In Bezug auf ihr Objekt, die Literatur, sieht sich die Kritik mit zwei gegensätzlichen Versuchungen konfrontiert: Die eine will die Idee der Literatur stabilisieren und auf ihr Wesentliches reduzieren, um ihr zu huldigen, eine Gemeinschaft von »Literaten« zu bilden oder schlicht ihr mediales oder akademisches Territorium besser verteidigen zu können; die andere zielt darauf ab, ihren Reichtum und ihre Pluralität im Verlauf der Weltkulturgeschichte aufzuzeigen, was auf die Betonung ihrer Diversität und kontextuellen Spezifizität hinausläuft. Wer den Sirenen der Vergötterung widersteht (deren Gegenstück notwendigerweise die Angst vor dem »Tod der Literatur«Footnote 1 ist), stellt zwangsläufig fest, dass der Begriff der Literatur kein unveränderliches Konzept ist, sondern ein Produktionsfeld mit einem historisch und kulturell variablen Territorium. Wie auch immer versucht wird, ihn zu vereinheitlichen, sei es aus Sicht der philosophischen Ontologie, der Kulturanthropologie oder auch der kognitivistischen Naturalisierung – im Zeitalter der Weltliteratur deckt dieser Begriff eine Vielzahl von Praktiken ab, die mit dem Wort Literatur oder dessen Übersetzungen nichts zu tun haben und alle im 19. Jahrhundert entstanden sind: Von den Vidas der Troubadoure bis zu den Stücken von Marivaux, von den chinesischen Chuci der Han-Zeit bis zum Sundiata Keita des Malireichs, vom akkadischen Gilgamesch-Epos bis zu den lateinischen Epen, von den Tragödien des Sophokles bis zu den Fanfictions auf Wattpad wurde Literatur ohne Literatur geschrieben. Es ist nicht verwunderlich, dass Paul Aron und Alain Viala im Titel ihres Dictionnaire du Litteraire auf das Wort littérature verzichteten,Footnote 2 dessen missverständliche Verwendung Florence Dupont in ihrer Schrift L’Invention de la littérature anprangert: »Homer oder Plautus als literarische Texte zu sehen, ist streng genommen eine Erfindung, ein reines Märchen.« Für Florence Dupont gibt es »Literatur nur dort, wo im Erwartungshorizont eine literarische Institution« und »ein sozialer Vertrag«Footnote 3 existieren, die besondere hermeneutische Modalitäten vorschreiben; die griechischen und lateinischen Werke könne man daher nicht als »Vorliteratur« in einem teleologischen Schema betrachten, sondern müsse im Gegenteil ihre »begründende Andersartigkeit« und die Notwendigkeit einer »anthropologischen Kritik«Footnote 4 verteidigen.

