstellation. Das programmatische Ausreizen von Widersprüchlichem zielt hier aber nicht allein auf eine (unterhaltsame) Auseinandersetzung mit Alltagswissen und schon gar nicht, wie beim Paradoxon Franck’scher Prägung, auf die Vermittlung göttlicher Transzendenz. Vielmehr nimmt die Poetik des Paradoxen im Fincken Ritter maßgeblich die Frage in den Blick, wie literarische Welt erzeugt werden kann, und evoziert so nicht zuletzt auch eine Vorstellung von Fiktion, die bemerkenswerterweise aber immer wieder ein paradoxales Sowohl-als-Auch an die Stelle eines Als-Ob setzt. Der Fincken Ritter generiert mit dem Er‑/Finden seiner Welt nämlich keine mit einer grundlegenden Trennbarkeit von Schein und Sein kalkulierende Als-Ob-Welt;Footnote 64 in dem Raum, durch den der Held reist, existiert »keine Trennung, kein[ ] Übergang zwischen einer gewöhnlichen und der verkehrten Welt«Footnote 65. Ein solches Erzählen ist nicht nur der Konstruktionsweise seiner Welt nach paradox, sondern auch in seiner Wirkabsicht, verfolgt es doch das Ziel, eine selbstbewusst als eigen reklamierte Poetik zu vermitteln, während es zugleich immer auch auf eine zugespitzte Komik setzt. Das zeigt sich nachgerade emblematisch am zerstochenen »hinder gesicht« des Finkenritters, das zum einen als eine nach vorne und hinten sehende Janusköpfigkeit poetologisch auf die gespaltene Erzählinstanz bezogen werden kann, zum anderen aber eben auch jeglichem Ernst mit dem Hintern seines Helden ein karnevaleskes Lachen entgegensetzt.
Vor dem Hintergrund der Neuplatonismus-Rezeption in der Renaissance samt ihrer Aufwertung der Vorstellung, der Mensch stehe mit seinem Körper als ›kleine Welt‹ in einem analogischen Verhältnis zur großen Welt, bietet sich die Körperlichkeit des Ich als Reflexionsgegenstand für die Schöpfung des Erzählkosmos im Fincken Ritter geradezu an:Footnote 66 Wenn der eigene Körper als kleine Welt in einem analogen Verhältnis zur großen Welt gedacht wird, lassen sich die Verhältnisse und Bedingungen der erzählten Welt auf besonders dichte Weise am erzählten Körper spiegeln. Dass auf solche Weise im Fincken Ritter das Große im Kleinen und damit außerordentlich Gewagtes auf kleinster Fläche verhandelt wird, bringen die letzten zwei Zeilen des Romans auf den Punkt, oder besser: treiben es auf die wortwörtliche Spitze. Das Abenteuerliche des Fincken Ritters, sein Ruhm und seine Ehre gebührten, so heißt es dort, seiner »künheyt vnd […] witz«, die doch » [a]ll auff eim kleinen nadelspitz« (360/361) sitzen.
Notes
Der Fincken Ritter. History vnd Legend von dem treffenlichen vnnd weiterfarnen Ritter […], Straßburg: Christian Müller, 1560. Thomas Cramer bezeichnet den Fincken Ritter gar als »eine der ersten deutschen Ich-Erzählungen«. Angesichts der Belege aus der in Spätmittelalter und Früher Neuzeit populären Gattung der quasi-autobiographischen Reiseberichte, auf die der Text in mehrfacher Hinsicht anspielt, ist der Befund allerdings einzugrenzen: Der Fincken Ritter ist eine der ersten deutschen Ich-Erzählungen, die ihren fiktiven Charakter deutlich unterstreicht und damit kalkuliert. Vgl. Thomas Cramer, »Von einem, der auszog, die Welt kaputtzulachen: der ›Finckenritter‹«, in: Werner Röcke, Helga Neumann (Hrsg.), Komische Gegenwelten: Lachen und Literatur in Mittelalter und früher Neuzeit, Paderborn, Zürich u.a. 1999, 283–299, hier: 297.
Zitiert nach der Ausgabe von Horst Brunner, Von achtzehn Wachteln und dem Finkenritter, Deutsche Unsinnsdichtung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2014, 96–121, hier: 96, Zeilen 2–4. Im Folgenden zitieren wir den Text nach dieser Edition unter Angabe der entsprechenden Zeile im Fließtext.
