Skip to main content
Log in

Wie die Morgenröthe zwischen Nacht und Tag Alexander Gottlieb Baumgarten und die Begründung der Kulturwissenschaften in Frankfurt an der Oder

  • Published:
Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

A. G. Baumgartens Aesthetica (Frankfurt an der Oder 1750–58) enthalten in nuce die Begründung der Kulturwissenschaften. Zwischen Leibniz, Wolff und Kant ist der rhetorische Anteil in der von Ramus über Descartes zu Baumgarten führenden Linie unterschätzt worden, in welcher die transzendentale Grundlegung der neuen Ästhetik die lateinische Tradition Quintilians wiederbelebt, nicht hinter sich läβt.

Abstract

A.G. Baumgarten’s Aesthetica (Frankfurt an der Oder 1750–58) contains in nuce the foundation of ’Kulturwissenschaft’, or cultural analysis. Between Leibniz, Wolff, and Kant, the rhetorical part has been underestimated in the line which runs from Ramus through Descartes, and leads to Baumgarten whose transcendental grounding of aesthetics reanimates rather than leaves behind the Latin tradition of Quintilian.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this article

Price excludes VAT (USA)
Tax calculation will be finalised during checkout.

Instant access to the full article PDF.

Literature

  1. Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, Trajecti eis Viadrum 1750; Aestheticorum pars altera, Francofurti eis Viadrum 1758, 624 (letzter Paragraph, letzter Satz).

    Google Scholar 

  2. Ich folge der in den Details der verstreuten biographischen Nachrichten gründlichen Einleitung, die Ursula Niggli ihrer kommentierten Ausgabe von Baumgartens Metaphysik-Vorreden vorangestellt hat: Alexander G. Baumgarten, Die Vorreden zur Metaphysik, hrsg. Ursula Niggli, Frankfurt a.M. 1999. Niggli wertet die zeitgenössischen, nach Baumgartens frühem Tod erschienenen biographischen Versuche von Georg Friedrich Meier und Thomas Abbt aus, auf die ich mich hier beziehe, ohne sie für diesen Zweck im einzelnen zu zitieren.

  3. Günter Mühlpfordt, „Alexander Gottlieb Baumgarten und die Europa-Wirkung der Frankfurter Aufklärer“, in: Krysztof Wojciechowski (Hrsg.), Die wissenschaftlichen Gröβen der Viadrina, Frankfurt an der Oder 1991, 115. Die neueste Darstellung der Universitätsgeschichte von ihren Anfängen, Martin Kintzinger, „Frankfurt an der Oder: Eine moderne Universität?“ in: Sönke Lorenz (Hrsg.), Attempto–oder wie stiftet man eine “Universität: Die Universitätsgründungen der sogenannten zweiten Gründungswelle, Stuttgart 1999, 209–236, nimmt ihre Titelfrage aus dem Bericht von Mark Siemons, „Mit Derrida über den Fluβ,“ in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Januar 1996: „von der letzten Universität vor der Moderne zur ersten nach der Moderne“ (211, Anm. 10).

    Google Scholar 

  4. Howard Caygill, „Über Erfindung und Neuerfindung der Ästhetik“, Deutsche Zeit schriftfür Philosophie 49 (2001), 233–241, hier: 235; dt. Übersetzung eines Vortrags auf der Tagung „Setzung und Composita“ des DFG-Graduiertenkollegs Repräsentation-Rhetorik-Wissen der Europa-Universität Viadrina vom 25. bis 27. November 1999, gedruckt als Einleitungsbeitrag des Themenschwerpunkts „Zur Aktualität der Ästhetik von Alexander G. Baumgarten“, hrsg. Christoph Menke.

    Google Scholar 

  5. Dieter Henrich, „Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel)“, in: Wolfgang Iser (Hrsg.), Immanente ÄsthetiklÄsthetische Reflexion: Lyrik als Paradigma der Moderne (Poetik und Hermeneutik II), München 1966, 11–32, brachte die von Hegel berechnete Belastung auf die Formel vom „partialen Charakter“ der modernen Kunst und der daraus resultierenden „doppelten Reflexion“ (31). Der Name Baumgarten fällt nicht, da Hegel das Problem nach Kant aufgreift. Beides, die notwendige Partikularität des Gedichts und die Doppelung der ästhetischen Reflexion–das macht den paradigmatischen Charakter der Lyrik aus, für den Henrichs Papier entworfen ist -, entsprechen Baumgartens Lösung für den von Hegel diagnostizierten Stand des Problems, einschlieβlich der von Henrich beobachteten „Grundzüge der Moderne“ seit der Renaissance, nämlich: „nicht nur die Gewiβheit, dennoch aus unverfügbarem Grunde zu sein, sondern auch das Wissen, daβ dieser Grund … unzugänglich bleibt“ (18). Vgl.

