Skip to main content

Unerklärliche Wahrheiten

  • Chapter
  • First Online:
Wider den Reduktionismus
  • 497 Accesses

Zusammenfassung

Manche Menschen haben hohe Erwartungen an die Wissenschaft. Manche Menschen erwarten von der Wissenschaft, dass sie die Welt vollständig beschreiben wird. Die Wissenschaft wird diese Erwartung aber sicher nie erfüllen – zumindest dann nicht, wenn sie versucht, alle Wahrheiten über die Welt einzeln aufzuzählen. Aber auch der Versuch aus einer endlichen Anzahl von Annahmen eine vollständige Beschreibung zu reduzieren ist zum Scheitern verurteilt.

Vielen Dank an Simon Voderholzer und Lukas Hallmann für die wertvolle Hilfe bei der Beschaffung der Literatur und vielen Dank an Geert Keil für die hilfreiche Diskussion zum Aufsatz (auch wenn es für eine inhaltliche Neuausrichtung des Aufsatzes leider schon zu spät war).

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 29.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as EPUB and PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 39.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Notes

  1. 1.

    Es gibt mindestens genauso viele Wahrheiten wie reelle Zahlen, denn, um nur ein Beispiel zu nennen, jeder reellen Zahl entspricht entweder die Wahrheit, dass diese reelle Zahl eine Primzahl ist, oder aber die Wahrheit, dass diese reelle Zahl keine Primzahl ist.

  2. 2.

    Für unsere Zwecke genügt diese grobe Formulierung des zweiten Unvollständigkeitssatzes. Für eine genauere Darstellung vgl. z. B. Boolos (1996).

  3. 3.

    In diesem Zusammenhang spricht man davon, dass man alle Wahrheiten mithilfe von Wahrheiten über einen bestimmten Bereich reduktiv erklären kann bzw. dass man alle Wahrheiten auf Wahrheiten aus einem bestimmten Bereich reduzieren kann.

  4. 4.

    Wenn man diese Wahrheiten nicht aufzählen könnte, zum Beispiel weil es überabzählbar viele Wahrheiten wären, dann wäre der Traum von der vollständigen Erklärung der Welt durch die Wissenschaft natürlich trotzdem geplatzt. Die These des Reduktionismus impliziert nach meinem Verständnis, dass es Wahrheiten über einen bestimmten Bereich gibt, mit denen man alle Wahrheiten erklären kann, die These des Reduktionismus impliziert nach meinem Verständnis aber nicht, dass es endlich viele Wahrheiten über einen bestimmten Bereich gibt, mit denen man alle Wahrheiten erklären kann.

  5. 5.

    Physikalische Reduktionisten würden zum Beispiel behaupten, dass wir Menschen für alle Wahrheiten im Prinzip eine physikalische Erklärung geben könnten, wenn wir eine vollkommene physikalische Theorie hätten. Sie würden hinzufügen, dass es möglich ist, eine vollkommene physikalische Theorie zu entwickeln – auch dann, wenn wir Menschen niemals eine vollkommene physikalische Theorie entwickeln werden.

  6. 6.

    Zur Unterscheidung zwischen partiellen und vollständigen Erklärungen vgl. Schnieder (2011, S. 450 f.) und Fine (2012, S. 50).

  7. 7.

    Es ist in meinen Augen aufschlussreich, zwischen Erklärungen im uneigentlichen Sinn und Erklärungen im eigentlichen Sinn zu unterscheiden. Im uneigentlichen Sinn erklärt man genau dann, warum p, wenn man etwas behauptet, das erklärt, warum p. Im eigentlichen Sinn erklärt man dagegen genau dann, warum p, wenn man etwas behauptet, das erklärt, warum p, und wenn man zusätzlich behauptet, dass das, was man behauptet, erklärt, warum p. Wenn in meinen Überlegungen davon die Rede ist, dass jemand erklärt, warum p, dann ist damit gemeint, dass er oder sie im uneigentlichen Sinn erklärt, warum p.

    In meinen Überlegungen argumentiere ich also dafür, dass es (wenigstens) eine Wahrheit gibt, die niemand im uneigentlichen Sinn erklären kann. Wichtig ist, zu beachten: Es ist notwendig, dass man das, was man im eigentlichen Sinn erklärt, auch im uneigentlichen Sinn erklärt (denn wer im eigentlichen Sinn erklärt, warum p, der behauptet etwas, das erklärt, warum p). Wenn es eine Wahrheit gäbe, die von jemandem im eigentlichen Sinn erklärt werden kann, dann gäbe es also auch eine Wahrheit, die von jemandem im uneigentlichen Sinn erklärt werden kann. In meinen Überlegungen argumentiere ich also (zumindest indirekt) auch dafür, dass es (wenigstens) eine Wahrheit gibt, die von niemandem im eigentlichen Sinn erklärt werden kann. Egal, ob mit der These des Reduktionismus Erklärungen im eigentlichen oder im uneigentlichen Sinn gemeint sind: Das Ergebnis meiner Überlegungen ist aus diesem Grund in jedem Fall relevant für die These des Reduktionismus.