In der Folge verwenden wir Ich ohne Anführungszeichen, wenn wir das Personalpronomen in der unbestimmten und oft uneindeutigen Bedeutung adressieren, wie es im Text anzutreffen ist.
Ronny F. Schulz, Die Wahrnehmung des Neuen in der Literatur des 16. Jahrhunderts. Novitätsdiskurse bei Francois Rabelais, Johann Fischart, Michael Lindener und im »Finckenritter«, Bielefeld 2017, 136–138, deutet eine derartige Interpretation des Körpers im Fincken Ritter mit Verweis auf die »platonisch vermittelte Vorstellung der Rede als menschlicher Körper« (137) an, bezieht diese Vorstellung dann aber beinahe ausschließlich auf den abgeschlagenen Kopf. Lediglich Anm. 85 verweist auf eine umfangreichere Bezüglichkeit zwischen Figurenkörper und Textkörper.
Die Betonung sowie Bedeutsamkeit von der Vorzeitigkeit der Abenteuer des Finkenritters werden hier also keineswegs als deren nachträgliche Unterminierung oder als Indiz einer Aufgabe jeglicher Orientierung interpretiert, wie es Werner Röcke vorschlägt, wenn er behauptet, dass »die Reisen und Abenteuer des Helden auf beklemmende Weise übersprungen, ja ausgelöscht werden«. In: Ders., »Der Anfang vom Ende. Aufhebung der Zeit und Nähe der Ferne im Komischen Roman der Frühen Neuzeit«, in: Natascha Adamowsky, Peter Matussek (Hrsg.), [Auslassungen], Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft, Würzburg 2004, 319–326, hier: 322.
Dem literarischen Nonsense wurde ganz allgemein eine propädeutische Funktion attestiert. In der Konzeption von Diether Baake etwa, die sich allerdings an Phänomenen der Moderne orientiert, hat er die Funktion, ein »Trainingsfeld [für] befreite« und »eine Propädeutik für schöpferische Vorstellungen« zu sein. Vgl. ders., »Spiele jenseits der Grenze. Zur Phänomenologie und Theorie des Nonsense«, in: Klaus Peter Dencker (Hrsg.), Deutsche Unsinnspoesie, Stuttgart 1978, 355–377, hier: 377.
Für intertextuelle Referenzen auf bestehende Reiseberichte vgl. Armin Schulz, »Narrative Kohärenz. Narrative Inversionen im Fincken Ritter«, in: Beate Kellner, Jan-Dirk Müller, Peter Strohschneider (Hrsg.), Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert, Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 136), 177–195, hier: 182; Joachim Knape, »Der Finckenritter: Text und Untersuchung«, Philobiblon 35/2 (1991), 97–148, hier: 100–102; Brunner (Anm. 2), 141.
Vgl. zur langen Tradition des Motivs der ›schadhaften Gesellen‹ Pertev Naili Boratav, »Gesellen: Die schadhaften Gesellen«, in: Wilhelm Brednich et al. (Hrsg.), Enzyklopädie des Märchens, Berlin 1977 ff., V (1987), 1147–1150; außerdem Ludwig Uhland, Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage, 7 Bde., Stuttgart 1865 ff., III (1866), 226–227 u. 233–234.
Vgl. die Studien von Karl Müller-Fraureuth, Die deutschen Lügendichtungen bis auf Münchhausen, Halle 1881, 11–25; Uhland (Anm. 8), zu den Motiven (»Lügenbildern«) in älteren Unsinnsdichtungen bes. 223–232, zum Fincken Ritter insb. 232.
Zum Verhältnis von Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Rationalität in Bezug zur Unsinnsdichtung siehe Sonja Kerth, »ich quam geriten in ein lant ûf einer blawen gense. Weltbetrachtung und Welterfahrung im Zerrspiegel mittelalterlicher Unsinnsdichtung«, in: Klaus Ridder (Hrsg.), Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Kolloquium 2006, Berlin 2008 (Wolframstudien XX), 415–434.
Uhland (Anm. 8), 232.
