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Publicly Available Published by De Gruyter (A) March 8, 2019

Skeptizismus und negative Theologie

Endlichkeit als transformative Erfahrung

  • Rico Gutschmidt EMAIL logo

Abstract

Scepticism and negative theology are best understood not as theoretical positions, but rather as forms of philosophical practice that performatively undermine our knowledge claims or our seeming understanding of God. In particular, I am arguing that both scepticism and negative theology invoke the failure of the attempt to understand the absolute, be it God or the notion of absolute objectivity. However, with reference to L. A. Paul’s notion of epistemically transformative experience, I am arguing that we still understand something about the absolute through the experience of failing to think it. This, of course, is a non-propositional form of understanding, and I am arguing that there is something about the finitude of the human condition that can only be understood through a transformative philosophical experience with respect to the absolute.

Eine von vielen Strategien, mit der Herausforderung des Skeptizismus umzugehen, besteht darin, ihn als ein Scheinproblem zu entlarven. Demnach sind skeptische Positionen in sich widersprüchlich und können nicht logisch kohärent vertreten werden; das Problem des Skeptizismus erweist sich als eine Illusion und löst sich als unsinnig auf. [1] Dagegen lässt sich einwenden, dass der Skeptizismus gar keine kohärente Position beziehen muss und stattdessen als eine Praxis verstanden werden kann, die sogar bewusst mit Paradoxien arbeitet. Im Gegensatz zur gegenwärtigen Dominanz einer theoretischen Lesart ist diese praktische Auffassung des Skeptizismus historisch gesehen sogar von weit größerer Bedeutung. Sie geht zurück auf die antike Schule des Pyrrhonismus und findet sich im 20. Jahrhundert bei Autoren wie Ludwig Wittgenstein und Stanley Cavell. [2] Der Skeptizismus ist, so verstanden, eine philosophische Praxis, die zu einem neuen Selbst- und Weltverhältnis führt, indem man nach skeptischen Irritationen auf eine neue Weise zur Alltagswelt zurückkehrt. Man enthält sich des Urteils in philosophischen Fragen (Pyrrhonismus), bringt diese zur Ruhe (Wittgenstein) oder findet nach einem skeptischen Durchgang zu einem neuen Modus der Anerkennung der Welt und der Anderen (Cavell). Dieser Ansatz hat allerdings das notorische Problem, nicht klar zu machen, worin genau die neue Sicht auf die Welt besteht, da man, zumindest auf der Oberfläche, einfach dorthin zurückzukehren scheint, wo man ohne den Umweg des Skeptizismus ohnehin schon war. Damit brächte die skeptische Praxis keine neue Einsicht und unterschiede sich kaum von der Entlarvung des Skeptizismus als Scheinproblem. In beiden Fällen könnte man als philosophischen Fortschritt lediglich die Einsicht verbuchen, von skeptischen Problemen verwirrt gewesen zu sein, die sich entweder auflösen oder die man auf anderen Wegen hinter sich lässt. Sonst bleibt alles wie vorher, weshalb man nicht ganz zu Unrecht von einer Form des Quietismus spricht. [3]

Gegen diese quietistische Lesart skeptischer Praxis möchte ich im Folgenden zeigen, dass sie zu einer besonderen Einsicht in die Endlichkeit der menschlichen Situation führen kann, wobei ich vor allem den epistemischen Status dieser Einsicht diskutieren werde. Es handelt sich nicht um eine Erkenntnis, die sich logisch kohärent in Form einer philosophischen Position formulieren ließe, sondern eher um eine Weise des Verstehens, die mit einer Erfahrung des scheiternden Denkens und einer daraus erwachsenen neuen Haltung verbunden ist. Diese Form des Verstehens werde ich anhand der Tradition der negativen Theologie diskutieren, die es mit einem ganz ähnlichen Problem zu tun hat. Die Behauptung nämlich, Gott sei unserer Erkenntnis prinzipiell entzogen und existiere in einem buchstäblichen Sinne nicht einmal, hat als theoretische Aussage ebenfalls ein Kohärenzproblem und scheint sich aufzulösen; der entsprechende Vorwurf des Atheismus wurde besonders prominent von Ludwig Feuerbach formuliert. [4] Allerdings kann man die via negativa wie den Skeptizismus als eine Praxis verstehen, die im Vollzug des scheiternden Denkens eine besondere Einsicht ermöglicht, die sich nicht theoretisch formulieren oder überhaupt sagen lässt. Unter dem Begriff der epistemisch transformativen Erfahrung werde ich diese Form des Verstehens von der negativen Theologie auf das Problem des Skeptizismus übertragen und damit zeigen, dass es sich in beiden Fällen um Formen transformativer Praxis handelt, die solche Erfahrungen hervorrufen und damit zu einer Einsicht in die Endlichkeit der menschlichen Situation führen können.

