Einführung

Die Medizinethik ist ein facettenreiches wissenschaftliches Fachgebiet. Zu dem Wissen in diesem Gebiet tragen Forscher:innen bei, die Kenntnisse, Forschungsansätze und -methoden aus verschiedenen Disziplinen, u. a. den Geistes- und Sozialwissenschaften zur Anwendung bringen (Sugarman und Sulmasy 2010). Forschungsaktivitäten beinhalten systematische Überlegungen, welche Geltung und Konkretisierung Normen in einer bestimmten Handlungssituation haben sollen, welche Merkmale eine Handlungssituation charakterisieren oder welches moralische Handeln aus ethischer Sicht (nicht) zu empfehlen ist. Empirische Medizinethik bezeichnet einen Forschungsansatz, der auf einer integrierten Kombination von sozialwissenschaftlicher und philosophisch-ethischer Forschung basiert (Musschenga 2009). Prozesse und Ergebnisse empirischer Forschung in der Medizinethik sollen ähnliche Standards und Gütekriterien erfüllen, wie sie in den Ausgangsdisziplinen für diese Methoden etabliert sind (Hurst 2010).

Empirisch-ethisches Arbeiten setzt Forschungskompetenzen voraus, die in der universitären Medizinethik-Lehre bisher nur selten gefördert werden. Was die Förderung solcher Kompetenzen erschwert ist, dass Medizinethik zu den kleinen Fächern gehört. In der Humanmedizin ist das Fach in Deutschland zudem an die Trias von Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin gebunden und in der Pflichtlehre an strenge Vorgaben (u. a. durch Approbationsordnung, Fakultätscurriculum und Maßnahmen zur Homogenisierung des Lehrangebots) angepasst. Perspektivisch beinhalten die aktuellen Reformen des Medizinstudiums in Deutschland zur Orientierung des Studiengangs am Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM) Potenziale für eine Stärkung der Förderung wissenschaftlicher Kompetenzen, an denen sich auch die Medizinethik beteiligen könnte (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2017; Bundesministerium für Gesundheit 2020). Darüber hinaus können Dozierende an medizinethischen Lehrstühlen interdisziplinäre Kurse entwickeln oder in anderen Fächern tätig werden. Dabei ist nicht nur die Zahnmedizin ein wichtiges Fach, in dem (zumindest in Deutschland) nun auch ein Unterricht im Querschnittsfach Geschichte und Ethik der Medizin curricular verankert ist. Einige Medizinische Fakultäten bieten außerdem weitere Studiengänge (z. B. Public Health) oder mit anderen Fakultäten Querschnittsausbildungen (z. B. Medizin/Ethik/Recht) an, in denen Berührungspunkte mit der Medizinethik oder der Public-Health-Ethik entstehen können.

Was bisher punktuell verfügbar sein dürfte, ist eine Ausbildung in soziwalwissenschaftlichen Forschungsmethoden oder die Vermittlung philosophischer Arbeitsweisen (z. B. die KonzeptanalyseFootnote 1 oder die Spezifizierung von Normen für konkrete Anwendungsfälle). Was bisher weitgehend fehlt, sind Konzepte und Angebote, in denen Studierende noch vor einer Promotionsarbeit die Praxis integrierten empirisch-ethischen Forschens kennenlernen können. Diese Lücke zu schließen, hätte Vorteile für die spätere Realisierung von Promotionsarbeiten: Solche Kompetenzen könnten Promovierenden zu einer größeren Selbständigkeit der Bearbeitung ihrer Projekte verhelfen.

Konzepte des Forschenden Lernens bieten hier große Potenziale (Huber 2014; Huber und Reinmann 2019). Forschendes Lernen ähnelt Konzepten des problemorientierten bzw. -basierten Lernens (PBL), die in Form von fallbasierten Diskursformaten in der Ethik-Lehre im Medizinstudium schon seit langem eingesetzt werden (Souza und Vaswani 2020; Tysinger et al. 1997; Parker 1995). Es handelt sich auch um ein aktives Lernformat, das durch selbstgesteuerte, interdisziplinäre Tätigkeiten in Kleingruppen vollzogen wird. Der Anspruch von Forschendem Lernen ist allerdings weitreichender. Es sollen Erkenntnisse generiert werden, die für andere von Interesse sein können und die sich an wissenschaftlichen Gütekriterien messen lassen müssen. Nach Schubarth et al. (2013, S. 77) sollen Studierende durch das Forschende Lernen 1) die Gelegenheit erhalten, sich „in einem realen und für sie thematisch interessanten Forschungszusammenhang auszuprobieren und ihre forschungsmethodischen Kompetenzen zu erweitern“, 2) eine „kritisch-reflektierende Haltung zur beruflichen Praxis und der eigenen Rolle“ entwickeln, 3) „die fachlichen Kompetenzen (…) für die spätere Berufstätigkeit (…) fördern, indem relevante Fragestellungen aus der beruflichen Praxis bearbeitet werden“ und 4) nicht nur in fachlichen, „sondern auch in ihren übergreifenden Selbst- und Sozialkompetenzen gefördert werden“. Dies umfasst Schlüsselkompetenzen wie Analyse- und Problemlösungsstrategien oder Kommunikations- und Teamfähigkeiten.

Studierende können im Forschenden Lernen erste Erfahrungen mit praktischen Forschungsprozessen sammeln und sich unter Anleitung mit gegenstandspezifischen Denkstilen (z. B. mit sozialwissenschaftlichen, philosophischen, medizinisch-naturwissenschaftlichen oder interdisziplinären Denkstilen) vertraut machen. Sie erleben dabei eine große Beteiligung an der Gestaltung ihrer Lernerfahrung und sind mit der Anforderung konfrontiert, komplexe Probleme weitgehend selbständig zu bearbeiten. In Deutschland ist Forschendes Lernen bisher vor allem in der Lehrer:innenbildung (Neuber 2018) und im Bemühen einiger Universitäten um eine reformorientierte Studienweise verwirklicht worden (Huber 2017; Straub et al. 2020). Ein Großteil der Lehrangebote sind aus dem Engagement einzelner Lehrender hervorgegangen (Huber 2020). Forschendes Lernen kann im Rahmen eines Forschungsseminars und der Mitarbeit an Forschungsprojekten, in Seminaren und Vorlesungen und in Qualifikationsarbeiten umgesetzt werden (Schubarth et al. 2013). Ausgearbeitete Lehrkonzepte, die Forschendes Lernen anhand empirisch-ethischer Forschungsprozesse zu medizinischen Themen aufgreifen, sind uns nicht bekannt (bis auf Haltaufderheide et al. 2020).