Vgl. zum Begriff der Nonsense-Literatur/Unsinnsdichtung den Überblick von Peter Köhler, »Nonsense«, in: Harald Fricke et al. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3. Aufl., Berlin, Boston 2003, 718–720. Zur Unsinnsliteratur der Vormoderne vgl. grundlegend Sonja Kerth, »Lügen haben Wachtelbeine. Überlegungen zur mittelhochdeutschen Unsinnsdichtung«, in: Dorothea Klein et al. (Hrsg.), Vom Mittelalter zur Neuzeit, Wiesbaden 2000, 269–289, und dies. (Anm. 10). Zu den Inversionsverfahren und der Einordnung des Fincken Ritter in die Unsinnsdichtung vgl. grundlegend Knape (Anm. 7), insb. 110; weiter Werner Röcke, »Schiefe Dialoge. Die Inversion von Kommunikation und Sinn im komischen Roman des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit«, in: André Schnyder (Hrsg.), Kannitverstan: Bausteine zu einer nachbabylonischen Herme(neu)tik. Akten einer germanistischen Tagung vom Oktober 2012, München 2013, 249–260.
Röcke (Anm. 12), 253.
Vgl. zur Inversion von kategorialem und konkretem Weltwissen und seiner sprachlichen Repräsentation Schulz (Anm. 7), bes. 179–183. Im Anschluss an die Stabilisierung von Sinn durch Inversion auch Maximilian Benz, »Textgebären. Christomimesis und Groteskes im Finkenritter«, in: Martina Feichtenschlager, Sarina Tschachtli (Hrsg.), Fruchtbarkeit und Poiesis im 16. und 17. Jahrhundert, Würzburg 2022 (Philologie der Kultur 15), 19–31, bes. 24–25. Wir danken Maximilian Benz für die Vorab-Einsicht in seinen Artikel.
Röcke (Anm. 5) etwa behauptet, dass »[e]ine – wie auch immer strukturierte – Ordnung des Denkens, Sprechens oder Handelns […] hier nicht mehr zu erkennen« (321) bzw. dass »jede andere Ordnung eines möglichen Sinns« (322) aufgehoben sei. In Röckes Argumentation wird der Verlust des Kopfes in Tagesreise 5 auch mit einer Orientierungslosigkeit gleichgesetzt (vgl. 324). In der Andeutung einer gewissen Brachialität noch zugespitzt in Werner Röcke, »Spielräume kultureller Kontakte im Roman des 16. Jahrhunderts: ›Der Finckenritter‹ (Straßburg 1560)«, Paragrana 19/2 (2010), 21–32, hier: 32.
Schulz (Anm. 4), 138. Auch Cramer (Anm. 1) kommt trotz seiner vielversprechenden Ansätze zur »innere[n] Logik« (289) der vom Erzählsubjekt entworfenen wie erlebten Fiktion (vgl. 195) zu dem Schluss, dass »die Kraft des Subjekts« letztlich nicht ausreiche, »um aus den partialisierten Bestandteilen eine neue Welt zusammenzusetzen oder wenigstens -zusehen. Übrig bleibt ein Trümmerfeld […]« (297).
Die Episode beginnt in Zeile 184 (zählt man die inhaltliche Überschrift mit, in Zeile 181), also so ziemlich genau in der Mitte des (in der Edition nach Horst Brunner) 361 Zeilen umfassenden Textes.
Vgl. »Ich zohe fürt« (79); »Also zohe ich für« (147). Die Kontingenz dieses Weiterziehens wird noch dadurch hervorgehoben, dass es nicht als lineares Fortschreiten, sondern viel eher als Pendelbewegung beschrieben wird: »Ich fraget den Koler auch/ob ich recht dahin/vnnd herwider gieng.« (118–119; Herv. DF/KK); »Ich fragt weiter/ob das die rechte straaß were/die mich also her vnd hin trüge.« (121–122; Herv. DF/KK).
Vgl. »Wie der Edele Ritter wolt heym ziehen« (222); »Demnach wolte ich ein mahl heym ziehen« (226); »vnnd darinnen widerumb heym gefaren« (286); »vnnd segelt vber stöck vnnd vber stauden […] so lang/biß ich zuo letst heym kam« (290–292). Die »sibend Tagreyse« stellt hier einen kleinen Ausreißer dar, wird das Fortziehen nochmals betont: »Vnd wie ich nun weitter fürt zohe […]« (272). Zur Funktionalisierung der siebten Tagesetappe vgl. Kapitel VI. Geburten in diesem Aufsatz.
Vgl. etwa 79–81 sowie 99–101: »Ich zohe fürt/da begegneten mir erstlich drey gesellen […] Als die nuh hinwegkamen/da begegnet mir ein hübscher/schwacher feiner/grauwer/junger/blöder alter schöner/hurtiger Mann […]«; 112–116: »Ich gedachte/er fatzet mich/Vnnd zohe füert/verlor den weg/vnnd gieng die bane/vnnd kam in einen grossen vngeheuren dicken Wald […]«; 147–156: »Also zohe ich für/vnnd kame an ein grossen mechtigen/erschröckenlichen/tieffen/vnnd schiffreichen bach […] vnnd fuor hinüber/da fande ich einen vbergrossen/dicken/geschmeidigen/kleinen Eychbaum […]«.