    Google Scholar 

  6. Eva Geulen, Das Ende der Kunst: Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt a.M. 2002, Kap. 2.

    Google Scholar 

  7. Vf. „Metaphora dis/continua: Figure in de/construction. Mit einem Kommentar zur Begriffsgeschichte von Quintilian bis Baumgarten“ (1995), in: Eva Horn, Manfred Weinberg (Hrsg.), Allegorie: Konfiguration von Text, Bild und Lektüre, Opladen 1998, 29–45. Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck, Tübingen 1991, beschreibt den Prozeβ der „Rhetoriktilgung“, in dem ästhetische Wirkung erst über eine bis zur Unkenntlichkeit geführte Tieferlegung der rhetorischen Techniken möglich geworden wäre.

    Google Scholar 

  8. Moses Mendelssohn, A.G. Baumgarten, Aestheticorum Pars altera (1759), in: Gesammelte Schriften (Jubiläumsausgabe), bearb. Eva J. Engel, Stuttgart 1977, IV, 263–275. Mendelssohns Rezension ist nicht nur die einfühlsamste Würdigung, sondern die einzig kongeniale, was anläβlich des bis heute verkannten zweiten Teils der Aesthetica besonders deutlich ist, aber auch besonders kraβ übersehen.

    Google Scholar 

  9. Johann Gottfried Herder, Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften (1767), in: Sämtliche Werke, hrsg. Bernhard Suphan, Berlin 1899, XXXII, 190–192. In Herders eigener Absicht einer historisierten Ästhetik, die allein bei Herder „das Feld der Deutschen“ noch sein kann, ist der „griechische Baumgarten“ nicht als Postulat, sondern als eine „geniale Fiktion, ein sentimentalisches Als-ob“ im Sinne Heinz-Dieter Webers zu denken, Friedrich Schlegels Transzendentalpoesie: Untersuchungen zum Funktionswandel der Literaturkritik im 18. Jahrhundert, München 1973, der Herder so seinen Platz zwischen Baumgarten und Schlegel anweist (105).

    Google Scholar 

  10. Georg Friedrich Meier, Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, Halle 1763, 10.

    Google Scholar 

  11. Thomas Abbt, A. G. Baumgartens Leben und Charakter, Halle 1765, 11.

    Google Scholar 

  12. Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, 477; das folgende längere Zitat 455/56 (mit Cassirers Hervorhebungen).

    Google Scholar 

  13. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (1923–29), 2. Aufl., Darmstadt 1953, II, 118 (seine Hervorhebung). Vgl. Steffen Groβ, „Felix Aestheticus und Animal Symbolicum. Alexander Gottlieb Baumgarten: Die ‚vierte Quelle ‘der Philosophie Ernst Cassirers“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 (2001), 275–298, der dieses für Cassirers Horizont wichtige Zitat dem zweiten Teil „Das mythische Denken“ entnimmt (278/79) und damit möglicherweise auch Cassirers älteres Interesse an Baumgarten trifft, aber eben nicht Baumgarten und womöglich auch nicht mehr Cassirers verbesserte Darstellung in der Philosophie der Aufklärung. In dem älteren Groβentwurf der „symbolischen Formen“ und des „mythischen Denkens“ kommt Baumgarten bei Cassirer nicht vor. Mary J. Gregory hatte im Zuge ihrer Neueinschätzung, „Baumgarten’s Aesthetica“, Review of Metaphysics 37 (1983), 357–385, schon Susanne Langers Philosophy in a New Key, Cambridge MA 1942, als eine Wiederbelebung Baumgartens auf Cassirers Spuren gefeiert (382), und Francis Sparshott, The Structure of Aesthetics, Toronto 1963, das dem entsprechende Konzept einer Schiller nacheifernden „education of perception“ entworfen (4).