Ziel dieses Artikels ist es aufzuzeigen, welche didaktischen Möglichkeiten für Forschendes Lernen in der Medizinethik bestehen. Wir fokussieren dabei auf Forschendes Lernen anhand empirisch-ethischer Forschung durch eine Verbindung empirischer und insbesondere qualitativer Forschung mit normativen Überlegungen. Dazu werden wir in einem ersten Schritt einen Überblick über Konzepte und Begrifflichkeiten des didaktischen Ansatzes geben, die uns als Grundlage der Entwicklung dienen. Dabei berücksichtigen wir, dass unter dem Begriff des Forschenden Lernens international sehr unterschiedliche und nur bedingt vergleichbare Konzepte diskutiert werden. Healey (2005) weißt zurecht darauf hin, dass das jeweilige Verständnis von Forschung und Lehre ein wichtiger Mediator in der Konzeptentwicklung ist. So ist beispielsweise der angelsächsische Diskurs zum Forschenden Lernen konzeptionell anders gelagert und entwickelt mit Formaten der „research based inquiry“ oder „inquiry based learning“ andere Foki. Wir zielen daher auch nicht auf die umfassende Würdigung dieser Konzepte. Vielmehr wollen wir Transparenz in Bezug auf unsere Prämissen herstellen. Wir orientieren uns daher an den für den deutschen Raum einflussreichen Modellen von Huber (2013, 2014, 2017, 2020) bzw. Huber und Reinmann (2019). Im zweiten Schritt bestimmen wir dann die wesentlichen Schlüsselkompetenzen eines interdisziplinären Forschungs- und Lehrprozesses als Reflektivität und Reflexivität und zeigen deren Bedeutung in medizinethisch-empirischen Forschungsprozessen auf. Wir leiten daraus die Notwendigkeit ab, diese durch Forschendes Lernen zu fördern. Wir verdeutlichen im Anschluss, wie sich aus solch konzeptuellen Überlegungen eine didaktische Ausrichtung und die einzusetzenden didaktischen Methoden ableiten lassen. Wir schließen die Betrachtung mit einem kritischen Ausblick, der mögliche Potenziale und Herausforderungen des Forschenden Lernens mit qualitativen Methoden in der Medizinethik betrachtet.Footnote 2

Konzeptuelle Einordnung des Forschenden Lernens

Forschendes Lernen bezeichnet ein didaktisches Prinzip, dass sich durch drei charakteristische Elemente auszeichnet (Mieg 2017):

  1. 1.

    Studierende durchlaufen anhand eines konkreten Gegenstandsbereiches typische Schritte eines Forschungsprozesses unter einer didaktischen Zielsetzung.

  2. 2.

    Sie durchlaufen diese Schritte in unterschiedlichen Graden der Eigenverantwortung und Selbstorganisation unter Anleitung von Dozierenden.

  3. 3.

    Dabei werden Ergebnisse generiert, die nicht nur als Lernergebnisse von Bedeutung sind, sondern die auch den Kriterien eines fachlichen Beitrags genügen.

Da diese Merkmale auch in anderen forschungsnahen Lehrformaten auftreten, haben sich in der Literatur verschiedene Modelle etabliert, um Konzepte genauer zu beschreiben (Healey und Jenkins 2009; Huber 2014, 2017; Mieg 2017; Willison und O’Regan 2006). Nach Huber und Reinmann (2019) können prinzipiell drei Ansätze unterschieden werden: a) forschungsbasiertes Lernen („Forschung verstehen lernen“), b) forschungsorientiertes Lernen („Forschen üben“) und c) Forschendes Lernen („selber Forschen“). Beim forschungsbasierten Lernen sollen Studierende mit Grundproblemen der Forschung in einem bestimmten Fach, den zentralen Ausgangsfragen und deren theoretischer Verortung konfrontiert werden. Beim forschungsorientierten Lernen steht im Vordergrund, die Voraussetzungen für eine eigene Forschungstätigkeit zu schaffen. Im Gegensatz zum forschungsbasierten Lernen steht nicht die Aufarbeitung der Ausgangsfrage, sondern der Forschungsprozess selbst mit der Wahl, Ausführung und Reflexion der Forschungsmethode im Vordergrund. Darüber hinaus gibt es Konzepte des Forschenden Lernens, die Gegenstand dieses Artikels sind. Sie stellen den höchsten Anspruch an die Selbstorganisation der Studierenden und betonen das aktive und selbstorganisierte Durchführen von Forschung (Huber 2013; Wildt 2009). Im englischsprachigen Raum sind andere Begriffe für die Beschreibung des forschungsnahen Lernens etabliert. Wir konnten hierbei keinen analogen Begriff identifizieren, der dem des Forschenden Lernens konzeptuell entspricht.Footnote 3

Von übergreifender Bedeutung für alle Varianten des Forschenden Lernens ist, dass ein didaktischer Prozess des Lernens mit einem Forschungsprozess verzahnt wird (siehe Abb. 1). Diese Verzahnung beruht konzeptuell auf der geistigen Verwandtschaft der beiden Prozesse. So setzen sowohl Forschungs- als auch Lernprozesse an einer Handlungsproblematik auf der Grundlage der eigenen Erfahrung an (Ludwig 2011; Mieg 2017). Dies baut auf der Idee des erfahrungsbasierten Lernens nach Dewey (1910, 1938) auf, für den Lernen stets eine aktive, reflexive Auseinandersetzung mit konkreten Erlebnissen voraussetzt. Mit dem Begriff Erfahrung ist hier nicht die Ansammlung kognitiver Wissensbestände gemeint, sondern die subjektive Wahrnehmung der Welt als Ausgangspunkt einer weiteren Beschäftigung mit ihr (Rodgers 2002; Wildt 2009). Der Begriff der Handlungsproblematik geht ebenfalls auf pragmatische Lerntheorien zurück (Kolb 1984), die den Ausgangspunkt von Erkenntnisprozessen in einer situativen Erfahrung von Unsicherheit, Zweifel und Ambiguitäten sehen, die aufgelöst werden müssen, um in der Welt handlungsfähig zu sein (Miettinen 2000). Erkenntnisprozesse werden demensprechend als problemorientierte und problemlösende Prozesse verstanden. Weil Lern- und Forschungsprozesse gleichermaßen vor diesem Hintergrund konzipiert werden können, besteht eine strukturelle Analogie, die didaktisch genutzt werden kann (Ludwig 2011). Im Ergebnis werden damit beim Forschenden Lernen forschungstypische Tätigkeiten in den Lernprozess integriert (Wildt 2009). Dabei ist wichtig, dass die jeweiligen Schritte nicht primär unter dem Bezugssystem „Wissenschaft“ verstanden und interpretiert werden, sondern vor dem Hintergrund des Bezugssystems „Lernen“ gedacht werden (Wildt 2009). Das primäre Erfolgskriterium besteht nicht im Forschungserfolg und dem Generieren neuer Erkenntnisse, sondern in einem Kompetenzzuwachs, der durch die aktive Teilhabe am Prozess der Gewinnung solcher Erkenntnisse erreicht werden kann (Huber 2014). Forschung bildet in diesem Sinn einen übergeordneten Handlungsrahmen, in dem das LernarrangementFootnote 4 ausgestaltet wird.