1 Die Undenkbarkeit des Absoluten

Das zentrale Problem des modernen Skeptizismus besteht im Wesentlichen darin, dass wir unsere Überzeugungen nicht von einem absoluten Standpunkt aus überprüfen können: Die Dinge könnten ,in Wirklichkeit‘ anders liegen, als wir denken, was sämtliches Wissen als letztlich ungesichert in Frage stellt. Antiskeptische Strategien versuchen entweder zu zeigen, dass man doch einen absoluten Standpunkt einnehmen kann, oder dass man auch ohne einen solchen Standpunkt sinnvoll von sicherem Wissen sprechen kann, etwa durch zuverlässige Prüfverfahren oder durch Einschränkung auf spezielle Kontexte. Als eine weitere Variante des zweiten Vorgehens lassen sich Argumente verstehen, nach denen mit dem Konzept des absoluten Standpunkts etwas nicht stimmt, womit sich die skeptische Herausforderung als ein Scheinproblem abweisen ließe.

Ein solches Argument findet sich zum Beispiel bei Thomas Nagel, der den Gedanken des absoluten Standpunkts bzw. die Vorstellung einer absoluten Objektivität [5] mit der Metapher des Blicks von nirgendwo auf den Begriff bringt, um diese dann zu dekonstruieren. Um absolut objektiv zu sein, müsste dieser Blick nämlich auch sich selbst im Blick haben, was laut Nagel nicht möglich ist. [6] Für den Begriff der absoluten Objektivität bedeutet dies, dass er sich „auf natürliche Weise in Gestalt eines Bildes [Blick von nirgendwo] ausdrücken läßt, das allerdings unverständlich wird, wenn man der Gefahr erliegt, es für bare Münze zu nehmen.“ [7] Bemerkenswerterweise hält Nagel in seinem Buch am Streben nach Objektivität fest, obwohl er aufgrund seiner begrifflichen Analyse einräumt, dass gar nicht klar ist, was damit gemeint ist: „Der Gedanke der Objektivität untergräbt sich offenbar auf diese Weise selbst.“ [8] Ein ähnliches Argument findet sich bei John McDowell, der das Problem eines objektiven Standpunkts unter dem Begriff des Sideways-on View diskutiert, womit eine Perspektive gemeint ist, die unsere Tätigkeiten und Lebensformen von außen in den Blick nimmt. [9] McDowell bezeichnet diese Perspektive als ein Bild, dem kein tatsächlicher Inhalt entspricht. Etwas genauer behauptet er, dass wir dieses Bild nur deshalb meinen zu verstehen, weil wir fälschlicherweise annehmen, eine solche Perspektive einnehmen zu können. [10] Stattdessen ist für McDowell die mit dem Bild des Sideways-on View verbundene Vorstellung einer absoluten Objektivität illusorisch. [11] Er verweist dabei auf Wittgenstein, von dem die therapeutischen und resoluten Lesarten ganz analog behaupten, er entlarve zum Beispiel einen Blick von außen auf unsere Sprachpraxis als Illusion. [12] Schließlich zeigt Thompson Clarke in seinem zwar etwas kryptischen, aber sehr einflussreichen Aufsatz über das ,Vermächtnis des Skeptizismus‘, [13] dass die skeptische Forderung nach einem absoluten Standpunkt inkonsistent ist. So macht er geltend, dass in dem skeptischen Szenario eines täuschenden Dämons auch dieser Dämon getäuscht sein könnte. Damit eröffnet er einen Regress der Außenperspektiven, der umgekehrt bedeutet, dass kein Außenstehender jemals unsere Situation absichern kann, da es auch für diesen ein weiteres Außen gäbe und er sich somit, in den Worten Clarkes, im selben Boot befände wie wir. [14]

Derartige Überlegungen lösen den Skeptizismus und seine Szenarien natürlich nicht unmittelbar auf. So macht etwa Barry Stroud gegen Clarke geltend, dass das skeptische Szenario des täuschenden Dämons auch dann bestehen bleibt, wenn der Dämon wiederum getäuscht wird. [15] Sie werfen aber doch ein neues Licht auf den Skeptizismus, indem sie zeigen, dass das Problem der skeptischen Forderung nach einer absoluten Absicherung unseres Wissens nicht darin besteht, dass sie unerfüllbar wäre, sondern darin, nicht einmal konsistent denkbar zu sein: Die räumliche Metapher des absoluten Standpunkts kann nicht buchstäblich verstanden werden. Damit wirkt der Skeptizismus letztlich doch wie ein Scheinproblem, was zu der quietistischen Folgerung Anlass gibt, das Streben nach absoluter Sicherheit auf sich beruhen zu lassen.