    Google Scholar 

  14. Der „kopernikanische Komparativ“ ist ein beständiges Motiv der Metaphorologie Hans Blumenbergs, ausführlich als TeilV der Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a.M. 1975, sowie mit Nachwirkungen in Kapitel XIII der Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981. Der hier relevante Punkt ist die Terminologisierung der, in Termini der Renaissance, auf die ich zurückkommen werde, makrokosmischen Metaphorik vis à vis den Niederungen der sinnlichen ‚Welt‘. Vgl. Vf. „Die Technik der Rhetorik“, Nachwort zu: Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a.M. 2001, 433–454, hier: 440.

    Google Scholar 

  15. Vgl. Howard Caygill, Art of Judgement, Oxford 1989, 148–171. Schon Marie Luise Linn, „A.G. Baumgartens Aesthetica und die antike Rhetorik“, DVjs 41 (1967), 424-443, hatte, wenn auch mit zuviel Respekt vor der philosophischen Orthodoxie, das rhetorische Substrat in seinen tragenden Teilen herausgearbeitet, es aber leider bei der notorischen „Übergangsstellung“ gelassen (442). Immerhin hatte sie die Quintilianische Herkunft von Baumgartens figura cryptica (bei Quintilian nicht terminologisch) erkannt, und das hieβe, genauer gelesen, die den Tropen bei Quintilian innewohnende Latenz als in Baumgartens Sinne ästhetische Voraussetzung (Anm. 70).

    Google Scholar 

  16. Monika M. Langer, Merleau-Ponty’s Phenomenology of Perception, Tallahassee FL 1989, paraphrasiert mit diesem Begriff Merleaus Bezug auf Kant (76). Am nächsten in der Philosophie nach Merleau-Ponty kommt Baumgarten, soweit ich sehe

    Book  Google Scholar 

  17. Jean-Luc Nancy, Les muses, Paris 1994, der die Linie Descartes-Merleau über Freud führt (Kap. 1), und Jacques Derrida hat in einer Würdigung Nancys, Le toucher, Jean-Luc Nancy, Paris 2000, diese Engführung von Aristoteles ‘De Anima auf ein Nachlaβfragment Freuds hin zugespitzt, „Die Psyche ist ausgedehnt, weiβ nichts davon“ (22). Wie Baumgarten präzisiert Nancy die cartesische condition der res extensa als ein grundlegendes, generisches Auβer-sich-Sein der aisthesis. Deren körperliches, körper-stiftendes Paradigma ist die Selbstberührung als corpus selbst-affektiver, über das Selbst hinaus reichender Reichweite (34–36). Die exemplarische Priorität der Berührung vor dem Sehen liegt in der undurchsichtigen Logik der Autoaffektion ohne jede mediale, durch Mittel vermittelte Zwischenschaltung. Ganz wie bei Baumgarten beruht deshalb Poesie für Nancy auf der „technischen“ (darin „paradoxen”) Produktion eines quasi „sinnlichen Wesens“ (seine Anführungszeichen), deren poiesis notwendig „singular und absolut“ ist, aber auf „nichts anderes als die Produktion von Sinn” angelegt ist, und also nichts anderes als die Produktion von Sinn ist (52–53; seine Hervorhebung, meine paraphrastische Zuspitzung). Woraus auch bei Nancy der pars pro toto synekdochische Charakter der Poesie für die Kunst entspringt, mitsamt der totum pro parte totalisierenden Funktion der Dichtung für die Technik (54; seine Termini).

    Google Scholar 

  18. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, 166–169, hier: 192. Heidegger denkt an Baumgarten nicht, aber er bestätigt, was ich Baumgartens „ursprüngliche Einsicht“ nenne: „Die sprachliche Wendung (des rationem reddere) ist zwar bei den alten Römern und bei Leibniz dieselbe, aber gerade dies Selbe“, behauptet Heidegger, habe „sich seinsgeschichtlich auf eine Weise gewandelt, daβ es die Prägung der neuzeitlichen Epoche einleitete und das vorbereitete, was durch Kants Denken unter dem Titel des ‚Transzendentalen ‘ans Licht gehoben wurde“ (169; meine Ergänzung).