Abb. 1
figure 1

Verzahnung von Lernen, Forschen und Lehren. A zeigt einen prototypischen Forschungszyklus, basierend auf dem Konzept von Wildt (2009) bzw. Kolb (1984). B zeigt einen Lernzyklus adaptiert nach Kolb (1984). Ausgehend von der Erfahrung regen Unstimmigkeiten, Widersprüche und Rätsel zur Aufnahme eines strukturierten Prozesses an (Wildt 2009). Ausgehend von der initalen Konfrontation fokussieren Studierende auf Grundlage ihrer Motivation auf Themenbereiche und beginnen Vermutungen zu entwickeln, worin das Problem besteht und wie es zu lösen sein könnte. Diese Vermutungen werden dann in strukturierte Konzepte überführt und als „Lösungen“ aktiv erprobt. Die gewonnene Erfahrung bildet wiederrum den Hintergrund einer neuerlichen Konfrontation mit der Praxis. C zeigt die Verzahnung von Lehr- und Forschungszyklus. Durch eine entsprechende Gestaltung der Lernumgebung verzahnen Lehrende Schritte des Forschungszyklus mit denen des Lernzyklus. Studierende lernen so die nötigen Kompetenzen zur aktiven Teilhabe an diesen Schritten unter einer didaktischen Zielsetzung. Diese Schritte umfassen: ❶ Angemessene Handlungsproblematiken schaffen, ❷ Inhaltliche und methodische Orientierung ermöglichen, ❸ Entwicklung einer Lösungsstrategie befördern, ❹ Erprobungsfeld bereitstellen, ❺ Reflexion organisieren

Charakterisierung empirisch-ethischer Forschung und Einordnung reflexiver Forschungskompetenzen

Vor dem Hintergrund des Kompetenzbegriffs nach Weinert (2002) verstehen wir Kompetenzen als die bei Individuen verfügbaren oder erlernten kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die Bereitschaft und Fähigkeit, die Problemlösungen verantwortungsvoll nutzen zu können. Forschungskompetenzen sind demnach kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sich auf Situationen und Anforderungen der Wissensproduktion durch forschendes Handeln beziehen und die es erlauben, am Forschungsprozess teilzuhaben. In Anlehnung an Gess et al. (2019) bestünde eine empirisch-ethische Forschungskompetenz mindestens aus den folgenden Komponenten: 1) einem domänenspezfischen Wissen über den Forschungsgegenstand, 2) übergreifenden Fähigkeiten im Umgang mit dem Forschungsprozess, 3) methodologischen und 4) methodischen Fähigkeiten.

Während 1) inhaltlich bestimmt ist, ist eine genaue Bestimmung aller relevanten (kognitiven) Fähigkeiten in Bezug auf 2) bis 4) in der empirisch-ethischen Forschung nicht einfach. Unter dem Dach dieser Forschung sind sehr unterschiedliche Ansätze vereint (Davies et al. 2015; Ives et al. 2017). Abhängig von epistemologischen und disziplinären Annahmen darüber, was Forschung leisten soll, sind drei Arten von methodologischen Festlegungen nötig: 1.) Entscheidungen über eine normative Orientierung unter Rückgriff auf meta-ethische Grundannahmen und ethische Theorien, 2.) Entscheidungen über empirische Zugänge zur Untersuchung eines Gegenstands und 3.) Entscheidungen über die Integration der beiden Arbeitsweisen. Im Ergebnis entsteht eine methodenplurale Forschungslandschaft mit beispielsweise unterschiedlichen Positionierungen zur Distinktion von Fakten/Werten (vgl. auch Ives et al. 2017). Allen empirisch-ethischen Forschungsprozessen ist jedoch eine gewisse Methodizität zu eigen. Ihre Bewertung orientiert sich mindestens an dem Kriterium innerer Kohärenz und Konsistenz. Empirische und normative Teile eines solchen Forschungsprozesses weisen darüber hinaus eine immanente Handlungsorientierung auf, die das forschende Subjekt als ihren Ausgangspunkt annimmt. Handlungsprobleme entstehen in dieser Sichtweise dadurch, Dinge nicht oder nicht hinreichend zu wissen. Stellt sich z. B. eine bestimmte Sollensfrage (z. B. Sollen wir Bürger:innen die Corona-Warnapp zur Pandemiebekämpfung empfehlen?), so basiert die Antwort auf der Beantwortung evaluativer Fragen (Was ist eine gute Maßnahme zur Pandemiebekämpfung?, z.B. Ist eine Maßnahme gut, die effektiv darin ist, eine Virusansteckung zu verhindern, um die krankheitsbedingte Mortalität und Morbidität zu verringern oder eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern?) und empirischer Fragen (Inwiefern ist diese App dazu in der Lage, die intendierten Ziele zu erreichen? Wie verwenden Nutzer:innen die App?, z.B. Welche Auswirkung hat die Wahrnehmung von sozialen Kontakten als Risiken auf die Nutzer:innen?). Mit der Beantwortung von Forschungsfragen ist die Wiedererlangung von Handlungsfähigkeit im Hinblick auf ein normatives Problem verbunden, entweder im Sinne eines theoretischen Erkenntnisgewinnes oder im Sinn einer praktischen Handlungslegitimation. Die zugrunde liegende Idee ist, dass das Handeln durch das Handlungsproblem, das eine Suche nach Erkenntnissen motiviert hat, eingeschränkt war. Auf der normativen Seite ist diese Handlungsorientierung und Subjektbindung offensichtlich, sofern man „Ethik“ allgemein als die kritische Reflexion moralischer Urteile versteht. Auch einige Formen der qualitativen Sozialforschung beziehen sich in ihren Methodologien auf Handlungsproblematiken im Hinblick auf Wissen über die Wirklichkeit. Insbesondere der amerikanische Pragmatismus, der oft als epistemisches Fundament qualitativer Forschung dient, versteht Wirklichkeit und Theorien über Wirklichkeit nicht als ex ante vorausgesetzt, sondern als das Ergebnis eines Herstellungsprozesses, als „aktives Tun“ bzw. als das Ergebnis von Interaktion und Handlungspraxen (Strübing 2004). Dieses Tun ist ebenfalls problemorientiert und subjektgebunden, da sein Ausgangspunkt stets in der Auflösung von bestehenden Ambiguitäten, Uneindeutigkeiten und Zweifeln der wahrgenommenen Wirklichkeit besteht. Dewey (1910) konzipiert wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn demgemäß als problemlösende Handlung, die über die weitere Spezifikation des Problems sowie die Entwicklung und Erprobung von Vermutungen und operablen Hypothesen zu neuen Ungewissheiten übergeht (Rodgers 2002). Daraus ergibt sich eine vorläufige Bestimmung empirisch-ethischer Forschungsprozesse als Forschung, die von zweifacher Unsicherheit (deskriptiv und normativ) ausgeht. Vor dem Hintergrund bestehender Vorannahmen und Wahrnehmungen wird dann in einen strukturierten Prozess der Problemlösung übergegangen, um Wissen zu generieren und Handlungsfähigkeit im Hinblick auf ein normatives Problem herzustellen.