So betont etwa Röcke (Anm. 12), 253: »In der ›History vnd Legend vom […] Fincken Ritter‹ wird diese Redewendung von der Kopflosigkeit wörtlich umgesetzt.«.
In Ergänzung zur Ansicht, »[i]nnerhalb der einzelnen Kapitel werden nur wenige Themen konsequent durchgehalten«, eines davon sei das Schlaraffische. So Schulz (Anm. 4), 115.
Der Fincken Ritter scheint, so unsere Vermutung, über den Körper seines Protagonisten jenen »Spielraum an der Grenze möglicher Vorstellungen und ihrer […] Darstellung« eingehend auszuloten, der laut Dieter Baake konstitutiv für die »Unsinnspoesie« ist. Vgl. Baake (Anm. 6), 356. Dieses Experimentieren mit den Mitteln der Literatur zielt, so unsere These, auf weit mehr als auf die Einladung zum »ästhetischen Genuß mittels Lüge und metaliterarischem Spiel«, wie sie etwa Kerth für den Fincken Ritter konstatiert. Vgl. dies. (Anm. 10), 433. Auch Röcke behauptet in zwei Aufsätzen, in denen er den Fincken Ritter als Repräsentanten des komischen Romans mitbehandelt, dass dieser Text Möglichkeiten durchspiele, die bislang noch nicht gesehen worden seien oder nicht haben gesehen werden können, vgl. Röcke (Anm. 12), 250; ders. (Anm. 5), 320, konkretisiert diese ›Möglichkeiten‹ aber nicht, sondern bestimmt ihre Funktion allein im Lachanlass (Vgl. ders. [Anm. 12], 258; ders. [Anm. 5], 325).
Im Anschluss an Annette Gerok-Reiter, Jörg Robert, »Reflexionsfiguren der Künste in der Vormoderne. Ansätze – Fragestellungen – Perspektiven«, in: Dies. et al. (Hrsg.), Ästhetische Reflexionsfiguren in der Vormoderne, Heidelberg 2019 (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beihefte 88), 11–33, bes. 21–23.
Für Bachtin ist eine spezifische Vorstellung von Körper die zentrale Reflexionsfigur des Grotesken: »Grundlage aller grotesken Motive ist eine besondere Vorstellung vom Körperganzen und den Grenzen dieses Ganzen. Die Grenzen zwischen Körper und Welt und zwischen verschiedenen Körpern verlaufen in der Groteske völlig anders als in klassischen oder naturalistischen Motiven.« In: Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt: Volkskultur und Gegenkultur, übersetzt von Gabriele Leupold, hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, 7. Aufl., Frankfurt a.M. 2018, 357. Zitat im Lauftext: 358.
Vgl. etwa: »name damit den weg auff die achsel/vnnd den Spieß vnder die füß« (62–63): auf den Kopf gestellt, horizontale Relation verkehrt; »gürt meinen rock zuo mir/ließ mir die vältlin auff dem rucken/vnnd Kürin inn den seiten machen« (63–65): vertikale Relation verkehrt, hinten nach vorne und vorne nach hinten gedreht.
Vgl. dazu Günter Butzer, »Pac-man und seine Freunde. Szenen aus der Geschichte der Grammatophagie«, DVjs 71 (1998), 228–244.
Vgl. zum Einfluss von tradiertem literarischen Weltwissen auf das World-Making in spätmittelalterlichen Reiseberichten Christian Kiening, »Die Erschaffung literarischer Welten im späten Mittelalter«, in: Volker Leppin (Hrsg.), Schaffen und Nachahmen, Berlin, Boston 2021 (Das Mittelalter 16), 107–124.