  8. 8.

    Das Gutachten, das Church verfasst hat, war an Frederic Fitch gerichtet. Fitch (1963) hat diesen Gedankengang dann aufgenommen, verallgemeinert und veröffentlicht. Für die historischen Hintergründe vgl. Salerno (2009). Zwar hat Fitch betont, dass er diesen Gedankengang einem anonymen Gutachten verdankt. Dennoch spricht man heutzutage meist vom „Fitch-Paradox“. Seit bekannt ist, dass das anonyme Gutachten auf Church zurückgeht, spricht man manchmal auch vom „Church-Fitch-Paradox“. Es ist allerdings, wie Williamson (2000, S. 269 f.) zeigt, etwas überzogen, in diesem Zusammenhang von einem „Paradox“ zu sprechen. Aus diesem Grund ziehe ich es vor, in meinen Überlegungen nicht vom „Fitch-Paradox“ oder vom „Church-Fitch-Paradox“, sondern ganz einfach vom „Gedankengang, der auf Church zurückgeht“ zu sprechen.

  9. 9.

    Salerno (2018, S. 461 f.) hat kürzlich in einem kurzen Absatz vorgeschlagen (nachdem ich die Arbeit an meinem Aufsatz bereits begonnen hatte), den Gedankengang, der auf Church zurückgeht, nicht nur auf Wissen, sondern auch auf Erklärungen anzuwenden. Er hat diesen Vorschlag aber weder im Detail ausgearbeitet, noch ist er auf die Bedeutung dieses Vorschlags für die These des Reduktionismus oder für unsere Erwartungen an die Wissenschaft eingegangen. Ich unterscheide in meinem Aufsatz, anders als Salerno, zwischen partiellen und vollständigen Erklärungen, zwischen eigentlichen und uneigentlichen Erklärungen, gehe im Detail auf die These des Reduktionismus und auf unsere Erwartungen an die Wissenschaft ein und kann damit, anders als Salerno, mit zahlreichen Variationen des Gedankengangs, der auf Church zurückgeht, nicht nur gegen den Reduktionismus und gegen schwächere Versionen des Reduktionismus argumentieren; ich kann auch zeigen, was für eine Bedeutung dieser Gedankengang für unsere Erwartungen an die Wissenschaft hat.

  10. 10.

    Es gibt schon allein deshalb Wahrheiten, die niemand vollständig erklärt (und die auch niemand jemals vollständig erklären wird), weil es Wahrheiten gibt, die niemanden interessieren (und die auch niemanden jemals interessieren werden). Ein kurzes Beispiel: Entweder die Quersumme der Anzahl der Haare auf meinem Kopf ist gerade eine Primzahl, dann wird niemand jemals vollständig erklären, warum die Quersumme der Anzahl der Haare auf meinem Kopf gerade eine Primzahl ist, oder die Quersumme der Anzahl der Haare auf meinem Kopf ist gerade keine Primzahl, dann wird niemand jemals vollständig erklären, warum die Quersumme der Anzahl der Haare auf meinem Kopf gerade keine Primzahl ist. Es gibt also eine Wahrheit, die niemand vollständig erklärt (und die auch niemand jemals vollständig erklären wird).

  11. 11.

    Zur Faktivität von Erklärungen vgl. Schnieder (2011, S. 451) und Fine (2012, S. 4850).

  12. 12.

    Der physikalistische Reduktionismus würde dann, im Unterschied zum physikalistischen Eliminativismus, zugeben, dass es mentale Phänomene und damit Wahrheiten über mentale Phänomene gibt; er würde aber behaupten, dass man alle Wahrheiten über mentale Phänomene auf Wahrheiten über physikalische Phänomene reduzieren kann.

  13. 13.

    Die Wahrheit, dass Quarks eine Spinquantenzahl haben und dass Napoleon die Schlacht von Waterloo im Jahr 1815 verloren hat, ist eine Wahrheit über physikalische Phänomene (weil die Wahrheit, dass Quarks eine Spinquantenzahl haben, eine Wahrheit über physikalische Phänomene ist). Die Wahrheit, dass Leibniz und Newton die Infinitesimalrechnung entwickelt haben und dass \(\pi \) eine irrationale Zahl ist, ist eine Wahrheit über mentale Phänomene (weil die Wahrheit, dass Leibniz und Newton die Infinitesimalrechnung entwickelt haben, eine Wahrheit über mentale Phänomene ist).

  14. 14.