Ausgehend von diesem Vorverständnis empirisch-ethischer Forschungsprozesse lassen sich zwei wesentliche Kernkompetenzen für die Durchführung solcher Prozesse bestimmen: Die Fähigkeit zur Reflektivität und Reflexivität. Reflektivität meint hier die Fähigkeit, auf eine bestehende Handlungsproblematik („Sollen wir eine Intervention (z.B. die Corona-Warnapp) empfehlen?“) mit einem strukturierten gedanklichen Prozess (einem Weg zu einer Antwort) zu reagieren. Dabei gilt es auch, einen Umgang mit der Unterbestimmtheit und Ungewissheit von Handlungsproblematiken zu finden. Reflektivität ist die Voraussetzung für ein methodisches Vorgehen und umfasst vor allem jene allgemeine Fähigkeiten und Fertigkeiten, die eine strukturierte Problemlösung im Handlungsrahmen des Forschens ermöglichen (Huber 2014). Hierzu zählt das Einnehmen einer methodischen Fragehaltung, das Aushalten von Relativität und Unsicherheit oder die Bereitschaft zu erneuter Prüfung. Reflexivität auf der anderen Seite bezieht sich auf die Eigenheiten des empirisch-ethischen Forschungsprozesses. Sie ist besonders wichtig in der qualitativen Forschung und meint, sich als integralen Bestandteil der Situation aufzufassen und die mannigfaltigen Einflüsse und Beziehungen des eigenen Selbst auf die Situation (eine Betrachtung der eigenen Person auf dem Weg zu einer Antwort) offenlegen und angemessen bewerten zu können. Im Hinblick auf die normativen Methodenanteile umfasst Reflexivität die Fähigkeit, eigene normative Vorannahmen und Werthaltungen und deren Einfluss auf Begründung und Argumentation kritisch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Im Hinblick auf die methodische Vielfalt empirisch-ethischer Forschungsprozesse bedeutet sie, sich (als forschende Person) zu dieser Vielheit positionieren und entsprechende Auswahlentscheidungen treffen und begründen zu können. Wie diese beiden Kompetenzen im Forschenden Lernen erworben werden sollen, führen wir im folgenden Abschnitt aus.

Lehrarrangements und didaktische Umsetzung des Forschenden Lernens zur Förderung von Reflektivität und Reflexivität

Aus diesen Vorüberlegungen leiten wir einen didaktischen Rahmen bestehend aus fünf Schritten ab, der die Konzeption von Lehrarrangements zum Forschenden Lernen anleiten kann.

Diese fünf Schritte lauten:

  1. 1.

    Angemessene Handlungsproblematiken schaffen.

  2. 2.

    Inhaltliche und methodische Orientierung ermöglichen.

  3. 3.

    Die Entwicklung einer Lösungsstrategie befördern.

  4. 4.

    Ein Erprobungsfeld für die Lösungsstrategie bereitstellen.

  5. 5.

    Möglichkeiten der Reflexion organisieren.

In diesen Teilschritten können Dozierende den Lernprozess der Studierenden strukturieren, Studierende zur Beschäftigung mit den Lerninhalten motivieren und sie dabei unterstützen, den Forschungsprozess zu durchlaufen. Wir führen diese fünf Schritte nachfolgend aus.

1) Angemessene Handlungsproblematiken schaffen

Um die Bedeutung von strukturierten Ansätzen zur Problemlösung zu vermitteln, erfordert das Forschende Lernen eine hinreichend offene, nur teilweise geklärte Ausgangssituation. Das Schaffen von Handlungsproblematiken wird durch drei Entscheidungen geprägt: Dozierende legen 1.) ein bestimmtes, medizinethisch relevantes Thema fest, 2.) fokussieren auf bestehende Unsicherheiten, Ungewissheiten und AmbiguitätenFootnote 5 und 3.) schließen motivational an das intrinsische Bedürfnis nach Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit an, welche durch das Durchlaufen der nachfolgenden Schritte in Aussicht gestellt werden kann.