Neben Reiseliteratur und Ritterroman dienen insbesondere ältere Vorläufer aus der sog. Unsinnsdichtung als Motivspender. So findet sich die Idee, die Welt zu sehen, bevor einer geboren war, in einer anonymen Unsinnspredigt des 14. Jahrhunderts (»ich sach die wält gemain/ê da ziemen wird geboren«, vgl. Brunner [Anm. 2], 26, V. 26–27), zahlreiche der Verkehrungsspiele finden sich, um nur einige zu nennen, im Wachtellied (bspw. mit Fladen gedeckte und mit Würsten eingezäunte Häuser; eine Kirche aus Stroh und Leder; ein Pfaffe, der eine buchenhölzerne Messe singt), im Lied vom Backofen (bspw. ein Lahmer, der Hasen nachrennt) oder in Hans Sachs’ Schlaraffenland (»Wer geren ficht mit Leberwürstn, auß dem ein Ritter wird gemacht«, Brunner [Anm. 2], 88, V. 92–93).
Vgl. zur Motivgeschichte Jürgen von Stackelberg, »Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen ›Imitatio‹«, Romanische Forschungen 68/3 (1956), 271–293.
Ähnliches zeigt sich bei der Konfrontation mit den schadhaften Gesellen, da über die erlebte Interaktion des Protagonisten mit den drei bekannten Figuren vom Fincken Ritter ganz eigene narrative Logiken entwickelt werden (vgl. IV. Versehrung und Prothetik).
In Anlehnung an Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 8. Aufl., Göttingen 2008 (UTB Literaturwissenschaft 904), der in seiner Konzeption der Ich-Erzählung von einer »Verleiblichung des Erzählens« (127) spricht, die, wie zu zeigen sein wird, für die poetologisch bedeutsame Körperkonzeption im Fincken Ritter besonders treffend scheint, auch wenn Stanzels Konzeptualisierung insgesamt eher kritisch zu betrachten ist, verfällt sie doch scheinbar den anthropomorphen Suggestionen der zugrunde gelegten Texte. Stanzel geht von einem erzählenden »Ich mit Leib« (127) aus und deutet die Kontinuität zwischen erzähltem und erzählendem Ich bei der autofiktiven Ich-Erzählung als eine existenzielle, körperliche.
Vgl. zu solchen chirurgischen Praktiken, bei denen aus der Bauchhöhle ragende Organe mit Weintinkturen gewaschen und wieder zurückgestopft werden, exemplarisch Hermann Ryff, Die groß Chirurgei oder volkommene Wundtartzenei […], Franckfurt am Main: Christian Egenolff 1545, zu den Bauchwunden bes. cxixr ff., zum Waschen der Gedärme insb. cxxir.
Vgl. Schulz (Anm. 7), 193.
Vgl. zu der Ähnlichkeit, die zwischen den paradoxalen Inversionen im Fincken Ritter und christomimetischen Prinzipien der Text- und Figurengestaltung besteht, Benz (Anm. 14), 25–26.
Zur Historisierung des Ich-Erzählens, die die Frage beantwortet, ob es legitim ist, diese moderne Vorstellung von Identität und Einheit von erzählendem und erzähltem Ich für 1560 anzusetzen, vgl. Sonja Glauch, »Ich-Erzähler ohne Stimme Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte«, in: Harald Haferland, Matthias Meyer (Hrsg.), Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven, Berlin, Boston 2010 (Trends in Medieval Philology 19), 149–186.
Vgl. Schulz (Anm. 7), 193.
Dass Literatur als Mittel gegen Melancholie wirkt, findet sich beispielsweise in den Vorreden der in den 1550ern erschienenen Schwanksammlungen. Um nur ein Beispiel anzuführen, sei hier auf die Vorrede von Michael Lindeners Rastbüchlein verwiesen: »kurtzweilige vnd laecherliche Schwenck vnd bossen dienstlich/welche wie Hypocras schreibet/die Leber frischen/vnd das gebluet erquicken«, in: Michael Lindener, Schwankbücher: Rastbüchlein und Katzipori, hrsg. Kyra Heidemann, Bern u.a. 1991, 3 f.
In Gessners Thierbuch wird etwa beschrieben, dass die Meerkatze »begaert dem menschen alles nachzethun«. In: Conrad Gessner, Thierbuoch : das ist ein kurtze Beschreybung aller vierfüssigen Thieren, so auff der Erden und in Wassern wonend […], Zürich: Forschauer, 1583, fol. VIr. Vgl. zu möglichen Bedeutungen des Affen außerdem Hartmut Böhme, »Der Affe und die Magie in der ›Historia von D. Johann Fausten‹«, in: Werner Röcke (Hrsg.), Thomas Mann. Doktor Faustus 1947–1997, 2. Aufl., Bern u.a. 2004 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 3), 109–143, sowie Gudrun Bamberger, Poetologie im Prosaroman. Fortunatus – Wickram– Faustbuch, Würzburg 2018 (Poetik und Episteme 2), 304–305.