Ein ähnliches Problem mit dem Absoluten findet sich nun auch in der negativen Theologie. Momente negativer Theologie gibt es in fast allen religiösen Traditionen, im Kern handelt es sich aber um ein philosophisches Problem, das mit Rekurs vor allem auf Platons Parmenides-Dialog im Neuplatonismus zur vollen Blüte gebracht wurde. Über den Proklos-Schüler Pseudo-Dionysios Areopagita gelangte es ins Christentum und wurde dort unter anderem von Meister Eckhart und Nikolaus Cusanus weiter entfaltet. [16] Hinter der negativen Theologie bzw. genauer der negativen Henologie des Neuplatonismus steckt ein genuin metaphysisches Projekt, das sich mit Jens Halfwassen als ein Denken charakterisieren lässt, dem es um das Ganze dessen geht, was überhaupt ist und gedacht werden kann. [17] Insbesondere wird nach dem Grund bzw. Ursprung dieses Ganzen gefragt, der schließlich, unbedingt und absolut gedacht, als das Eine bezeichnet wird. [18] Ganz ähnlich wie der absolute Standpunkt des Skeptizismus ist das Eine als absoluter Grund aber sprachlich nicht konsistent erfassbar. Insbesondere sagt die Sprache ihrer Struktur nach immer etwas über etwas aus, was als duale Struktur das Eine in seiner absoluten Einfachheit verfehlen würde. [19] So lässt sich nicht einmal sagen, dass es ist, und es kann sprachlich nur in Metaphern und uneigentlichen Analogien thematisiert werden. [20] Aber selbst diese metaphorischen Beschreibungen werden, wie es Nagel für das Bild des Blicks von nirgendwo durchführt, wieder destruiert und als inkonsistent zurückgenommen, es sind Metaphern, die sich selbst unterlaufen. [21] Karl Jaspers beschreibt die metaphorische Annäherung an das Eine bei Plotin als „ein ständiges Sagen und Widerrufen“ [22], und Halfwassen bezeichnet Plotins Vorgehen als eine radikale negative Dialektik, [23] die Proklos schließlich so weit führt, dass auch das Negieren negiert wird. [24] Der Versuch, einen absoluten Grund von Allem zu denken, führt offenbar in Widersprüche und Paradoxien, die schließlich sogar als die einzig angemessene Weise gelten, diesen Grund zu denken. [25] Bei Kant heißt es lapidar dazu, „daß das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne“ [26], und wie beim absoluten Standpunkt des Skeptizismus stellt sich auch beim absoluten Grund der Metaphysik die Frage, was von einem solchen inkonsistenten und in diesem Sinne scheiternden Denken zu halten ist, und ob es sich bei der Frage nach einem letzten und absoluten Grund überhaupt um ein sinnvolles Problem handelt. Wie beim absoluten Standpunkt des Blicks von nirgendwo scheint auch die Rede von einem absoluten Grund sinnlos zu sein, was Jaspers mit Blick auf Plotin wie folgt auf den Punkt bringt: „Wenn man den sich überschlagenden und schließlich in nichts sich auflösenden Gedanken folgt, so kann man meinen, es sei, weil gegenstandslos, darum auch sinnlos und leeres Gerede.“ [27]

Diesen Verdacht weist Jaspers allerdings prompt zurück, und in der Tat verstehen sich die negative Henologie des Neuplatonismus und die Momente negativer Theologie in den verschiedenen religiösen Traditionen als eine besondere Praxis, die mit Mitteln wie sich selbst unterlaufenden Metaphern, Paradoxien, negativer Dialektik oder dem Negieren des Negierens zu einer Annäherung an das Absolute in einem Modus des Verstehens des Nichtverstehens führen soll. Überträgt man diesen Anspruch eines Verstehens im scheiternden Denken auf die skeptische Praxis mit ihrer paradoxalen Forderung nach einem absoluten Standpunkt, könnte sich auch in diesem Fall eine Form des Verstehens ergeben, die über das bloße Auflösen des Problems hinausweist.

2 Verstehen des Nichtverstehens: Transformative Erfahrung

Bei einer solchen Form des Verstehens kann es sich offenbar nicht um theoretisch formulierbare Aussagen handeln. Wenn man hier überhaupt von einem Verstehen sprechen kann, muss es stattdessen mit der Praxis und der Erfahrung des Denkens verknüpft sein. Auch dies wird treffend von Karl Jaspers beschrieben, wenn er über die negative Theologie des Kusaners festhält, sie liefere „nicht Ergebnisse, die man als Wissensbesitz haben kann, sondern Gedankengänge, die man vollziehen, Denkerfahrungen, die man wiederholen muß“. [28] Bei diesen Denkerfahrungen handelt es sich genauer um das Scheitern im Denken des Absoluten, was dieses Denken aber nicht sinnlos macht, sondern im Gegenteil als ein sinnvolles Scheitern zu verstehen ist, wie es Jaspers mit Blick auf die negative Dialektik Plotins betont. [29] Dieser Vorgang des sinnvollen Scheiterns im Denken lässt sich dabei wie das Absolute, an dem das Denken scheitert, nur annähernd und metaphorisch beschreiben. Plotin verwendet etwa die räumliche Metapher des Über-Denkens, [30] laut der das Denken in seinem Scheitern nicht einfach aufhört, sondern sich selbst überschreitet bzw. übersteigt, was sowohl für das Denken im Widerspruch und in der Paradoxie im Vollzug der negativen Dialektik Plotins gilt [31] als auch für das Negieren des Negierens bei Proklos. [32] Die Erfahrung dieses sich selbst übersteigenden Denkens wird außerdem mit visuellen Metaphern wie der des geistigen Sehens oder der intellektuellen Schau beschrieben. [33] Wie bei der Beschreibung des Absoluten werden aber auch die Metaphern zur Beschreibung von dessen Erfahrung nur aufgestellt, um wieder destruiert zu werden. So sieht man bei diesem Sehen nicht irgendein Etwas, [34] sondern es lässt sich laut Plotin bei dieser Schau nicht mehr zwischen einem Schauenden und einem Geschauten unterscheiden, [35] womit die Metapher von der Schau des Einen streng genommen wieder zurückgezogen wird. Als ein weiterer Schritt in der negativen Dialektik der Metaphern wird stattdessen von einer Einung gesprochen, [36] bei der Schauen und Geschautes eins wird, [37] was Plotin schließlich lichtmetaphorisch so beschreibt, dass das Licht des Schauens mit dem Licht des Geschauten Einen verschmilzt. [38] Diese Einung mit dem Einen (Henosis) wird, vor allem über Pseudo-Dionysios Areopagita, auch zum Vorbild für die mystische Schau Gottes im Christentum, die ebenfalls nicht als ein buchstäbliches Schauen verstanden, sondern als Einung (unio mystica) beschrieben und in Lichtmetaphern dargestellt wird. [39]