Das Problemfeld sollte zunächst eine moralische Frage mit professioneller handlungspraktischer Relevanz umfassen („Was soll ich tun?, z.B. Soll ich – als angehende Expert:in für Public Health – die Corona-Warnapp zur Pandemiebekämpfung empfehlen?“). Bei einer empirisch-ethischen Herangehensweise kommt eine empirische Frage hinzu, die dem moralischen Urteil vorausgeht (z. B. „Was muss ich über den Gegenstand wissen, um die Sollens-Frage beantworten zu können?, z.B. Was muss ich über die Funktions- und Nutzungsweise der Technologie wissen?“ oder z. B. konkreter „Welche Perspektive haben von diesem Handlungsproblem betroffene Personen auf die Frage?, z.B. Welche Einstellung haben Nutzer:innen im Allgemeinen, oder besondere Gruppen wie ältere Menschen oder Menschen mit Gesundheitsberufen zu einer Nutzung der Warnapp?“). Dies beinhaltet die Entscheidung, wie eng das Rahmenthema vorgegeben wird, was wiederum einen Einfluss auf die Möglichkeit hat, selbstbestimmte Entscheidungen über die Formulierung der forschungsleitenden Fragestellung zu treffen. Dabei müssen Lehrende entscheiden, ob sie das Handlungsproblem vorgeben, oder ob sie es von Studierenden entdecken und formulieren lassen. Die Wahrnehmung der Relevanz des Rahmenthemas hat einen großen Einfluss auf die Motivation der Studierenden. Themen wirken dann motivierend, wenn sie theoretisch interessant, relevant für das jeweilige Unterrichtsfach, politisch aktuell oder persönlich ansprechend sind (Huber und Reinmann 2019). Tab. 1 enthält exemplarische Themen für exemplarische Zielgruppen, aber prinzipiell kommt jedes medizinethische Thema in Frage, das aus der Lebenswelt der Studierenden heraus zugänglich ist, damit es ihnen möglich ist, Teilnehmende bzw. Material für empirische Studien zu finden.

Tab. 1 Beispielhafte Themen für Projekte des Forschenden Lernens durch Empirische Medizinethik

Um ein moralisches Handlungsproblem erfahrbar zu machen, können performative Elemente wie Falldiskussion, Gruppenarbeiten oder andere diskursive Formate eingesetzt werden, die widersprüchliche Intuitionen hervorrufen. Alternativ können verschiedene Wissensbestände diskursiv gezielt aufgearbeitet oder miteinander kontrastiert werden, um Wissenslücken sichtbar werden zu lassen. Auch eine Kontrastierung unterschiedlicher Perspektiven auf eine ethische Kontroverse ist möglich.

2) Inhaltliche und methodische Orientierung ermöglichen

In diesem Schritt aktivieren oder vermitteln Dozierende Fach- und Methodenwissen mit dem Ziel, Studierenden die Entwicklung und Handhabung von Werkzeugen zu ermöglichen, wie das Ausgangsproblem bearbeitet werden könnte. Hierzu kann die Vermittlung weiterer Sachinformationen dienen und die Einübung methodischer Prozeduren erfolgen. Dabei wird keine Auflösung der Handlungsproblematik herbeigeführt, sondern Werkzeuge bereitgestellt, die der Bearbeitung dienlich sind.

Es sind mindestens drei Arten von Fach- und Methodenwissen, die innerhalb des Forschenden Lernens in der Medizinethik erworben werden können: 1.) Kenntnisse über ethische Theorien, ethische Prinzipien oder ethisch begründete moralische Urteile zu ähnlichen Sachverhalten, 2.) Kenntnisse über Methodologien und Methoden qualitativer Forschung und 3.) Kenntnisse über den Stand der Forschung zur Forschungsfrage. Um entsprechendes Fach- und Methodenwissen bereitzustellen, eignen sich Elemente des Selbststudiums, die gezielt mit Elementen des angeleiteten Lernens verbunden werden. Eine Möglichkeit ist die Nutzung von Medien in der Aneignung von Forschungsmethoden und -kenntnissen (Schirmer und Marín 2020). Besonders viel Potenzial scheint das Blended Learning nach dem Inverted Classroom-Konzept zu bieten, das selbstgesteuertes Lernen im Onlineunterricht und Aktivitäten zur Vertiefung der Inhalte im Präsenzunterricht anregt (Tolks et al. 2016). Bei diesem Konzept wird die Aneignung von Faktenwissen in asynchrone Selbstlernphasen vorverlagert, während die Anwendung und Vertiefung in nachfolgenden Präsenzphasen erfolgt. So können zum Beispiel Fachwissen über ein medizinethisches Thema oder methodisches Grundlagenwissen vermittelt werden. Verdeutlichen wir das am Beispiel Interviewforschung. Im asynchronen Onlineunterricht können Empfehlungen für die Gestaltung eines Interviewleitfadens in einem Lehrvideo vermittelt werden. Die Studierenden entwickeln auf dieser Basis ihren eigenen Interviewleitfaden im Forschungsteam und bringen ihn zum synchronen Präsenzunterricht mit. Dann erhalten sie dort Feedback auf ihre Umsetzung und können das in die Revision ihres Erhebungsinstruments einfließen lassen. Bei heterogenen Kompetenzniveaus der Teilnehmenden bietet sich die Kombination mit Peer-Teaching an (Kong und Knight 2017), bei dem in einer Methode bereits erfahrene Studierende eine Art Führungsrolle übernehmen und weniger erfahrene Studierende anleiten.