Es spricht nichts dagegen, Äquivalente dafür zu finden, wobei der Begriff der Literatur im engeren Sinne exakt auf den Beginn des 19. Jahrhunderts datiert wird, in Verbindung mit einer vom deutschen Idealismus durchwirkten Romantik. Wie in meinem Essay L’idée de littérature aufgezeigt,Footnote 5 ersetzt der Begriff rasch das Vokabular der belles lettres, indem er sich von den wissenschaftlichen, historischen oder auch journalistischen Schriften abgrenzt, die bisher das Feld der Lyrik und Romane überlagern. Gemäß einer unmittelbar kantischen, von Benjamin Constant und Madame de Staël in Frankreich eingeführten Doktrin ist Literatur eine intransitive, interesselose und autonome Praxis, die nicht auf Moral oder Wissen abzielt, sondern auf die Schönheit ihres Mediums, der Sprache. Diese Autonomie wird durch zwei Schlüsselkonzepte geprägt: das organizistische Konzept des Schönen und die ästhetische Interesselosigkeit. Die Idee vom Wohlgefallen an der Form und von der Einheit des Kunstwerks existiert bereits in der Antike, doch die moderne, organizistische Auffassung des Schönen wird im 18. Jahrhundert von Karl Philipp Moritz theoretisiert, der von der Autonomie des Schönen spricht, vom Selbstzweck der Schönheit. Die Idee der ästhetischen Interesselosigkeit, geprägt von Lord Shaftesbury, wird in England weiterentwickelt und später von Archibald Alison, Verfasser der Essays on the Nature and Principles of Taste (1790), formuliert: Er deklariert die ästhetische Wahrnehmung, das freie Vergnügen der Vorstellungskraft und inneren Empfindung, zu einer eigenen, frei ausgeübten Haltung und befreit den Künstler von der Gebundenheit an heteronome Kategorien; Jerome Stolnitz bezeichnet dies als »kopernikanische Wende«.Footnote 6 Dieser philosophischen Entwicklung entspringen die kantischen Ideen des interesselosen Wohlgefallens und der Schönheit als Selbstzweck. Parallel dazu propagiert der Jenaer Kreis um die Schlegel-Brüder die Autotelie der poetischen Sprache; anstelle der transparenten Darstellung der Welt soll der Ausdruck subjektiver Empfindungen im Vordergrund stehen. Der Roman gilt als das Genre, mit dem sich die Einheit des Seins verwirklichen lässt. Dieses Konzept der Literatur unterscheidet sich radikal von der jahrhundertealten Vorstellung, dass Literatur die Welt darstellen oder erklären müsse, indem sie eine Wahrheit oder ein Modell produziere. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer Spezialisierung der Berufe und zur Entstehung eines eigenen Marktes für schriftstellerische Werke: Nicht nur das literarische Feld verselbstständigt sich als eigener Werteraum, auch diejenigen, die Literatur produzieren – die Schriftsteller –, organisieren sich in spezifischen sozialen Räumen, die sich nach Pierre Bourdieu allmählich vom sozio-politischen Spiel abkoppeln und das, was sie an wirtschaftlicher Macht verlieren, wieder in symbolischen Wert investieren.Footnote 7 In diesem Kontext bildet sich die von Terry Eagleton so bezeichnete »ästhetische Ideologie« der Literatur,Footnote 8 die untrennbar mit dem liberalen Individualismus und der bürgerlichen Möglichkeit des kontemplativen Genusses verbunden ist. Die ebenfalls im 19. Jahrhundert entstehende Kunstreligion ist lediglich eine radikalisierte Version dieser Ideologie; sie schreibt der Kunst und der Literatur einen höheren metaphysischen Stellenwert sowie die Fähigkeit zu, sämtliche Dimensionen der individuellen Existenz aufzugreifen und ihnen allumfassend und ausschließlich Sinn zu verleihen. Damit einher geht eine Auffassung von Literatur als Ausübung einer spezifischen Funktion der Sprache und eines bewussten Bruchs mit der Referenz, anders ausgedrückt, mit der Welt: Ebenso wenig wie das Ich des Künstlers mit dem persönlichen Ich übereinstimmt, wie Proust in seiner Essaysammlung Contre Sainte-Beuve anmerkt, deckt sich die Literatur mit der Welt; vielmehr ist sie ihr eigenes Referenzuniversum. Literatur ist eine Kunst der erzählerischen Überraschung und der Einzigartigkeit der Textform oder des Stils, oft reich an Ironie, Zitaten, Selbstreferenzen, Spielereien und Metasprache, doch auch vom Dogma der Originalität um jeden Preis beherrscht, was den Zugang des Lesens erschweren kann. In diesem Paradigma stellt Qualität das Gegenteil von Quantität dar: Ein großer Schriftsteller ist ein Schriftsteller, der sich nicht verkauft, und die Literatur sieht sich gewissermaßen der Versuchung des Schweigens ausgesetzt.