Der Weg vom Überstieg des Denkens zur Einung mit dem Absoluten führt nun aber nicht zu einem positiven Verständnis dieses Absoluten. Vielmehr bleibt es selbst in der plotinschen Henosis paradoxal entzogen. Entsprechend beschreibt Plotin die mystische Schau als ein „Erwachen, von dem das Erwachte nicht verschieden ist, das ewig Erwachen ist“, [40] es handelt sich also um die Erfahrung eines Übergangs, der nie aufhört und kein abschließendes Ende findet. Der Weg beginnt beim Scheitern des Denkens und endet in der mystischen Schau mit einer Einsicht, die das Absolute paradoxal nur insofern versteht, als sie es nicht versteht, womit es sich letztlich wieder um ein scheiterndes Denken handelt. Darin sind sich die wesentlichen Protagonisten der negativen Theologie einig: Laut Plotin sieht man das Eine dadurch, dass man es nicht sieht; [41] auch Dionysios spricht von einem Sehen gerade im Nichtsehen, was er lichtmetaphorisch als überhelles Dunkel beschreibt; [42] und Cusanus bringt diesen Aspekt schließlich mit seinem Konzept des wissenden Nichtwissens (docta ignorantia) auf den Punkt, [43] das für eine scheiternde Gotteserkenntnis steht, bei der es sich letztlich ebenfalls um ein Sehen durch Nichtsehen handelt. [44]

Die auf diese Weise metaphorisch und paradoxal beschriebene Form des Verstehens ist nun offenbar nicht diskursiv oder propositional verfasst. Dass man hier dennoch von einem Verstehen sprechen kann, zeigen die zahlreichen Ansätze eines nicht-propositionalen Verstehens in der philosophischen Tradition. [45] So unterscheiden etwa Platon und Aristoteles zwischen diskursivem dianoetischen und nichtsprachlichem und eher intuitivem noetischen Denken. [46] Der deutsche Idealismus verwendete für ein solches erfahrungsmäßiges Verstehen den Begriff der intellektuellen Anschauung, [47] Heidegger analysiert das Verhältnis von Verstehen und Stimmung, [48] und die noch junge Richtung der Phänomenologie kognitiver Erfahrungen bestätigt die starke Rolle der Erfahrung für das Verstehen. [49] Nicht zuletzt werden nicht-theoretische Weisen des philosophischen Verstehens in der aktuellen Strömung der performativen Philosophie untersucht, [50] wobei unter dem Begriff der performance apophatics sogar explizit auf die Tradition der negativen Theologie zurückgegriffen wird. [51] Bei allen Unterschieden im Detail zeigen diese Ansätze, dass es Formen ästhetischen, affektiven bzw. allgemein erlebnishaften Verstehens gibt, die zwar nicht propositional verfasst sind, aber dennoch sprachlich, etwa durch Metaphern und Paradoxien, hervorgerufen werden können.

Diese Formen des Verstehens aus einer Erfahrung heraus lassen sich besonders gut mit dem Begriff der ,transformativen Erfahrung‘ auf den Punkt bringen, wie er im Anschluss an Laurie Pauls wegweisendes Buch in der Entscheidungstheorie diskutiert wird. [52] Mit diesem Begriff bezeichnet Paul Lebenserfahrungen, die unser Selbst- und Weltverhältnis so verändern, dass wir nicht wissen können, wie diese Veränderung für uns sein wird, ohne die entsprechende Erfahrung gemacht zu haben. Als Beispiel führt sie unter anderem die Erfahrungen an, Kinder zu bekommen, eine Arztkarriere zu beginnen oder als Soldat in einem Krieg zu kämpfen. Aus der Perspektive der Entscheidungstheorie führen solche Erfahrungen zu der Frage, wie man sich in Fällen, in denen sich das Ergebnis einer Entscheidung nicht vollständig antizipieren und daher nicht vorher bewerten lässt, rational verhalten kann. [53] Ein besonderer Aspekt dieses Problems besteht laut Paul darin, dass solche transformativen Erfahrungen nicht nur persönlich, sondern auch epistemisch transformativ sind. Mit Bezug auf Thomas Nagels klassischen Aufsatz „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ und die Gedankenexperimente von Frank Jackson argumentiert sie, dass die Erfahrung einer völlig neuen Lebensweise oder etwa die Erfahrung, zum ersten Mal eine Farbe zu sehen oder Musik zu hören, insofern epistemisch transformativ ist, als man den Gehalt dieser Erfahrungen nicht nachvollziehen kann, ohne sie gemacht zu haben. [54]

