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Starke und schwache Autonomie – eine hilfreiche Unterscheidung für die Vorbeugung von Unter- und Überbehandlung

Strong and weak autonomy: a helpful differentiation for the prevention of under- and overtreatment

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Ethik in der Medizin Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Eine patientengerechte Versorgung ist ein hohes Ziel. Unangemessene Behandlung wie Unter- oder Überversorgung zu erkennen und zu vermeiden, stellt Ärztinnen/Ärzte und Pflegende am Krankenbett vor schwierige Entscheidungen. Hier ist die Entwicklung von praxistauglichen Orientierungshilfen angezeigt, die wissenschaftlichen Kriterien genügen und nicht allein auf Konsens beruhen. Die vorliegende Arbeit versucht, zentrale Normen zur Vermeidung von Über- und Unterversorgung zu formulieren und theoretisch zu fundieren. Dafür wird auf Basis einer Interessen-basierten Ethik eine Graduierung der Autonomie vorgenommen, indem zwischen schwacher und starker Autonomie unterschieden wird.

Abstract

Definition of the problem Patient-oriented care is a worthy goal. The recognition and avoidance of inadequate treatment, e.g., under-, or over-treatment, often results in doctors and nurses at the bedside being faced with making difficult decisions. The development of practical guidance that meets scientific criteria and is not solely based on consensus is highly desirable. Arguments The presented work attempts to formulate key standards to prevent over- and undertreatment and to confirm them theoretically. For this, a grading of autonomy is made by distinguishing between weak and strong autonomy, based on an interest-based ethics approach. Conclusions Interest-based ethics supports the view that orientation on strong autonomous decision making offers an optimal chance to promote well-being and may thereby help prevent a large proportion of under- and overtreatment.

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Notes

  1. Abkürzung für Modular, Ethik, Therapieentscheidung, Allokation, Prozess.

  2. Wir unterscheiden selbstbewusste Interessen von Erfahrungsinteressen, bei denen im Gegensatz zu ersteren nur Lust- und Schmerzgefühle, aber kein Selbstbewusstsein mehr vorliegt.

  3. Im Beispielfall wurde der Patient gleichwohl operiert und war hinterher sehr dankbar dafür.

  4. Gerät starke Autonomie in Probleme, wenn krankhafte Persönlichkeitsstörungen vorliegen und die Einbettung eines Wunsches in eine pathologische Persönlichkeitsstruktur gegeben ist? Dies muss verneint werden, weil zur starken Autonomie die Freiheit von kontrollierenden Zwängen gehört, die auch innerer Natur sein können.

  5. Dieser Umstand findet in METAP u. a. dadurch Ausdruck, dass zum einen darauf aufmerksam gemacht wird, dass „[m]anche Patienten […] ihre Autonomie eher im Sinne von Behandlungszielen (‚Welches Ziel soll am Ende der Behandlung erreicht sein?‘) als im Sinne spezifischer Behandlungswünsche (‚Welche konkrete Therapie soll begonnen werden?‘) [artikulieren] […]“ ([2], S. 89). Zum anderen wird auf die Möglichkeit „stiller Entscheidungen“ hingewiesen: „Ein Verzicht auf die explizite Befragung des Patienten […] lässt sich bis zu einem gewissen Grad mit Bezug auf eine dem klinischen Team bekannte (!) personale Autonomie rechtfertigen, wenn die getroffenen Entscheidungen mit den Behandlungszielen und Überzeugungen […] des informierten Patienten übereinstimmen“ ([2], S. 92).

  6. Die Kompetenz zu urteilen ist als Mindestbedingung jeder informierten Zustimmung zu fordern (vgl. [4], S. 120).

  7. Siehe auch METAP: „Eigenverantwortlich ausgeübte Selbstbestimmung hat Vorrang gegenüber der professionellen Fürsorgepflicht. Dies gilt auch, wenn die Entscheidung des Patienten unvernünftig erscheint […], also dem wohlverstandenen Interesse des Patienten zu widersprechen scheint […]“ ([2], S. 182).

  8. Dies wird in METAP u. a. durch die Auffassung, Autonomiefähigkeit als Prozess zu verstehen, zum Ausdruck gebracht: „Die Möglichkeit, Autonomie auszuüben, entwickelt sich in konkreten Handlungssituationen oft erst durch einen Prozess des Fragens, Mitteilens, Zuhörens und Nachfragens […]“ ([2], S. 90).

  9. Dies wird in METAP u. a. dadurch zum Ausdruck gebracht, dass „ […] nicht impliziert [ist], dass den Wünschen des Patienten […] stets entsprochen werden müsste. Ein Wunsch eines Patienten kann ethisch problematisch sein […], rechtlich nicht erlaubt oder auf etwas Unmögliches gerichtet sein. […] Der Respekt vor der Patientenautonomie darf nicht in ein unkritisches Akzeptieren jedweder Entscheidung des Patienten führen“ ([2], S. 93).

  10. Durch die neue gesetzliche Regelung für Patientenverfügungen in Deutschland, welche das Selbstbestimmungsrecht des Patienten erheblich aufgewertet hat, steht jedoch der „antizipative Wille […] dem aktuellen Willen gleich“ ([34], S. 116), d. h. die Befolgung des Willens in einer Patientenverfügung scheint nun in Deutschland rechtlich geboten – wenngleich „nicht einfach unreflektiert oder quasi mechanisch“ ([34], S. 116), da eine Auslegung der Willensbekundungen oft unumgänglich ist.

  11. In METAP unter „Handeln im wohlverstandenen Interesse des Patienten“ zu finden: „Ist zur Lebensrettung oder zur Abwehr schwerer Folgeschäden die unaufschiebbare Behandlung nötig, […], soll im wohlverstandenen Interesse des Patienten gehandelt werden […]. […] Hier handelt der Arzt nach dem Grundsatz ‚In dubio pro vita‘ […]“ ([2], S. 197).

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Gesang, B., Mertz, M., Meyer-Zehnder, B. et al. Starke und schwache Autonomie – eine hilfreiche Unterscheidung für die Vorbeugung von Unter- und Überbehandlung. Ethik Med 25, 329–341 (2013). https://doi.org/10.1007/s00481-012-0226-4

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