Diese Konzepte bilden den Ursprung der modernen Kunst und entfalten bis heute eine enorme Wirkung: Im Namen der Interesselosigkeit, der organischen Qualität und des elitären Anspruchs von Literatur wird etwa die Verleihung des Literaturnobelpreises 2016 an Bob Dylan beanstandet, dessen populäre und unprätentiöse Werke zu schlicht und zu erfolgreich scheinen, um der Literatur anzugehören. Die Relativierung der Kriterien Intransitivität, Interesselosigkeit und Autotelie ist allerdings unerlässlich, um zeitgenössische literarische Werke in ihrer Vielfalt (Drama, digitale Literatur, Fiction, Krimi, Augenzeugenbericht, Non-Fiction usw.) zu lesen und den zeitgenössischen Richtungswechsel hin zu einer analysierenden, warnenden und intervenierenden Literatur zu verstehen. Ein solcher Richtungswechsel ist nicht nur im englischsprachigen »postironischen« Roman (David Forster Wallace, Jonathan Franzen, Jonathan Safran Foer, Zadie Smith usw.), sondern auch in der französischsprachigen Gegenwartsliteratur zu erkennen. In zahlreichen Werken von Annie Ernaux über Michel Houellebecq, Virginie Despentes, Maylis de Kerangal und Karine Tuil bis Camille Laurens werden zeitgenössische soziale Probleme beschrieben (Geschlechter- und Klassenverhältnisse, politische Fragen, ökologische Herausforderungen, Nachwirkungen der historischen Tragödien von Kriegen und Kolonialisierung) oder im Kontext des ultraliberalen Hyperindividualismus persönliche Themen wie Krankheit, Trauer oder Liebesbeziehungen neu formuliert. Erklären und reparieren,Footnote 9 beschreiben und verbinden, handeln und Gerechtigkeit schaffen – so lauten die Devisen von Schriftstellern, die nicht nur zum Verständnis der historischen Vergangenheit und der sozialen Gegenwart, sondern auch zur politischen Gestaltung der Zukunft im Kontext des Anthropozäns beitragen wollen.

Diese Literatur ist realistisch; sie setzt sich mit der Welt und der Notwendigkeit ihrer Hinterfragung auseinander, sie ist auf die Zukunft und auf die Veränderung der Gesellschaft ausgerichtet, und sie stellt nicht länger die Frage der Autonomie, sondern im Gegenteil die Frage der Beziehung in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Durch Empathie Zugang zu anderen zu finden, wieder in Verbindung zu kommen, Gemeinschaften zu schaffen, die Distanz zu überbrücken, die der Mensch zur Umwelt und zu anderen Lebewesen aufgebaut hat: Es ist eine veritable Politik der Beziehung, die die Literatur in einer Zeit verspricht, in der die fließende individualistische und von Konkurrenzdenken geprägte Einsamkeit die gesellschaftliche Norm darstellt. In einem pragmatischen philosophischen Klima, in welchem die Fiktion, wie schon von den Philosophen des spekulativen Realismus, als Teil des Realen und sogar als Akteurin betrachtet wird, die in das Reale eingreift – sowohl in den Raum der Darstellungen und Symbole als auch in die soziale Sphäre, in die Interaktionen zwischen Individuen und sogar auf körperlicher Ebene –, drängt es sich geradezu auf, die Literatur als eine aktive Form aufzufassen. In holistischen, vom Druck politischer, moralischer und religiöser Sinnsysteme geprägten Gesellschaften war die Autonomie der Literatur zweifellos wichtig; sie war Teil des Strebens nach Emanzipation des Subjekts und Teil eines spezifischen westlichen Kulturkonstrukts, des liberalen Individualismus. Angesichts der Totalitarismen, für die alles politisch war, boten die Autonomie der Literatur und ihre ästhetische Diskrepanz einen wertvollen Schutzraum. Doch in einer säkularisierten Gesellschaft, die das Individuum zur Autonomie drängt, zur eigenständigen Entwicklung und Veränderung, und die dabei den Verlust der Bindungen des Individuums in Kauf nimmt, bietet sich die Literatur im Gegenteil als Beziehung und als Ressource für das Funktionieren der Gesellschaft an. Ganz gleich, ob es darum geht, sich selbst wiederzufinden, indem man die innere Suche nach einer narrativen Identität im Sinne von Paul Ricœur begleitet, oder darum, eine Beziehung zum Autor herzustellen, etwa im Rahmen einer Begegnung oder eines Austausches, oder darum, Gemeinschaften von Lesern oder Amateurschriftstellern zu schaffen, oder darum, den Schriftsteller zu demjenigen zu machen, der in Seminaren oder Autorenresidenzen soziale Bindungen wiederherstellt, oder darum, die bürgerliche Bindung zu reinvestieren, um eine politische Funktion der Literatur zu verteidigen – hier kann durchaus von einer relationalen Wende gesprochen werden. Diese Wende wird im Übrigen von einer Kritik verzeichnet, für die nicht der Autor und der Text im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr der einzelne Leser und die sehr konkrete Frage der Rezeption und der Wirkungen der Literatur, ein zentrales Thema der zeitgenössischen Kritik.