Im Sinne dieses sehr allgemeinen Ansatzes eines auf Erfahrung beruhenden Verstehens lässt sich nun auch die Erfahrung des scheiternden Denkens in der negativen Theologie als epistemisch transformativ verstehen. So kann das Verstehen des Nichtverstehens des Absoluten nur aus dieser Erfahrung heraus nachvollzogen werden und stellt insofern eine transformative Erfahrung gemäß Laurie Paul dar, als sie die ganze Existenz betrifft, wie es zum Beispiel Kurt Flasch mit Blick auf die Erfahrung des wissenden Nichtwissens bei Cusanus hervorhebt. [55] Überhaupt gehört die Philosophie des Neuplatonismus zu den antiken Schulen, die laut Pierre Hadot mit dem ganzen Leben verbunden sind, [56] was insbesondere für das Denken des Einen gilt. [57] Während Paul sehr viele Arten von Erfahrung im Blick hat, geht es bei den Erfahrungen der negativen Theologie ganz speziell um eine Erfahrung im Denken, die also unmittelbar das Verstehen betrifft und somit auf eine sehr direkte Weise epistemisch transformativ ist. So betont Halfwassen, dass es sich etwa bei Plotin nicht um „schwärmerische Gefühlserlebnisse“, „Trancezustände“ oder „rauschhafte Erlebnisse“ handelt, sondern um ein „intellektuelles Erlebnis“. [58] Ebenso hebt Flasch mit Blick auf Cusanus hervor, dass das wissende Nichtwissen nicht die Aufgabe des Intellekts zugunsten des Affekts bedeutet, sondern für eine denkende Erfahrung steht, die eng mit dem Intellekt verbunden ist. [59] Bereits damit lässt sich argumentieren, dass die Erfahrung des scheiternden Denkens trotz des Scheiterns und trotz der Unsagbarkeit dieser Erfahrung epistemisch relevant ist. Auch mit den oben genannten Konzepten der philosophischen Tradition von der Noesis bis zur performativen Philosophie kann gezeigt werden, dass die verschiedenen Formen des scheiternden Denkens ein nicht-propositionales, erlebnishaftes Verstehen ermöglichen. Das Konzept der epistemisch transformativen Erfahrung macht dies aber auf eine besonders eingängige Weise plausibel. Ohne auf schwer greifbare geistige Zustände zu referieren, beschreibt es ganz allgemein, dass Erfahrungen epistemisch relevant sein können, womit selbst der Grenzfall des Über-Denkens erfasst wird, das als hypernoêsis laut Plotin auch noch das noetische Denken übersteigt. [60] Überhaupt bringt dieses allgemeine Konzept die sehr verschiedenen Erfahrungsformen der langen Tradition der negativen Theologie und auch die unterschiedlichen konzeptionellen Beschreibungen des jeweiligen Verstehens auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner und hat überdies den Vorteil, die besondere Form des Verstehens in der negativen Theologie zu anderen Bereichen fruchtbar ins Verhältnis setzen zu können.

So lässt sich mit dem Begriff der epistemisch transformativen Erfahrung zeigen, dass das scheiternde Denken der skeptischen Praxis zu einer dem wissenden Nichtwissen analogen Einsicht führen kann. Insbesondere kann man so gegen die Position des Quietismus argumentieren, laut der sich etwa durch die pyrrhonische Urteilsenthaltung der Epoché die Probleme vollständig auflösen und man zwar Ruhe findet, aber über die Einsicht in die vorherige philosophische Verwirrung hinaus keine neue Erkenntnis gewinnt. Alles wäre wie vorher, womit hier keine epistemisch transformative Erfahrung vorliegen würde, sondern lediglich die Auflösung einer temporären Irritation. Die Quellenlage dazu ist freilich sehr schmal, weshalb hier letztlich offenbleiben muss, ob die pyrrhonische Skepsis quietistisch zu verstehen ist oder nicht. Gegen eine quietistische Lesart spricht aber, dass es sich bei der Seelenruhe der Ataraxia, wie sie Sextus Empiricus beschreibt, um eine Transformation im Sinne Pauls handeln dürfte, zumal Hadot geltend macht, dass sie einen zumindest spirituellen Fortschritt mit sich bringt. [61] Überhaupt weist der Pyrrhonismus eine starke Nähe zum indischen Buddhismus auf, [62] von dem er möglicherweise auch beeinflusst war. [63] Die pyrrhonische Skepsis hat damit eine starke existenzielle Dimension und kann in diesem Sinne durchaus zu epistemisch transformativen Erfahrungen Anlass geben, und zwar unabhängig davon, ob dies von Sextus intendiert war oder nicht.