    Google Scholar 

  19. Rüdiger Campe, „Bella evidentia: Begriff und Figur von Evidenz in Baumgartens Ästhetik“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 (2002), 243–255, hier: 246. Im Hintergrund Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1935), hrsg. Elisabeth Ströker, 3. Aufl., Hamburg 1996, der in einer langen Seitenbemerkung es „eine schlimme Erbschaft der psychologischen Tradition seit Lockes Zeiten“ nennt, „daβ beständig den sinnlichen Qualitäten der in der alltäglich anschaulichen Umwelt wirklich erfahrener Körper… unterschoben werden die sinnlichen Daten’, ‚Empfindungsdaten ‘…“ (29–30, Anm. 1, Husserls Hervorhebungen). Ferdinand Fellmann, Phänomenologie als ästhetische Theorie, Freiburg i.B. 1989, sieht den möglichen Anschluβ an Baumgarten hauptsächlich in Husserls Motiven zu einer „Eidetik als Protologik“, in welcher die „Einheit von Sinnlichkeit und Sinnhaftem im Bild“ zu suchen ist: wo sie „den eigentlichen Term des Apriori der Wesensanschauung ausmacht“ (115). Baumgarten geht noch vor diese Schicht der Konkretisierung zurück, so daβ für alle sinnlichen ‚Bilder ‘je eigene ‚Eidetiken ‘zu postulieren wären, worunter der des Tastsinnes die Rolle einer von Berkeley bis Nancy besonders pointierten Gegen-Darstellung zur optischen zuwächst.

    Google Scholar 

  20. Joachim Ritter, „Ästhetik“, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971, I, 555–580, hier: 556/7. In der „Umwälzung“ stimmt Ritter mit Alfred Baeumler überein, der damit Das Irrationalitätsproblem in der ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts, Halle an der Saale 1923, auf den „Einbruch des Individualismus“ in der Renaissance datierte, und für den das analogon rationis deshalb nichts als eine der vielen Pseudo-Logiken „neben der Logik“ sein kann, die in der Zeit florierten (192; seine Hervorhebung). Tatsächlich aber postuliert Baumgarten eine Analog-Logik im streng logischen Verstände, deren Organon die Ästhetik sein soll. Aus ihr folgt, in der verknappten Übersicht des § 1 der Aesthetica, die abgestufte Rolle der Ästhetik als der „Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis“, scientia cognitionis sensitivae, aus der die methodische „Kunstlehre“, ars analogi rationis hervorgeht. Der detailierte Kommentar von Michael Jäger, Kommentierende Einführung in Baumgartens Aesthetica, Hildesheim 1980, gibt zu der wissenschaftslogischen Schachtelung des § 1 zwar eine Menge Hinweise (5–42), verpaβt aber die logische, übrigens dezidiert nach-aristotelische Pointe. Diese erhellt sich an prominentester Stelle aus den Verdeutlichungen, die Baumgarten in der zweiten Vorrede zur Metaphysik (siehe oben, Anm. 3) an der Verwendung des Substanzbegriffs vorgenommen hat (22).

    Google Scholar 

  21. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. Karl Vorländer (Philosophische Bibliothek), 6. Aufl., Hamburg 1924, 27/28.

  22. Andrea Kern, Schöne Lust: Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant, Frankfurt a.M. 2000, formuliert konzise, „Der Einwand Kants gegen die Vollkommen heitsästhetik lautet nicht, daβ sie eine falsche Ästhetik sei, weil sie Schönheit als Erkenntnis einer Vollkommenheit bestimmt, sondern daβ sie gar keine Ästhetik sei, weil sie recht besehen die Erfahrung des Schönen überhaupt nicht von der logischen Erkenntnis unterscheiden kann“ (84). Tatsächlich ist die ästhetische Erfahrung (nur) proto-ästhetisch (logisch), sofern die „objektive Zweckmäβigkeit“ der Form, die ästhetisch zu Buche schlägt, so sehr im Gegenstand liegt, daβ nach Baumgarten, wie Kern referiert, „dieser Erkenntnis nicht (ich ergänze: nicht schon) wie in einem logischen Urteil ein bestimmter Begriff zugrunde liegt“, nicht zu sagen: liegen kann (83). Kants Lust an der „bloβen Form des Gegenstandes für die Reflexion“ verlängert den logischen Moment des ästhetischen Vollzugs in die Teleologie des Gegenstands hinein, so daβ die ästhetische Vollendung–perfectio qua finis–der zu sich kommenden Wahrnehmung sich in die Vollkommenheit des Gegenstandes als eines ästhetisch konstituierten fortsetzt: Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae qua talis. Haecautem est pulcritudo (Aesthetica § 14). Anders als Hans Rudolf Schweizer in seinem Kommentar zu diesem Paragraphen, Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, Basel 1973,21, beziehe ich talis auf perfectio, welche finis ausführt. Schweizer kommt dem in der Sache nahe, wenn er später zusammenfaβt: „nicht die ‚prästabilierte Harmonie ‘von erkennendem und erkanntem Sein steht in Frage, sondern der Prozess der ästhetischen Aktivität in jedem Sinne“ (84).