In dieser neuen empirischen Herrschaft gewinnt die Wirkung eines Werks an Wichtigkeit und die Bedeutung von Originalität und formalen Anforderungen tritt zurück, was eine Aufwertung der Populär- und Genreliteratur und deren Einbeziehung in die akademische Lehre und Forschung nach sich zieht. In dieser neuen Herrschaft, die mit der Ausweitung der literarischen Medien, der Vermischung fiktionaler Welten, der digitalen Wende in der Schriftstellerei, performativen Praktiken, Schreibformen jenseits des Buches und der Kombination verschiedener Kunstformen einhergeht, wird das moderne Kunstregime, das auf dem Papierbuch und dem abgeschlossenen Werk als einzigem Modell fußt, auf den Kopf gestellt. Das gesamte Wertesystem um die Literatur herum wird verändert: Der Autor ist kein inspirierter Auserwählter mehr, er kann jedermann sein und er tritt in Interaktion mit seinen Lesern, die zwischen den Zeilen weiterschreiben. In einem Kontext mit zahlreichen Schreibratgebern und Schreibwerkstätten verliert die Berufung ihren Stellenwert gegenüber der Arbeit. Das Werk an sich ist kein geschlossener Raum mehr, sondern steht der sozialen Welt offen, etwa eine Reportage oder Untersuchung im narrativen Journalismus von Florence Aubenas oder Emmanuel Carrère, und führt im demokratischen Raum zu Debatten und Diskussionen, etwa die Erzählungen und Romane des MeToo-Moments von Karine Tuil bis Vanessa Springora, die an der Suche nach Gerechtigkeit teilhaben wollen.

Verstärkt werden diese Veränderungen durch Phänomene im Zusammenhang mit digitaler Literatur (multimediale Schreibweisen, Offenheit gegenüber hypertextuellen und interaktiven Verfahren) und dem Austausch zwischen Literatur und zeitgenössischer Kunst, bei dem das Buch zu einem beliebigen Element in einem Dispositiv gemacht wird (so in der Arbeit von Sophie Calle oder Valérie Mréjen), sowie durch Phänomene der Übertragung oder Kombination von imaginären Welten unter Nutzung verschiedener Medienkanäle; hier sei an den Aufschwung der fotografischen Literatur (»photolittérature«) erinnert. Wo hört die Erzählung auf, und wo fangen die Bilder und Kommentare an? Wo endet das Lesen, und wo beginnt das Schreiben im Strudel der digitalen Erkundungen, wenn sich die Ökonomie der Aufmerksamkeit an das ungezügelte Verlangen anpasst, Fiktionen zu konsumieren und zu erschaffen? Wie soll mit kollektiven Werken umgegangen werden, die in der Literatur erst erscheinen, nachdem sie bereits die zeitgenössische Kunst geprägt haben? Wie sollen transmediale Werke behandelt werden? Welches beschreibende Vokabular soll zur Anwendung kommen, wenn der Begriff des Schönen oder Erhabenen im Verhältnis zur Dichte und Genauigkeit der beschreibenden und erzählenden Arbeit zweitrangig wird? All diese Fragen verändern die Methoden der Kritik und bringen die traditionellen Institutionen der Literatur (Preise, Akademien, Kritiker, Bildungseinrichtungen) ins Wanken.