3) Die Entwicklung einer Lösungsstrategie befördern

Handlungsproblematiken lassen sich auflösen, indem Forschungsfragen beantwortet werden und damit die Forschungslücke einstweilen geschlossen wird. Dabei geht es nicht notwendigerweise um unbeantwortete Forschungsfragen vor dem Hintergrund des allgemeinen Stands der Wissenschaft und das Schließen allgemeiner Forschungslücken, sondern um den Wissensstand der Lernenden im Rahmen des Horizonts des Lernarrangements und das Schließen ihrer Wissenslücken im Hinblick auf den vorstrukturierten Handlungsrahmen. Die Konstruktion des Designs für die eigene Forschung ermöglicht den Entwurf einer Lösungsstrategie, die im weiteren Verlauf erprobt und ggf. revidiert werden kann. Drei Entscheidungen sind dabei besonders hervorzuheben: 1.) die Formulierung des theoretischen Rahmengerüsts, 2.) die Selektion des empirischen Materials, das in den Blick genommen werden soll und 3.) die methodischen Prozeduren, mit denen die Bearbeitung erfolgen soll (Flick 2014). Die theoretische Rahmung schließt im Idealfall Entscheidungen über den philosophischen und sozialwissenschaftlichen Hintergrund der Forschung und die Konzeption eines interdisziplinären Zusammenspiels ein. Dies gehört zu den anspruchsvollsten Schritten, die sich aus der Anlage und Realisierung des empirisch-medizinethischen Forschungsprozesses ergeben. Methodologien, die dieses komplexe Zusammenspiel beschreiben, sind zahlreich entwickelt worden (Davies et al. 2015; Ives et al. 2017). Sie unterscheiden sich in ihrer Komplexität und ihren theoretischen Prämissen. Hier haben Dozierende die Aufgabe, Studierenden zur Suche nach fachlichen Lösungs-Schemata in der Literatur befähigen, die für eine Bewältigung dieses Schrittes geeignet sein können. Schriftliche „Anleitungen“ zur Verfügung zu stellen, reicht in der Regel nicht hin, weil das Vorgehen in einer qualitativ-normativen Studie sehr stark am Gegenstand ausgerichtet werden muss und wesentliche Forschungsentscheidungen im Handeln getroffen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass qualitative Auswertungsmethoden das Denken auf bestimmte Aspekte des erhobenen Datenmaterials lenken, z. B. indem befördert wird, sich auf die Ebene des manifesten Inhalts einer Äußerung oder ihrer latenten Bedeutung zu konzentrieren. Die Vielfalt von Möglichkeiten muss einerseits erwähnt werden, stellt aber andererseits in der Vermittlung ein Problem dar, das bei Studierenden zu Unsicherheit und Verwirrung führen kann. Lehrende sollten daher entscheiden, inwieweit es ihrem Gegenstand angemessen ist, eine Engführung vorzunehmen und stellenweise in eine Projektleiter- und Führungsrolle zu wechseln. Konkret kann das bedeuten, Vorgaben zu machen, die eine Reduktion von Komplexität beinhalten, z. B. sich normativ eher an einem prinzipienethischen Ansatz als an komplexeren Theorien zu orientieren, sich in der empirischen Forschung eher einer Qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2010) als der Grounded Theory Methodologie (Breuer et al. 2019; Strübing 2004) zuzuwenden und konkrete Integrationsmethoden wie bestimmte Brückenprinzipien (Reiter-Theil 2004; Kühlmeyer et al. 2022) zu benennen als das Reflexionsgleichgewicht nach Rawls zu wählen (de Vries und van Leeuwen 2010). Die Arbeitsweisen sollen von den Studierenden ein- bzw. ausgeübt werden, um Erkenntnisse zu ermöglichen. Es ist dabei ratsam, diese Einübung gemeinsam anhand von konkretem Datenmaterial zu vollziehen.

4) Ein Erprobungsfeld für die Lösungsstrategie bereitstellen

Die Angemessenheit des methodischen Vorgehens zeigt sich erst in der Verwirklichung des geplanten Prozesses. Ein angemessenes Erprobungsfeld sollte den Studierenden einen Zugang zu empirischem Datenmaterial bzw. dessen Erhebung ermöglichen. Darüber hinaus gehört auch die Entwicklung von Ergebnissen (z. B. dargestellt in Texten, Modellen, Tabellen) und deren Präsentation zu diesem Schritt. Bei der Wahl dieser Felder sind didaktische, forschungspraktische und forschungsethische Überlegungen zu berücksichtigen.

Didaktische Überlegungen betreffen die Auswahl von LerngelegenheitenFootnote 6, um wissenschaftliche Ansprüche an vertrauenswürdige Forschung zu vermitteln. Dozierende sollten daher das ausprobierende Handeln der Studierenden kontinuierlich durch Feedback unterstützen und sich dabei in zentrale Entscheidungen rechtzeitig (nicht erst am Ende des Erhebungs- und Auswertungsprozesses) einbringen. Herausforderungen bestehen dabei darin, dass dieser Teil des Lernprozesses wenig planbar ist und sich die Datenerhebung meist der direkten Begleitung durch Dozierende entzieht. Huber und Reinmann (2019) schlagen hier eine Unterbrechung der Forschungstätigkeit durch so genannte „Haltestellen“ vor, z. B. nach der Formulierung der Fragestellung, nach der Recherche und Reformulierung der Fragestellung, nach der Methodenwahl, nach der Fertigstellung des Forschungsdesigns, „auf halber Strecke“ oder vor der Ergebnispräsentation (Huber und Reinmann 2019). Die Ergebnisdarstellung geht dabei in der Regel mit einem wissenschaftlichen Schreibprozess einher, dessen Struktur Studierenden vermittelt und dessen Anforderungen expliziert werden müssen. Gleichzeitig sollten Studierende sowohl Zugang zu kontinuierlicher Beratung erhalten, als auch in die Lage versetzt werden, auftretende Probleme in der Realisierung des Forschungsprozesses selbständig lösen zu können.

In forschungspraktischer Hinsicht müssen Studierende organisatorisch und logistisch unterstützt werden. Dies umfasst Hilfe bei der Herstellung des Feldzugangs oder Unterstützung durch die Bereitstellung technischer Ausrüstung (z. B. Audiorekorder, Transkriptions- oder Analysesoftware die für Lehranlässe oft kostenlos zur Verfügung gestellt werden). Dozierende müssen darüber hinaus einen Rahmen für die Präsentation der Ergebnisse gestalten. Eine solche Präsentation ergibt gleichzeitig eine effiziente Möglichkeit, die Leistungsfeststellung in Form einer Prüfung vorzunehmen. Diese kann sowohl mündlich als auch schriftlich erfolgen, kann im intimen Kreis der Seminarteilnehmenden oder in einer erweiterten Öffentlichkeit stattfinden. Es kann sinnvoll sein, konkrete Produkte (z. B. foliengestützte Ergebnispräsentation oder Poster) vorzugeben.