Vgl. die im Art. »krumm« unter 3. γ‑ δ aufgeführten Bedeutungen (»krummes Gesicht« und »krumm sehen«), in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbde., Leipzig 1854 ff., 11/V (1873), 2451–2452.
Auch Schulz (Anm. 4), 137, zieht es in Erwägung, in der so hergestellten Janusköpfigkeit eine »Metapher für die auktoriale Erzählperspektive« zu sehen. Er deutet die über den abgeschlagenen Kopf sich ausdrückende Ich-Spaltung aber zugleich in Bezug auf das »Verhältnis zwischen Autor und Erzähler-Ich«.
Vgl. diesbezüglich auch die Ausführungen über den Zusammenhang der im Text eingeführten Perspektiven sowie deren Bezug zum Erkennen, die Schulz (Anm. 4), 140–143, mit Bezug auf Claudio Guillén vornimmt. Er thematisiert allerdings weniger die in der einen spezifisch ausgestalteten Ich-Perspektive ausgeloteten Möglichkeiten als eine generelle vom Text entworfene Multiperspektivität, die sich gegen konkrete Bedeutungszuschreibungen wehre.
»Der groteske Körper ist, wie schon mehrfach betont, ein werdender. Er ist nie fertig und abgeschlossen, er ist immer im Entstehen begriffen und erzeugt selbst stets einen weiteren Körper; er verschlingt die Welt und lässt sich von ihr verschlingen […] Deshalb spielen jene seiner Teile, in denen er über sich selbst, über die eigenen Grenzen hinauswächst und einen neuen, zweiten Körper produziert, eine besondere Rolle […] In allen Ereignissen des Körperdramas sind Anfang und Ende des Lebens miteinander verflochten.« In: Bachtin (Anm. 26), 358–359.
Vgl. die Beschreibung der Nymphe Echo in Ovids Metamorphosen: »reddere de multis ut verba novissima posset« [Sie konnte nämlich von vielen Worten nur die letzten wiederholen]. In: P. Ovidius Naso, Metamorphosen, Lateinisch/Deutsch, hrsg. u. übers. v. Michael von Albrecht, Stuttgart 2017, 150 (III, 361); zum Echo in literarischen Texten siehe Sebastian Schulze, Metamorphosen des Echos. Lektüren der gehörten Stimme in Barock, Romantik und Gegenwart, Paderborn 2015; Jörg Wesche, »Echo als Reflexionsfigur des Widerrufs«, in: Gerok-Reiter et al. (Anm. 25), 487–500; Mireille Schnyder, »Echo in Musik und Text des 17. Jahrhunderts. Einführung«, in: Dies., Damaris Leimgruber (Hrsg.), Echo in Musik und Text des 17. Jahrhunderts, Zürich 2019 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 43), 7–17.
Außerdem 105–112, 121–124; kürzer und ohne Nachfrage nach dem Weg: 140–142. Röcke (Anm. 12), 250, bezeichnet diese Reden als »schiefe Dialoge«, die zwar »durchaus als Kommunikation anzusehen« seien, »diese aber zugleich auch verweiger[ten]«.
Schulz (Anm. 4), 126–127 sowie 138, liest das nicht beantwortete Fragen nach dem rechten Weg als eine Verweigerung der Kohärenz, da der Text keine Straße zu bahnen in der Lage sei.
Vgl. hier auch die Deutung der Episode, in der das Ich dem Kaplan begegnet und dessen Amen als fahet mir den missversteht (IV. Versehrung und Prothetik).