Annie Ernaux, die auf die klassische Stiltradition verzichtet, erschafft nicht zuletzt auf der Grundlage soziologischen und politischen Wissens eine Chronik ihrer Generation und ergänzt diese durch Dokumentationen und Selbstdokumentationen. Ihr Werk ist Ausdruck eines Verständnisses von Literatur, die sich weigert, sich der konventionellen literarischen Zeichen zu bedienen: Bei Annie Ernaux fehlt die elitäre Position des Schriftstellers ebenso wie das Romaneske oder der schriftstellerische Effekt; stattdessen findet sich eine deskriptive Aufmerksamkeit, die der Ethnologie und der soziohistorischen Untersuchung entlehnt ist und in ihrem Realismus selbst die trivialsten Aspekte des Alltags einbezieht.

Durch das vielfältige neue Engagement der zeitgenössischen Literatur zugunsten des demokratischen Lebens wird die autotelische Definition von Literatur zerschlagen, und das auf Fortschrittstheorien basierende Metanarrativ, welches den Modernismus als »Gipfel« betrachtet, ist ebenso unhaltbar geworden wie die Idee, die Literaturgeschichte klar von der Sozialgeschichte zu trennen. Die Formen und Werte der modernen westlichen Literatur werden durch die globale Perspektive kontextualisiert und bereichert. Mit ihrer aufmerksamen Betrachtung des Lebensalltags wagt sich die Literatur über die traditionellen Genrekategorien hinaus und bricht mit dem von Derrida bereits angeprangerten »Textzentrismus«; Derrida hatte seine Kritik auf das Buch bezogen, doch da die digitale Wende mit einer enormen Begeisterung der Öffentlichkeit für die »Amateur«-Schriftstellerei einhergeht, gehört es zu den Aufgaben der Forschung, sich damit ebenfalls zu beschäftigen.

In seinem Essay Adieu à l’esthétique fordert Jean-Marie Schaeffer gar den Abschied von der Ästhetik. Er führt aus, dass »die Abgrenzung des Begriffs ›Kunstwerk‹ unabhängig von der ästhetischen Problematik ist« und dass »die Geschichte und Anthropologie des künstlerischen Schaffens nicht auf die der Produktion von Artefakten für die ästhetische Rezeption reduziert werden können«,Footnote 10 wobei die ästhetische Rezeption als eine Form von Aufmerksamkeit definiert sei, die sich nicht auf das pragmatische Interesse eines Objekts, sondern auf seine Eigenschaften beziehe;Footnote 11 das Kunstwerk könne somit als Dispositiv der Repräsentation und Symbolisierung verstanden werden, das wirke, indem es unsere Aufmerksamkeit auf neue Objekte lenke und unser Vokabular und damit unsere Wahrnehmungsrahmen verändere.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Hinweis auf diesen Willen, in das Reale einzugreifen, findet sich bei Alice Zeniter – die mit ihrem Roman L’Art de perdre Finalistin für den Prix Goncourt war – in ihrem Essay Je suis une fille sans histoire über die Macht der Literatur; sie vertritt darin die These, dass der Roman dazu diene, den Gemeinschaften unterstützende Narrative anzubieten:

Mit L’Art de perdre kam mir vor einigen Jahren die Idee, eine nahezu unbekannte Geschichte von Algerien und Frankreich zu erzählen, die zum Teil auch die Geschichte meiner Familie und insofern meine eigene war. Ich dachte, dass ich durch die Erschaffung von Figuren wie Ali, Hamid oder Yema die bereits vorhandene Bedeutung des Wortes Harki in den Köpfen der Leserinnen und Leser ändern könnte. In jenem Moment hatte ich das Gefühl, am richtigen Platz zu sein, ich konnte förmlich vor mir sehen, wie ich zwischen den verschiedenen Subwelten Brücken baute.Footnote 12

