Hintergrund

Gilbert, Ende 20, lebt mit seiner Mutter, zwei Schwestern und seinem geistig behinderten Bruder Arnie im ländlichen Raum. Ein weiterer Bruder, der als einziger eine höhere Schulbildung absolvierte, hat den Haushalt vor Jahren verlassen. Die familiären Aktivitäten bestehen größtenteils aus dem Planen, Zubereiten und Einnehmen von Mahlzeiten. Mittelpunkt der Familie ist die Mutter Bonnie, die seit dem Suizid ihres Ehemannes vor 17 Jahren kontinuierlich an Gewicht zugenommen hat und mittlerweile 250 kg wiegt. Seit sieben Jahren hat sie das Haus nicht mehr verlassen und verbringt den Großteil ihrer Zeit sitzend vor dem Fernseher. Ihre Kinder sind alle normalgewichtig. Auf Gilbert lastet eine große Verantwortung, da er als einziger einer geregelten Arbeit im örtlichen Lebensmittelgeschäft nachgeht. Darüber hinaus kümmert er sich um die Instandhaltung des Hauses und betreut Arnie, der nur eine begrenzte Lebenserwartung hat und die Familie durch Verhaltensauffälligkeiten alltäglich herausfordert.

Die Situation eskaliert, als Arnie zum wiederholten Male öffentlich verhaltensauffällig und von der Polizei in Gewahrsam genommen wird. Dies bewegt Bonnie aus dem Haus, wobei sie durch ihr Körpergewicht nicht nur Mobilitätseinschränkungen, sondern auch öffentlicher Häme ausgesetzt ist. In der Familie führt die Anspannung zu verbaler und sogar körperlicher Gewalt, die in physischen Angriffen von Gilbert gegenüber Arnie gipfelt.

In der Kleinstadt hat die schwergewichtige Mutter den Status einer Kuriosität, über die man hinter vorgehaltener Hand spricht und die von Kindern wie ein Ausstellungsobjekt „besichtigt“ wird. Die Geschwister schämen sich für die ausweglose Situation der Familie, die den trostlosen Ort nicht verlassen kann: „Bei uns tut sich nicht viel“, sagt Gilbert einer Freundin. „Nicht, dass wir nicht wollten, aber meine Mom ist irgendwie mit dem Haus verheiratet. Verheiratet ist nicht das richtige Wort, glaube ich, sie ist eher eingequetscht.“ (00:42:54–00:43:09).

Analyse

Dieser Fall entstammt dem Spielfilm Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa (USA, 1993).Footnote 1 Das Leben in der fiktiven, US-amerikanischen Kleinstadt Endora ist, in Gilberts Worten, „wie tanzen ohne Musik“. (00:02:42) Es spielt in einem Gebiet mit sehr niedriger Bevölkerungsdichte und wenig Infrastruktur. Außer Essen gibt es nicht viele Beschäftigungsmöglichkeiten. Die Fast Food-Industrie und das Erstarken einer großen Supermarktkette bedrohen den lokalen Einzelhandel und damit das einzige Einkommen der Familie Grape.

Ohne Schuldzuweisungen, aber dennoch provokant stellt der Film die Frage, ob es der gesamten Familie besser ginge, wenn die Mutter weniger vom Essen abhängig wäre und Gewicht reduzieren würde. Bonnie schädigt sich selbst durch das Essverhalten, was auch negative Konsequenzen für andere hat: „Ich weiß, was für eine Belastung ich bin“, sagt sie, „und ich weiß, ihr schämt euch für mich. Ich hab niemals, glaub mir, nie, niemals so sein wollen. Ich wollte nie eine Witzfigur werden.“ (01:33:40–01:34:13) Bonnie schämt sich, doch zugleich ist das Essen ein Teil ihrer Identität. Es hat etwas Beruhigendes, ist eine Möglichkeit, ihre Zeit zu füllen und die Beziehung zu ihren Kindern aufrecht zu erhalten: „Ich hab Überstunden machen müssen, um sie satt zu kriegen“, erzählt Gilbert seiner Freundin. (01:25:40) Gilbert erklärt Bonnies Essverhalten als Reaktion auf den Verlust ihres Ehemannes: „Sie war jahrelang wie unter Schock, er war auf einmal weg. Kein Abschied, nichts, er war irgendwann ganz plötzlich… Und er war weg. Er hing einfach da. Und dann hat alles angefangen.“ (01:25:46–01:26:08).

Medizinethische Relevanz

Diese Geschichte lässt eine zentrale Leerstelle: Wir sehen nirgends medizinische oder psychologische Versorgung der Betroffenen. Im Laufe des Films wird deutlich, dass die Familie nicht krankenversichert ist, eine Realität in den USA der frühen 1990er Jahre. Sowohl mit dem hohen Körpergewicht der Mutter als auch mit der Behinderung des Bruders bleibt sie sich selbst überlassen. Die Situation endet mit dem Tod der Mutter. Die Kinder brennen das marode Haus nieder, um den erniedrigenden Abtransport der Leiche mittels Lastenkran zu verhindern und damit die Würde ihrer Mutter über den Tod hinaus zu bewahren. Zugleich ermöglicht ihnen dies einen selbstbestimmten Neuanfang.

Obwohl die Geschichte fast 30 Jahre alt ist, hat sie angesichts der steigenden Prävalenz von Adipositas keine Aktualität verloren. Aus praxisnaher, medizinethischer Perspektive lassen sich folgende Fragen stellen: Wie wäre zu handeln, wenn Bonnie eine reale Patientin wäre, die statt in die Polizeistation in eine Arztpraxis oder Klinik käme? Wie sollte ein Arzt eine Person mit morbider Adipositas auf dieses Phänomen ansprechen? Wieviel Eigenverantwortung und Compliance darf von ihr erwartet werden? Wie sollte mit ihren besonderen Bedürfnissen (Stühle, Bett, medizinische Geräte) umgegangen werden, um Diskriminierung zu vermeiden, aber dem medizinischen Handlungsbedarf trotzdem gerecht zu werden? In welchem Maße ist es ethisch vertretbar, in ihren Lebensstil, der tief mit ihrer personalen Identität und Lebensgeschichte verankert ist, einzugreifen, und was wären legitime Mittel dafür?