    Google Scholar 

  23. Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Acroasis logica in Christianum L.B. de Wolff, Halle 1761 (Wolff, Gesammelte Werke, III/5, Hildesheim 1983), Cap. I „Noetica“. Die Unterscheidung wird auch von Kant durchgehend übernommen.

    Google Scholar 

  24. Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis: Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten (Studia Leibnitiana, Suppl. IX), Wiesbaden 1972, 107. Es ist allerdings nicht so, „daβ eine ästhetische Einheit an diesen Materialien vorgestellt wird“, oder auch nur vorzustellen wäre, wie Franke meint (ebd.); diese kommt, wenn es dazu kommt, als oder in der „Vorstellung“ zustande. „Die Streitfrage“, wie sie Heinz-Dieter Weber faβte (Anm. 10), „ob die von Baumgarten gemeinte Vollkommenheit der Gegenstand einer sensitiven Erkenntnis (als einer solchen) ist oder aber eine bestimmte Beschaffenheit dieser Erkenntnis“, in welcher es „um eine durch die unteren Erkenntnisvermögen wahrnehmbare Erscheinung der Vollkommenheit oder um die formale Vollkommenheit einer Erscheinung“ ginge (33; seine Klammer, meine Hervorhebung), ist insofern müβig (und deshalb „schon für die Zeitgenossen … unentscheidbar“), als die Vollkommenheit die der zustande kommenden Wahrnehmung an sich („als einer solchen“) ist, perfectio cognitionis sensitivae qua talis (Aesthetica § 14). Für den vollendeten, in der Vollendung perfekten Vollzug wird dann die Konstellation wichtig, die zu der von Franke zitierten „Harmonie“ von Stoff, Struktur, Ausdruck in einer „Vielfalt von Bestandteilen“ gedeihen muβ. Diesen hat sich zuerst die Abhandlung von Armand Nivelle, Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, Berlin 1960, gewidmet (18). Das in der historischen Filiation wichtige, aber einseitig auf Leibniz bezogene Buch von Franke verkennt über der privilegierten Nähe der Kunst zu den Quellen der Erkenntnis die grundsätzliche Differenz, die im poema der Meditationen ihren Nullpunkt hatte, den Grenzwert der absoluten Nähe des degree zéro aber mit der absoluten, paradoxen Singularität blinden Ausdrucks bezahlte.

    Google Scholar 

  25. Vgl. John Milton, Artis Logicae Plenior Institutio ad Petri Rami Methodum concinnata (1672), in: Complete Prose Works, hrsg. D.M. Wolfe, New Haven CT 1982, VIII, 395.

    Google Scholar 

  26. David E. Wellbery, Lessing’s Laocoon: Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason, Cambridge MA 1984, Kap. 2. Wellberys trockene Ankündigung, „The representational theory replaces rhetoric with semiotics“ (47), trifft nur auf die zeitgenössische Schwundstufe der Rhetorik zu, so daβ der „paradigm-shift“, den Wellbery bei Baumgarten wahrnimmt, „the rubric elocutio … assimilated into the theory of aesthetic representation“ (69), zwar die Seite der Folgerungen, aber nicht die Neuveranlagung der tiefergelegten rhetorischen Grundlagen der Aesthetica trifft.

    Google Scholar 

  27. Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, Halle 1739, Editio VII (1779), 174; im Auszug der Texte zur Grundlegung der Ästhetik, hrsg. Hans Rudolf Schweizer (Philosophische Bibliothek), Hamburg 1983, 2 (meine Paraphrase). „Die Muse animiert“, beginnt Nancy sein Buch (Anm. 16). Das variierte Motiv des Cogito ergo sum zitiert, damals noch präsent und Baumgarten gewiβ bewuβt, das „cogito augustinien“ aus De trinitate X.x.14, das seinerseits Plotins Enneaden V.iii.l aufnimmt. Vgl. die Ausgabe der Bibliothèque Augustinienne, La Trinité (Œuvres de Saint Augustin 15–16), hrsg., übers.u. komm. P. Agaèsse, J. Moingt, Paris 1955, II, 149, Kommentar 603ff., bes. 607.