Eine solche existenzielle Dimension findet sich auch in der modernen Skepsis, für die etwa Cavell geltend macht, dass sie zu einer neuen Haltung führe, was im dritten Abschnitt genauer erläutert wird. Zunächst betont sie aber vor allem den Moment der Verstörung, der auch in der pyrrhonischen Skepsis als philosophische Verwirrung auf dem Weg zur Seelenruhe liegt, der aber in der modernen Skepsis mit ihrem scheiternden Ausgriff auf einen absoluten Standpunkt zu tiefen existenziellen Erschütterungen zu führen scheint. So weist etwa Blaise Pascal die pyrrhonische Reaktion auf die skeptische Verunsicherung explizit zurück, da diese keine Seelenruhe, sondern Verzweiflung hervorrufe, [64] und David Hume beschreibt in seinem Treatise recht eindrücklich die existenzielle Krise, in die ihn der Skeptizismus gestürzt habe. [65] Wenn Hume angesichts dieser skeptischen Erfahrung die Studierstube verlässt und mit seinen Freunden Karten spielt, lässt sich dieser Schritt zwar als eine pyrrhonische Rückkehr zur Alltagspraxis verstehen, zumal er dort über die skeptischen Probleme lachen kann, [66] wirkt aber doch eher wie eine Verdrängung des Problems und nicht wie die Seelenruhe der Pyrrhoniker. Im 20. Jahrhundert finden sich Hinweise auf diesen verstörenden Aspekt des Skeptizismus zum Beispiel bei Saul Kripke, der in seinem Wittgenstein-Buch von einem „gespenstischen Gefühl“ berichtet, das ihn überkommt, wenn er sich ganz auf das Regelfolgenparadox einlässt. [67] Laut Cavell lässt die Verunsicherung des Skeptizismus das Gewöhnliche unheimlich erscheinen [68] und er beschreibt die skeptische Einsicht in die Grundlosigkeit unserer Lebensformen als erschreckend. [69] Daran anknüpfend beschreibt John McDowell dieselbe Einsicht als schwindelerregend, [70] was an Descartes erinnert, der zu Beginn seiner zweiten Meditation festhält, er fühle sich aufgrund seiner skeptischen Überlegungen in der ersten Meditation, als wäre er „in einen tiefen Strudel hineingezogen worden“. [71] Nicht zuletzt weist Duncan Pritchard zwar mit Bezug auf die wittgensteinschen Angelsätze den Skeptizismus als theoretische Position zurück, da wir, grob und vereinfacht gesagt, innerhalb unserer Lebensformen keine Absicherung von einem externen Standpunkt aus benötigten, räumt aber dennoch unter dem Stichwort der epistemic vertigo ein, dass die Vorstellung der entsprechenden Grundlosigkeit Schwindelgefühle hervorrufen könne. [72]

Diese existenziellen Reaktionen gehen zwar von verschiedenen skeptischen Problemen aus, lassen sich aber aufgrund der Weite des Begriffs sämtlich als transformative Erfahrungen einordnen. Wenn Cavell etwa unter dem Schlagwort der Unheimlichkeit des Gewöhnlichen darlegt, dass die Welt nach einem skeptischen Durchgang nicht mehr dieselbe ist, [73] geht es offenbar um eine solche Transformation. Die Position des Quietismus könnte an dieser Stelle einwenden, dass die skeptischen Schwindelgefühle fehlgeleiteten Fragen geschuldet sind, um die man sich vergeblich im Kreis dreht. Dagegen lässt sich nun aber mit Blick auf die negative Theologie argumentieren, dass es sich durchaus um eine Form des Verstehens handeln kann, in der man nicht das Absolute des Einen oder Gottes im Nichtverstehen versteht, sondern die im ersten Teil diskutierte Undenkbarkeit eines absoluten Standpunkts auf eine Weise erfährt, die sich im Rahmen des Konzepts der epistemisch transformativen Erfahrung ebenfalls als ein Verstehen des Nichtverstehens auffassen lässt. Wie die Tradition der negativen Theologie darauf besteht, dass man im scheiternden Denken in Bezug auf das Absolute etwas versteht, kann man im Fall der Undenkbarkeit des absoluten Standpunkts geltend machen, dass sie das skeptische Problem nicht auflöst, sondern zu einer besonderen Einsicht in die menschliche Situation führt. Damit rühren die skeptischen Schwindelgefühle von einem zwar nur erfahrungsmäßig erfassbaren, aber doch echten Abgrund, und stehen als epistemisch transformative Erfahrung für eine Form des Verstehens, mit der die skeptische Praxis selbst und gerade dann, wenn sie paradoxal wird, mehr bedeutet als die quietistische Auflösung einer philosophischen Verwirrung.