    Der Grund, warum es einer Modifikation bedarf, um zu zeigen, dass es Wahrheiten gibt, die nicht einmal zum Teil erklärt werden können, ist, dass das Konjunktionsprinzip, das für vollständige Erklärungen gültig ist, für partielle Erklärungen ungültig ist. Es ist zum Beispiel möglich, dass jemand zum Teil erklärt, warum sich jede positive ganze Zahl als Produkt von Primzahlen darstellen lässt und warum das Licht, das von einer Galaxie ausgeht, ein bestimmtes Verhältnis von Wellenlängenänderung und ursprünglicher Wellenlänge aufweist (weil jemand erklärt, warum sich jede positive ganze Zahl als Produkt von Primzahlen darstellen lässt), dass aber niemand zum Teil erklärt, warum das Licht, das von einer Galaxie ausgeht, ein bestimmtes Verhältnis von Wellenlängenänderung und ursprünglicher Wellenlänge aufweist. Das Konjunktionsprinzip, das für vollständige Erklärungen gültig ist, ist also für partielle Erklärungen ungültig. Zur partiellen Erklärung von Konjunktionen durch ihre Konjunkte vgl. Schnieder (2011, S. 454).

  15. 15.

    Es ist nicht schwierig zu zeigen, dass eine noch schwächere Version des Reduktionismus (eine Kombination von lokalem und schwachem Reduktionismus, wonach alle Wahrheiten über einen bestimmten Bereich mithilfe von Wahrheiten über einen bestimmten Bereich zumindest zum Teil erklärt werden können) ebenfalls zum Scheitern verurteilt ist. Hierfür genügt es, das Argument gegen den lokalen Reduktionismus und das Argument gegen den schwachen Reduktionismus auf naheliegende Weise zu kombinieren.

  16. 16.

    Manch einer wird behaupten, dass mein Ergebnis (zumindest mein Ergebnis, dass es Wahrheiten gibt, die man nicht vollständig erklären kann) ohnehin nicht überraschend ist – zumindest dann nicht, wenn man bedenkt, dass es Gründe gibt, anzunehmen, dass es physikalische Wahrheiten gibt, die man nicht vollständig erklären kann (zum Beispiel physikalische Wahrheiten über den Zerfall eines Radiumatoms).

  17. 17.

    Für eine ausführliche Verteidigung dieses erkenntnistheoretischen Prinzips vgl. Williamson (2000, S. 275–282).

Literatur

  • Boolos, G. (1996). The logic of provability. Cambridge: Cambridge University Press.

    Google Scholar 

  • Cantor, G. (1892). Über eine elementare Frage der Mannigfaltigkeitslehre. Jahresbericht der Deutschen Mathematiker Vereinigung, 1, 75–78.

    Google Scholar 

  • Fine, K. (2012). A guide to ground. In von F. Correia & B. Schnieder (Hrsg.), Metaphysical grounding. understanding the structure of reality (S. 37–80). Cambridge: Cambridge University Press.

    Google Scholar 

  • Fitch, F. B. (1963). A logical analysis of some value concepts. Journal of Symbolic Logic, 28, 135–142.

    Google Scholar 

  • Gödel, K. (1931). Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I. Monatshefte für Mathematik, 38, 173–198.

    Google Scholar 

  • Kripke, S. (1959). A completeness theorem in modal logic. Journal of Symbolic Logic, 24, 1–14.

    Google Scholar 

  • Salerno, J. (2009). Knowability Noir: 1945–1965. In von J. Salerno (Hrsg.), New essays on the knowability paradox (S. 29–48). Oxford: Oxford University Press.

    Google Scholar 

  • Salerno, J. (2018). Knowability and a new paradox of happiness. In von H. Van Ditmarsch & G. Sandu (Hrsg.), Jaakko Hintikka on knowledge and game-theoretical semantics (S. 457–474). Berlin: Springer.

    Google Scholar 

  • Schnieder, B. (2011). A logic for ‘because’. The Review of Symbolic Logic, 4, 445–465.

    Article  Google Scholar 

  • Williamson, T. (2000). Knowledge and its limits. Oxford: Oxford University Press.

    Google Scholar 

  • Williamson, T. (2007). The philosophy of philosophy. Oxford: Blackwell.

    Book  Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Marco Hausmann .

Editor information

Editors and Affiliations

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2021 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature

About this chapter

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this chapter

Hausmann, M. (2021). Unerklärliche Wahrheiten. In: Passon, O., Benzmüller, C. (eds) Wider den Reduktionismus. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-63187-4_9

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-63187-4_9

  • Published:

  • Publisher Name: Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg

  • Print ISBN: 978-3-662-63186-7

  • Online ISBN: 978-3-662-63187-4

  • eBook Packages: Social Science and Law (German Language)

Publish with us

Policies and ethics