Von besonderer Bedeutung im Rahmen der medizinethischen Forschung ist die Vermittlung und Einhaltung von Standards des adäquaten Umgangs mit forschungsethischen und datenschutzbezogenen Herausforderungen. Dies ist besonders bei Forschung geboten, die keinen Nutzen für Teilnehmende hat. Darüber hinaus können z. B. Interviews, die aufgezeichnet und wörtlich transkribiert werden sollen, nicht vollständig anonym erhoben werden, was die erhobenen Daten zunächst zu personenbezogenen Daten macht. Bei Forschung zu der Gesundheit einer Person handelt es sich um besonders sensible Daten, die einen erhöhten Schutz erfordern, und womöglich verbietet es sich auch, zu Lehrzwecken intime Fragen zu stellen. Aufgrund des Fakultätsrechts und vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann auch für die Lehrforschung ein Votum durch eine Ethikkommission einer medizinischen Fakultät notwendig sein. Zusätzlich sind die institutionellen Datenschutzbeauftragten über die Datenverarbeitungstätigkeit zu informieren. Das Erstellen entsprechender Dokumente und das Durchlaufen der jeweiligen Prozesse sollte als integraler Bestandteil der Forschung verstanden werden und wenn möglich mit Studierenden gemeinsam entwickelt und durchlaufen werden, zumindest aber als gutes Praxisbeispiel zur Verfügung gestellt bzw. mit ihnen besprochen werden. Im Rahmen dieser Begutachtung ist mitunter abzuwägen, ob eine Forschungsarbeit, die zu Übungszwecken durchgeführt wird, die Beanspruchung von vulnerablen Teilnehmenden in Kauf nehmen darf oder ob der Datenschutz bei Interviews über Videokonferenztools für die Forschung zu gesundheitlichen Themen ausreichend ist.

5) Möglichkeiten der Reflexion organisieren

Um mit Handlungsunsicherheit umgehen zu können, braucht es Gelegenheiten für eine forschungsbezogene Selbstreflexion. Damit ist im Hinblick auf normative Theoriebestandteile die kritische Überprüfung und (Weiter‑)Entwicklung eigener Werthaltungen sowie deren Berücksichtigung für den Forschungsprozess gemeint. Im Hinblick auf die qualitative Forschung meint die Fähigkeit zur Reflexion, in der Lage zu sein, sich selbst als integralen Bestandteil der zu untersuchenden Wirklichkeit zu verstehen und den eigenen Einfluss auf die Ausgestaltung der Forschung angemessen zu berücksichtigen. Ziel der Reflexion ist es dabei auch, die blinden Flecken der Erkenntnisbildung aufzuspüren, die Ergebnisse mitunter verzerren (Breuer et al. 2019).

Der empirisch-ethische Forschungsprozess bietet immer wieder Übergänge, in denen Reflexion stattfinden kann, z. B. nach der Konfrontation mit dem Handlungsproblem, nach der Formulierung der Forschungsfrage, nach der Selektion oder nach der Erhebung der Forschungsmaterialien. Es ist dabei die Aufgabe der Dozierenden, Studierende darin anzuleiten, beispielsweise die erhobenen qualitativen Datenmaterialien im Kontext ihrer Herstellung zu betrachten und zu reflektieren, wie sie als Person mit einer bestimmten Positionierung in der Gesellschaft diese Herstellung beeinflussen. Dabei können Entscheidungen offengelegt und in der Darstellung der Forschung berücksichtigt werden. Auch im Hinblick auf normative Überlegungen lassen sich mögliche Verzerrungen, blinde Flecken oder Abkürzungen identifizieren. Die bewusste Herbeiführung von Irritationen durch das Einholen unterschiedlicher Sichtweisen auf das Forschungshandeln ist dabei essenziell, und kann in der kooperativen Bearbeitung oder durch das Feedback von Peers und Dozierenden umgesetzt werden. Schriftliche Formen der Reflexion sind das Forschungstagebuch und die Explikation der eigenen Präkonzepte in Form von Texten und selbstreflexiven Memos. Auch in der Qualitätsbeurteilung der gesamten Forschungsarbeit bieten reflexive Fragen einen wichtigen Zugang und sind in der Regel auch Teil von Leitlinien zur Berichtlegung und Qualitätsbeurteilung qualitativer bzw. empirisch-ethischer Forschung (Ives et al. 2018; Mertz et al. 2014; Tong et al. 2007). Insbesondere die schriftlichen Formen der Reflexion bieten auch Anschlusspunkte für eine Leistungsüberprüfung (z. B. in Form der Portfolio-Prüfung). Diese sollte sich dann allerdings nicht am Erfolg der Forschung sondern am Ziel des Kompetenzerwerbs orientieren.

Tab. 2 gibt einen zusammenfassenden Überblick über die dargestellten Schritte und ihre mögliche Ausgestaltung. Schritte 2–4 dienen der Förderung der Reflektivität, Schritt 5 der Reflexivität der Studierenden.

Tab. 2 Forschendes Lernen im medizinethischen Forschungszyklus

Chancen und Herausforderungen einer Implementation von Angeboten zum Forschenden Lernen

Forschendes Lernen in der Empirischen Medizinethik hat große Potenziale, Studierende an die Logik medizinethischer Forschung heranzuführen, sie für das Fach und die Lösung komplexer gesellschaftlich relevanter Problemstellungen zu motivieren und mit sowohl disziplinspezifischem als auch interdisziplinärem Denken und Arbeiten vertraut zu machen. Mit den oben entwickelten fünf Schritten stellen wir ein Konzept vor, das eine Orientierung in der Entwicklung und Durchführung entsprechender Lehr- oder Betreuungsangebote ermöglicht. Wir gehen dabei davon aus, dass empirisch-ethische Forschung Kompetenzen voraussetzt, die wir als Reflektivität und Reflexivität beschrieben haben. Der Erwerb dieser Kompetenzen ist das primäre Ziel, dessen Erreichung didaktisch durch die Verzahnung von Forschung und Lehre ermöglicht werden kann.

Auf dieser Grundlage kann ein Beitrag zur Gewinnung und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Medizinethik geleistet werden. Studien in angrenzenden Bereichen weisen beispielsweise auf positive Effekte des Forschenden Lernens im Hinblick auf die Selbsteinschätzung der Forschungsfähigkeiten (Taraban und Logue 2012), das Interesse an Forschung (Gess et al. 2014) und die Forschungsmotivation hin (Seymour et al. 2004). Reflexivität und Reflektivität sind Kompetenzen, die nicht auf den Handlungsrahmen der Forschung beschränkt sind. Sie werden auch in anderen Bereichen wie beispielsweise der Ausbildung eines professionellen Rollenverständnisses in den Gesundheitsberufen zunehmend diskutiert (Landy et al. 2016; Al-Eraky 2015; Doukas et al. 2012), so dass sich gerade im Rahmen des Forschenden Lernens im Gesundheitsbereich durchaus weitere positive Synergieeffekte ergeben können (Schäfer 2019). Solche empirischen Ergebnisse sind allerdings nicht ohne weiteres auf andere Lerngelegenheiten übertragbar, da sie nicht nur vom jeweiligen Lehrformat sondern auch von der individuellen Lehrerfahrung Studierender abhängig sind (Wulf et al. 2020).