3 Transformative Praxis der Endlichkeit

Was aber genau in der nicht-propositional verfassten Einsicht in die Undenkbarkeit des absoluten Standpunkts verstanden wird, kann hier natürlich nicht einfach mitgeteilt werden. Es handelt sich jedenfalls weder um eine Auflösung der skeptischen Problematik noch um eine Bestätigung der skeptischen Position, nach der wir kein Wissen haben können. Diese Einsicht bedeutet vielmehr, dass wir uns auf eine ganz grundsätzliche Weise anders verstehen müssen. Hume spricht von der wunderlichen Lage des Menschen, der sich über die Grundlagen seiner Annahmen und Handlungen keine Rechenschaft geben kann. [74] Über Hume hinaus besteht die wunderliche Lage des Menschen sogar darin, dass eine Grundlegung unserer Überzeugungen von einem absoluten Standpunkt aus nicht nur nicht möglich, sondern dass ein solcher Standpunkt nicht einmal denkbar ist. Diese Einsicht löst das Problem der wunderlichen Lage nicht auf, sondern macht sie noch wunderlicher, da sie nicht einmal mehr propositional beschrieben werden kann. Man könnte zwar auf die Grundlosigkeit unserer Lebensformen verweisen, von der oben kurz die Rede war, oder von der epistemischen Begrenztheit des Menschen sprechen. Diese Redeweisen beruhen aber auf den räumlichen Metaphern des Grundes oder der Grenze, die nicht buchstäblich verstanden werden können, da hier ein Grund ebenso wenig denkbar ist wie ein Jenseits der Grenze. Alternativ könnte man von der Endlichkeit der menschlichen Situation sprechen, aber auch diese Redeweise ist letztlich unverständlich, da sie, wie die Rede von Grund und Grenze, auf die Unendlichkeit des absoluten Standpunkts bezogen bleibt, der sich aber nicht denken lässt. Wie die negative Theologie das Absolute nur erfahrungsmäßig mit Metaphern und Paradoxien vergegenwärtigen kann, kann die skeptische Praxis die Endlichkeit des Menschen mit sprachlichen Mitteln zwar erfahrbar machen, aber nicht propositional erfassen.

Dennoch handelt es sich um ein echtes philosophisches Problem, was zum Beispiel Thompson Clarke betont. Wie im ersten Abschnitt kurz erwähnt, zeigt Clarke über den Regress der Außenperspektiven die Inkonsistenz der skeptischen Forderung nach einem absoluten Standpunkt auf. Dies erledigt für ihn zwar den Skeptizismus als theoretische Position, führt aber zu dem „new, challenging problem“, [75] wie wir uns als endliche Wesen zu verstehen haben, ja was es angesichts der Undenkbarkeit eines absoluten Standpunkts überhaupt bedeutet, endlich zu sein. In diesem „problem of the plain“ [76] liegt für Clarke das Vermächtnis des Skeptizismus, das sich aber nach der hier vertretenen Lesart der skeptischen Praxis auf einer propositionalen Ebene nicht lösen lässt. Was es bedeutet, endlich zu sein, kann demnach nur aus einer epistemisch transformativen Erfahrung heraus eingesehen werden. In diesem Sinne lässt sich etwa Stanley Cavells Umgang mit dem Skeptizismus verstehen. Cavell bezieht eine Position zwischen Auflösung und Bestätigung des Skeptizismus, die er als ,Wahrheit des Skeptizismus‘ bezeichnet. [77] Laut dieser Wahrheit findet man nach einem skeptischen Durchgang auf eine neue Weise zur Welt zurück, und zwar in einer Haltung des Vertrauens, in der das Verhältnis zur Welt und zu den Anderen keine Relation des Wissens ist, sondern auf Akzeptanz bzw. Anerkennung beruht. [78] Dies wird genauer so beschrieben, dass wir unser Verhältnis zur Welt und den Anderen nicht theoretisch absichern können und stattdessen aufeinander und in unsere Lebensformen eingestimmt sind. [79]

Diese Haltung der Anerkennung und des Eingestimmtseins lässt sich als das Ergebnis einer skeptischen Transformation verstehen, wobei sich die Einsicht in die menschliche Situation, die sich in dieser Haltung zeigt, nur im Vollzug dieser Transformation erschließt. Damit handelt es sich zwar einerseits um einen Lösungsvorschlag für Clarkes neues Problem, der aber andererseits keine theoretische Lösung bietet, sondern auf eine persönlich und epistemisch transformative Erfahrung verweist.

Das alte skeptische Problem des absoluten Standpunkts fordert daher offenbar neue Formen des Philosophierens, in denen die Inhalte des Denkens mit dessen Vollzug verknüpft sind. Es lässt sich nicht theoretisch lösen und ist stattdessen als Ausgangspunkt einer transformativen philosophischen Praxis des scheiternden Denkens zu verstehen, das überdies aufgrund seines Scheiterns zu keinem Abschluss kommt, sondern wie Plotins Henosis ewiger Übergang bleibt. Dennoch wird in der Erfahrung dieses Übergangs etwas verstanden, was mit dem Begriff der Endlichkeit nur angedeutet werden kann. Die Idee einer solchen transformativen philosophischen Praxis, in der theoretische Überlegungen mit ihrem praktischen Vollzug verbunden sind, kann als Herausforderung an die aktuellen Entwicklungen der performativen Philosophie herangetragen werden, findet sich aber bereits in der Tradition, und zwar insbesondere in Skeptizismus und negativer Theologie. So sind die im zweiten Teil kurz diskutierten Strukturen eines erfahrungsmäßigen Verstehens nach wie vor von höchster philosophischer Relevanz, da sich die Endlichkeit der menschlichen Situation nur mit einem solchen Verstehen erfassen lässt.