Mit dieser Stelle liefert der Fincken Ritter ein konkretes Beispiel dafür, wie die Literatur des 16. Jahrhunderts copia im Zusammenhang mit Echoeffekten reflektiert, schließlich vervielfältigt sich der initiale Ton, indem er frei über die Lande in verschiedene Dörfer schwebt, um dort einerseits kontinuierlich und auf unterschiedliche Art zu erklingen und andererseits weitere (und durchaus auch prekäre) Effekte zu zeitigen. Eine solche Verhandlung von Verfügbarkeiten hat jüngst Anita Traninger in ihrer Untersuchung der Bedeutung von copia ausgehend von einer Relektüre des antiken Narziss‑/Echo-Mythos herausgestellt. Vgl. Anita Traninger, »Echo und Kopie. Aspekte einer Mediengeschichte des Vervielfältigens«, in: Thomas Rahn, Hole Rößler (Hrsg.), Medienphantasien und Medienreflexion in der Frühen Neuzeit. FS für Jörg Jochen Berns, Wiesbaden 2018 (Wolfenbütteler Forschungen 157), 33–54, hier: bes. 40 (»Weniger als auf Verfahren identischer materialer Reproduktion verweist copia auf Verhandlungsformen von Verfügbarkeit, die in den Kontexten von Oralität und Literalität unterschiedlich inszeniert werden.«). Mit Christian Kiening wäre allerdings auf die Ambivalenz hinzuweisen, die in Ovids Erzählung die »narzisstische Medialität« – als eben durchaus prekäres Verfügen – begleitet. Vgl. Christian Kiening, »Narcissus und Echo. Medialität von Liebe und Tod«, Antike und Abendland 55/1 (2009), 80–98.
Die Ausdehnung des Fallens wird dabei beide Male sehr konkret angegeben, einmal durch eine spezifizierende Zeitangabe (»wol ein gantz viertel stund«, 251), einmal durch die Beschreibung der Wegstrecke (»von oben an/durch alle bünen/kasten/böden/stegen/vnd gemach/biß inn den hauß ehren ein/zuo aller vnderst für die Stubenthür«, 294–296).
Zur Textgeburt, dieses produktionsästhetische Modell der Fruchtbarkeit aber beziehend auf seine möglichen christologischen Diskursmuster, Benz (Anm. 14).
Vgl. Kerth (Anm. 10), 426–427, die derlei Ortsangaben als verunsichernde Rezeptionssteuerung der Rezipierenden deutet, die die Texte in ihrem Verhältnis zwischen Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Rationalität und Unsinn positionieren soll – insofern macht Kerth allein die intertextuellen Anspielungen der Ortsadverbialen geltend und stellt deren propositionalen Gehalt dahinter zurück.
In dessen Geschichtklitterung (1590) finden sich zahlreiche Anspielungen: Im Katalog der Wundergeburten wird der »Finckenritter« als »im Lautenstern« geboren aufgeführt; weiter findet sich an zentraler Stelle ein ganzes Speckkuchenlied, das den Fincken Ritter würdigt. Vgl. Johann Fischart, Geschichtklitterung (Gargantua), hrsg. Hildegard Schnabel, 2 Bde., Halle 1969, I, 200 u. 299–300.
Vgl. die Formulierung im Prosateil, die trotz konkreter Aussage dennoch auf das Gedicht verweist und das Alter so als noch nicht geklärt ausgibt: »vnnd wann mein Muoter noch ein mal bachen wirdt/so bin ich eben dreyer speckkuochen alt. Darumb wer mein alter wissen wölle/der findt es hierunden geschriben« (340–344).
Bezeichnenderweise findet sich diese zum Anfang zurückkreisende Bewegung nicht nur in den letzten Versen des Rätselgedichts. Auch die letzten Zeilen der Prosaerzählung stellen das Erzählen wieder zurück auf den Anfang, wenn das Erzähler-Ich nicht nur die Heldentaten summiert, sondern dabei auch zugleich wieder los- bzw. weiterzureisen scheint: »Hiemit ade/ich fahr daruon […]« (343).
Vgl. Jan-Dirk Müller, »Texte aus Texten: zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur, am Beispiel von Fischarts ›Ehzuchtbüchlein‹ und ›Geschichtklitterung‹«, in: Wilhelm Kühlmann, Wolfgang Neuber (Hrsg.), Intertextualität in der Frühen Neuzeit, Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, Frankfurt a.M. u.a. 1994 (Frühneuzeit-Studien 2), 63–109.
Viktor Šklovskij, »Die Kunst als Verfahren«, in: Jurij Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie der Prosa, 5. Aufl., München 1994, 3–35, hier: 15; vgl. auch die neue Perspektivierung der formalistischen Ansätze von Robert Matthias Erdbeer, »Der Text als Verfahren. Zur Funktion des textuellen Paradigmas im kulturgeschichtlichen Diskurs«, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 46/1 (2001), 77–105.
Ein sprechendes Beispiel wäre etwa der letzte Vers aus einem Spruch von Reinmar von Zweter, der die aufgereihten Unmöglichkeiten des Lügengedichts am Ende ausdrücklich auf die rhetorische Figur bezieht: ist daz wâr, sô naet ein esel hûben, in: Brunner (Anm. 2), 10, Z. 12.