Unser Konzept zeigt primär die Gestaltungsaufgaben für Dozierende auf, die eine zielgerichtete Begleitung der Studierenden ermöglichen kann und damit einen wesentlichen Einfluss auf den Lernerfolg haben könnte (Lazonder und Harmsen 2016). Dozierende sollten bei der individuellen Ausgestaltung ihres Lehrangebots darüber hinaus die institutionellen Rahmenbedingungen angemessen berücksichtigen, innerhalb derer sie ihr Angebot (extra-)curricular verorten wollen.Footnote 7 Heutige Modul- und Prüfungsstrukturen bieten wenige Freiräume für Lehrveranstaltungen über mehrere Semester und lassen wenige Experimentierräume zu, die auch mit Fehlern oder einem Scheitern einhergehen können (Schubarth et al. 2013). Aufgrund der thematischen Breite empirisch-ethischer Forschung und ihrer methodischen Vielfalt kann ihre inhaltliche und methodische Konkretisierung in einem Lehrforschungsprojekt nicht ex ante erfolgen. Sie muss gegenstandsbezogen entwickelt werden. Hier überträgt sich die methodische Offenheit und Vielfalt medizinethischer Forschungsprozesse auf den Lehrprozess und muss von Dozierenden angemessen gehandhabt werden.

Generell ist zu berücksichtigen, dass Forschendes Lernen sehr hohe Anforderungen an Studierende, u. a. in Bezug auf ihre Selbstorganisation, Selbständigkeit, Motivation und Teamfähigkeit stellt. Ein Raum für selbständige Entscheidungen in Bezug auf einen komplexen Problemlöseprozess kann auch als Überforderung von Studierenden wahrgenommen werden, v. a. in stark verschulten Studiengängen, bei denen ein Großteil der Lehrveranstaltungen auf die Vermittlung von Handlungsstandards abzielt, wie das in Gesundheitsberufen oft üblich ist. Je nach Format, erfordert Forschendes Lernen, dass bereits in der Schule oder in anderen Universitären Lehrangeboten Grundlagenwissen und -fertigkeiten erworben werden konnte, was einige Sorgfalt bei der Integration von Forschendem Lernen in das Gesamtcurriculum erfordert (Huber 2020). Im Hinblick auf die anvisierte Teamarbeit gehen mit organisatorischen Barrieren z. B. durch unterschiedliche Wohnorte, unterschiedliche Kompetenzvoraussetzungen, Motivationen und Lernstile der Studierenden Konflikte einher, was eine Begleitung des Gruppenprozesses durch Dozierende erforderlich machen kann (Schubarth et al. 2013). Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass die Verwirklichung solcher Konzepte besonders ressourcenintensiv ist, sowohl auf Seiten der Studierenden, als auch auf Seiten der Dozierenden. Dies macht die Honorierung mit ausreichend Creditpoints notwendig, was womöglich für Dozierende mit Herausforderungen für die curriculare Verankerung eines solchen Lehrkonzeptes einher geht (Schubarth et al. 2013). Mit Ressourcen ist nicht nur die Zeit gemeint, die den Studierenden im direkten Kontakt zur Verfügung gestellt werden muss, sie betreffen auch den Betreuungsschlüssel zwischen Dozierenden und Studierenden in der Begleitung des Lehrprojekts, die Räume, in denen Unterricht stattfindet (physisch und digital), der Umfang der gesamten Veranstaltung (mit synchronen und asynchronen digitalen Elementen) und die Integration tutorieller Unterstützung. Auch die Kompetenzen der Dozierenden fließen in die Ressourcenbestimmung mit ein, und es kann erforderlich sein, dass Dozierende sich (gegenseitig) zunächst für eine solche Aufgabe qualifizieren müssen (Huber 2020). Ein Grund für die aktuell noch geringe Verbreitung könnte sein, dass Dozierende über die Potenziale solcher Lehrangebote wenig wissen oder sich selbst in ihrer Forschungspraxis unsicher fühlen, so dass es für sie nicht in Frage kommt, Studierende darin anzuleiten. Mitunter lassen sich Dozierendenteams (z. B. aus Dozierenden aus unterschiedlichen Universitäten oder aus unterschiedlichen Fachgebieten wie Medizinischer Psychologie, Soziologie und Medizinethik) bilden, die zusammen über genügend Erfahrung in der Ausgestaltung empirisch-ethischer Vorhaben verfügen, um der anspruchsvollen Rolle von Gestalter:innen einer entsprechenden Lernumgebung gerecht zu werden. Allerdings fehlen weitestgehend Anreize und die Ausstattung, um solche Angebote implementieren zu können.

Womöglich könnten Reformprozesse zur Verwirklichung kompetenzorientierter Lehre ein Anlass sein, solche Lehrkonzepte zu platzieren und langfristig zu unterhalten. Denkbar ist auch eine Ansiedelung solcher Angebote in der postgradualen Lehre, z. B. durch ihre Verortung in Graduiertenprogrammen oder bei Fachgesellschaften. In Bezug auf die Nachwuchsförderung im Fach wäre es allerdings wünschenswert, nicht erst in Promotions- oder postdoktoralen Projekten, sondern bereits in der wissenschaftlichen Ausbildungsphase die notwendigen Forschungskompetenzen zu fördern, die für eine erfolgreiche Bewältigung empirisch-ethischer Projekte erforderlich sind.

Fazit

Die hier aufgezeigten didaktischen Gestaltungsräume geben eine Orientierung bei der Entwicklung entsprechender Lehrangebote. Forschendes Lernen mit empirisch-ethischen Methoden weist nicht nur große Potenziale auf, sondern beinhaltet ebenso Herausforderungen. Das hier dargestellte Konzept soll die Gestaltung von Lehrarrangements unterstützen, indem es diese Entscheidungen vorstrukturiert und Beispiele für die didaktische Umsetzung gibt. Ob angesichts der vielschichtigen Herausforderungen, die mit dem Forschenden Lernen einhergehen, Lehrangebote des Forschenden Lernens dauerhaft in das Lehrportfolio an medizinethischen Lehrstühlen implementiert werden, hängt nicht alleine von theoretischen Überlegungen, sondern nicht zuletzt auch von überzeugenden Praxisbeispielen ab.