Für dieses Verstehen zwischen Theorie und Praxis gilt ganz allgemein, dass dianoetisches und noetisches Denken ohnehin aufeinander bezogen sind und ein entsprechendes Komplementärverhältnis bilden. [80] So macht etwa Halfwassen darauf aufmerksam, dass Plotin nicht nur auf die Erfahrung des Einen verweist, sondern ebenso darauf besteht, „die Einsicht in die absolute Transzendenz des Absoluten argumentativ zu begründen“. [81] Ganz analog ist die praktische Transformation der pyrrhonischen Ataraxia mit theoretischen Argumenten verbunden, die Sextus Empiricus detailliert darstellt. In beiden Fällen gilt es, die jeweiligen theoretischen Überlegungen in einer Praxis des Denkens nachzuvollziehen, wobei man letztlich zu einem scheiternden Denken angeleitet wird. Entsprechend werden keine abschließenden theoretischen Systeme ausgearbeitet, sondern Formen des Philosophierens entwickelt, die einen solchen scheiternden Nachvollzug herausfordern. Dazu gehören zum Beispiel die im ersten Teil genannten Strategien der sich selbst unterlaufenden Metaphern, der Paradoxien, der negativen Dialektik oder des Negierens des Negierens. Überhaupt stellen die Texte des Neuplatonismus ganz überwiegend keine theoretischen Abhandlungen dar, [82] sondern eher Meditationsanleitungen, die außerdem Mittel wie Symbole, Mythen und rituelle Formeln einsetzen. [83] Plotin etwa hat kein theoretisches System aufgestellt, [84] sondern eine Sammlung ganz verschiedener Textformen hinterlassen, unter denen sich Vorlesungsmanuskripte, Vortragsreihen, Meditationen, Notizen und Skizzen ebenso finden wie dialogische Schriften, die zum Teil den Leser direkt ansprechen und offenbar zum persönlichen Nachvollzug gedacht sind. [85] Ganz analog hat Cusanus kein scholastisches System vorgelegt; [86] seine Schriften bilden stattdessen „eine lockere Folge von Abhandlungen, Dialogen, Briefen, Predigten“, [87] bei denen es ebenfalls auf den Nachvollzug ankommt, mit dem man zum wissenden Nichtwissen geführt werden soll. [88] Auf der anderen Seite findet sich auch in den Arbeiten von Sextus Empiricus kein theoretisches System. Es handelt sich eher um Handbücher mit zahlreichen skeptischen Methoden, die wie verschiedene Therapien bei verschiedenen philosophischen Krankheiten einzusetzen sind, wie er selbst hervorhebt. [89] Darüber hinaus ist seine ganze Methode paradoxal verfasst, da er Argumente verwendet, die sich explizit selbst aufheben, sobald sie ihren Zweck erfüllt und zur Seelenruhe der Ataraxia geführt haben, [90] womit die theoretischen Überlegungen in ganz besonderer Weise mit ihrem scheiternden Vollzug verbunden sind. Als ein solches paradoxales Argument lässt sich schließlich auch der Verweis auf die Undenkbarkeit des absoluten Standpunkts verstehen. Dieses Argument bezieht zwar keine kohärente Position, kann aber in seinem scheiternden Nachvollzug zu einer epistemisch transformativen Erfahrung führen. Nicht zuletzt kann Wittgensteins Philosophie als eine philosophische Praxis verstanden werden, die kein System bildet und keine skeptische Position vertritt, sondern eine philosophische Praxis darstellt, [91] die existenzielle Erfahrungen hervorruft [92] und unser Selbst- und Weltverhältnis grundlegend hinterfragt, was sich als eine Form skeptischer Praxis verstehen lässt. [93]

Die Traditionen des Skeptizismus und der negativen Theologie stellen damit Formen transformativer philosophischer Praxis bereit, die in ihrem vollen Potential erst noch auszuschöpfen sind. Letztlich richtet sich die negative Theologie wie der Skeptizismus gegen den Absolutheitsanspruch der menschlichen Vernunft, womit sich abschließend sagen lässt, dass man in beiden Fällen im scheiternden Ausgriff auf das Absolute die Endlichkeit der menschlichen Situation versteht, in der wir uns zwar immer schon befinden, die uns aber theoretisch entzogen ist und die sich nur in epistemisch transformativen Erfahrungen des scheiternden Denkens bewusstmachen lässt. Dies wird sehr treffend von Karl Jaspers auf den Punkt gebracht, wenn er über die transformative Praxis des Kusaners festhält: „Es ist die im Denken methodisch erwachsende dialektische Verwirrung, das Schwindligwerden, in dem sich zeigt, was eigentlich ist, das ,Zu Hause‘ gespürt wird.“ [94] Über die hier aufgezeigten strukturellen Ähnlichkeiten von Skeptizismus und negativer Theologie hinaus möchte ich daher mit der Behauptung schließen, dass in beiden Fällen die Endlichkeit der menschlichen Situation angesichts der Undenkbarkeit des Absoluten vergegenwärtigt wird, und zwar in persönlichen und epistemischen Transformationen, in denen Erfahrung und Einsicht miteinander verschränkt sind. [95]

Literatur

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Published Online: 2019-03-08
Published in Print: 2019-03-05

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 5.6.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/dzph-2019-0002/html
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