Laut Ernst Robert Curtius entstand aus der Aneinanderreihung von Adynata der Topos der ›Verkehrten Welt‹, vgl. ders., Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 6. Aufl., Bern, München 1967, 104–108.
Vgl. zur Paradoxenliteratur die grundlegende Arbeit von Rosalie Littell Colie, Paradoxia Epidemica, The Renaissance Tradition of Paradox, Princeton 1967.
Sebastian Franck, Paradoxa, hrsg. Siegfried Wollgast, 2., neubearb. Aufl., Berlin 1995, zu den Gedanken über die Möglichkeit des Menschen, sich selbst wiedergebären zu können und »eine neue Geburt« (114) durchzulaufen, vgl. Paradoxon 46 (›Gott ist alles Guten ein Anfang und Ende‹), insb. 87; zur Janusköpfigkeit aller Dinge vgl. Paradoxon 57 (›Alle Dinge haben zwei Ansehen‹): »Laß dir das eine Angesicht des Janus, Gottes, das andere der Menschen sein. Was da Ja ist, ist hier Nein und umgekehrt. Es gehört ein Eindruck und eine gespaltene Klaue zu allen Dingen, sonst ist alles unrein.« (96); vgl. weiter Paradoxon 79 (›Zwei Menschen sind in einem jeden Menschen‹): »Darum ist ein jeder Mensch in sich selbst geteilt und zwei Menschen, ein äußerlicher, bildlicher und ein innerlicher, wesentlicher Mensch, das ist Geist und Fleisch, Leib und Seele. […] Jedoch mag er alle Stunden, ja Augenblicke […] ein anderer Mensch werden und sich von außen hineinkehren vom Fleisch in den Geist begeben, oder umgekehrt, von innen herauslaufen und fleischlich werden […]« (113); vgl. dazu auch Susanne Köbele, »Vom ›Schrumpfen‹ der Rede auf dem Weg zu Gott – Aporien christlicher Ästhetik (Meister Eckhart und das »Granum sinapis« – Michel Beheim – Sebastian Franck)«, Poetica, 36/1/2 (2004), 119–147; Jan-Dirk Müller, »Zur Einführung. Sebastian Franck: der Schreiber als Kompilator«, in: Ders. (Hrsg.), Sebastian Franck (1499-1542), Wiesbaden 1993, 13–38.
Sebastian Franck, Das verbüthschiert mit siben Sigeln verschlossen Buch, Augsburg 1539, Bl. bijr.
Instruktiv mit Blick auf das Imaginieren literarischer Welten über das Motiv der Reise: Kiening (Anm. 29).
Vgl. Sonja Glauch, »Keine Poetik des Widerspruchs – aber Poetiken des Paradoxen und fehlende Aufmerksamkeit gegenüber logischer Inkohärenz«, in: Elisabeth Lienert (Hrsg.), Poetiken des Widerspruchs in vormoderner Erzählliteratur, Wiesbaden 2019, 21–42.
In diesem Sinne würde sich die Frage zu vertiefen lohnen, inwiefern auch für vormoderne Erzählungen wie den Fincken Ritter die Annahme gilt, dass »[a]llen Fiktionsbildungen […] jedoch gleichermaßen ein ›Als-Ob-Charakter‹ zu eigen« sei, wie etwa Gertrud Koch und Christiane Voss betonen. Vgl. dies., »Einleitung«, in: Dies. (Hrsg.), Es ist, als ob – Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, München 2009, 7–11, hier: 8.
Schulz (Anm. 7), 189.
Wie Christoph Lumme hat zeigen können, spielt die Deutung des eigenen Körpers als Mikrokosmos in autobiographischen Erzählungen des 16. Jahrhunderts eine große Rolle. Vgl. dazu ders., Höllenfleisch und Heiligtum: der menschliche Körper im Spiegel autobiographischer Texte des 16. Jahrhunderts, Frankfurt a.M., New York 1996; vgl. zur Vorstellung von Mikro- und Makrokosmos in der Philosophie der Renaissance Thomas Leinkauf, Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600), Hamburg 2017, 128–129 u. 1489–1498; und immer noch grundlegend Allen G. Debus, Man and Nature in the Renaissance, Cambridge, New York, London 1978.
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Fuhrmann, D., Kohler, K. Text/Körper: Der Fincken Ritter (1560). Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 96, 235–266 (2022). https://doi.org/10.1007/s41245-022-00145-x
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