Eine zeitgenössische Literatur, die also nicht als Universum für sich, sondern als Werkzeug zur Transformation der Welt, als Handlungsinstrument verstanden wird, zwingt der Kritik einen pragmatischen und praxeologischen Ansatz auf. Die Formen der Aktion und Performanz, die einen Teil des zeitgenössischen literarischen Schaffens einnehmen, knüpfen an das alte Kommunikationsregime und politische Regime der rhetorischen Aktion an; die Überschneidungen mit der journalistischen Untersuchung und der wissenschaftlichen Arbeit zeugen vom dringenden Bedarf nach einer erklärenden Literatur; die Überschneidungen der Literatur mit neuen Medien und die Schwierigkeit, im digitalen Regime zwischen Amateuren und großen Schriftstellern, Autoren und Lesern, Werken und kollektiven Produktionen, Texten und Text-Äußerem (»hors-texte«) Grenzen zu ziehen, sind ein Beweis dafür, dass sich die Literatur von ihrem traditionellen ästhetischen, im Medium Buch und in solipsistischen Praktiken verankerten Verständnis entfernt. Diese Abkehr von der ästhetischen Ideologie führt zu einer Erneuerung von Studienobjekten und Analysemethoden und zu einer offenen Haltung gegenüber neuen Formen von Interdisziplinarität, die die Spezifität der literarischen Künste hinterfragen. Auf akademischer Ebene rückt diese Transformation die Literaturwissenschaft von der Linguistik ab und bringt sie in die Nähe anderer disziplinärer Paradigmen, darunter die Kognitionswissenschaft und die Anthropologie. Dass die zeitgenössische Literatur sich selbst mit den Sozialwissenschaften vermischt (bei Annie Ernaux mit der Soziologie, bei Richard Powers mit den Neurowissenschaften, bei Patrick Modiano mit der Geschichtswissenschaft, bei Ursula K. Le Guin mit der Anthropologie), zeigt deutlich, dass die Methoden des literarischen Schreibens und der Fiktion mit den Erkenntnismethoden der Sozialwissenschaften verbunden werden, um die Komplexität zeitgenössischer Problematiken zu bewältigen.

Angesichts einer solchen Erneuerung der Anthropologie der Literatur mag es befremdlich erscheinen, die Bedeutung des im 19. Jahrhundert entstandenen »literarischen Moments der Literatur«, der bis heute als Referenz dient und unsere Fantasie beflügelt, zu relativieren. In unserer Vorstellung ist die Literatur seit jeher mit Begriffen wie dem Absoluten, Ewigkeit und Heldentum verbunden. Schriftsteller werden immer noch wie Heilige verehrt, ihre Werke sind von einer Aura umgeben. Doch die Merkmale, die die Literatur von anderen Formen des Diskurses und des Wissens abgrenzen, werden in Frage gestellt: Die Unterscheidung zwischen dem realen und dem fiktiven Autor, den großen Schriftstellern und den Amateurautoren (Roland Barthes sprach von »Schriftstellern« und »Schreibern«), dem literarischen Wissen und dem Wissen der Philosophie und Sozialwissenschaften, den literarischen Mitteln und den Mitteln anderer Medien, der von der Literatur erzeugten Bedeutung und der aufgrund von Erfahrung gemachten Bedeutung, der internen Logik der Literatur und der sozialen Nachfrage der Subjekte, den spezifisch literarischen Fragen und den gewöhnlichen Fragen, der formalen und der existenziellen Originalität, der Ästhetik und der gemeinsamen Moral, der literarischen Botschaft und der Kommunikation – all diese Unterscheidungen lösen sich auf, wenn die Grenzen zwischen literarischem Sachbuch und Journalismus, Lyrik und Performance, geisteswissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen oder Serien und Romanen sich verschieben. Anstatt von der Entstehung einer »Nicht-Literatur« zu sprechen,Footnote 13 die sich unserer Begriffsmatrix radikal entzieht, wäre es vielleicht besser zu bedenken, dass das Projekt der ästhetischen Autonomie möglicherweise nur eine Klammer ist und die Fokussierung auf die spezifische poetische Funktion der literarischen Sprache lediglich eine theoretische Kurzsichtigkeit: Auf lange Sicht ist die Literatur ein Dispositiv der kognitiven und affektiven Vermittlung in der Sprache und durch die Sprache, in ihrer doppelten Dimension der Repräsentation und Aktion, der Arbeit an der Gegenwart, der Konstruktion der Vergangenheit und der Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft. Eines steht vermutlich fest: Die zeitgenössische Macht, die die Literatur nun wieder über Gemüter und Gemeinschaften erlangt hat, ist untrennbar mit ihrer Neudefinition und dem daraus resultierenden Ende alter Gewissheiten verbunden.