    Google Scholar 

  28. Walter J. Ong, S. J., Ramus: Method and the Decay of Dialogue from the Art of Discourse to the Art of Reason (1958), Cambridge MA 1983, 306–307. Der bildungsgeschichtliche Kontext, in den Ong andernorts, in: Rhetoric, Romance, and Technology. Studies in the Interaction of Expression and Culture, Ithaca NY 1971, diese Diskussion eingebettet gesehen hat, der des „Learned Latin“, ist durch einen Zug zur fiktiven Mündlichkeit geprägt (268), deren Sollwerte, Prägnanz und Pointenreichtum, von Baumgarten virtuos beherrscht werden, in dieser Virtuosität aber kaum mehr auf faβbar sind.

    Google Scholar 

  29. Joachim Ritter, „Landschaft: Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“ (1963), in: ders., Subjektivität, Frankfurt a.M. 1974, 141–163. (Die Universität Konstanz, zu deren Gründungsausschuβ Ritter gehörte, ist im Text nicht genannt.)

    Google Scholar 

  30. Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1748–50), Erster Theil, 2 Aufl., Halle 1754, §91, 188; paraphrasiert bei Ritter (Anm.30), 156.

    Google Scholar 

  31. Theodor Verweyen, „Emanzipation der Sinnlichkeit im Rokoko? Zur ästhetiktheoretischen Grundlegung und funktionsgeschichtlichen Rechtfertigung der deutschen Anakreontik“, GRM 25 (1975), 276–306, hat die Rolle Baumgartens für die Hallenser Anakreontik, insbesondere anhand von Gleims Gedicht An Herrn Professor A.G. Baumgarten in Frankfurth aus den Scherzhaften Liedern, hervorgehoben und damit die wirkungsgeschichtlichen Aspekte, auf die Meier, Sulzer, Eschenburg allen Wert legten, nachgezeichnet. So wichtig es ist, daβ Baumgartens Lehre weniger dunkel war als seine lateinischen Lehrbücher, so gewiβ ist doch auch, daβ der Schlüssel des Erfolgs, „die Sinnlichkeit als Thema und Prinzip der Kunst“, die Verweyen ins rechte Licht zu setzen versucht (289), ein bis zu diesem Referenten sich fortsetzendes Miβverständnis geblieben ist. Denn in Gleims Gedicht ist es ja nicht so, daβ die „Mädchen zwingen (überreden), Daβ sie plötzlich schweren (schwören) müssen, Mich zu lieben, wenn ich liebe“, dem Herrn Professor Baumgarten für allfällige Beihilfe zum erschlichenen Beischlaf danken soll (Versuch in Scherzhaften Liedern, hrsg. Alfred Anger, Tübingen 1964, 95). Sondern es handelt sich um die explizit markierte anakreontische Parodie der Rhetorik transzendental gesetzter Selbst-Affektion. Keinesfalls ist Gleim, dem Juristen am Halberstädter Domkapitel, wenn er sich über das Standard-Tabu seiner Profession erhebt, zuzumuten, er breche es frivol, und die Ästhetik sei das Alibi. Gleim legt an derselben Stelle der lyrischen „Doris“ die Ermahnung an ihre „liebenswürdigen Mitschwestern“ in den Mund: „Schliesset niemals aus den Schriften der Dichter auf die Sitten derselben…“ (Scherzhafte Lieder, 71).

    Google Scholar 

  32. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Frankfurt a.M. 1998, 99.

    Google Scholar 

  33. Vgl. Andreas Prater, „Sehnsucht nach dem Chaos: Versuch über das ‚Sfumato ‘der Mona Lisa“, in: Johannes Kirschenmann, Ellen Spickernagel (Hrsg.), Ikonologie und Didaktik, Weimar 1999, 89–105 sowie

    Google Scholar 

  34. Klaus Krüger, Das Bild als Schleier des Unsichtbarem Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit, München 2001, 123 ff. Die Literatur zu Mona Lisa hat sich von der prekär gewordenen Interpretation des Bildes ganz auf die Analyse des Museums-Betriebs verlagert, in dem es zum Klischée verblaβt ist. Benjamins Begriff der ‚Aura ‘ist hier näherhin einschlägig, sofern die Aura zwar „bezogen ist auf das Verlorene, aber“, wie Bettine Menke, Sprachfiguren: Name-Allegorie-Bild nach Walter Benjamin, München 1991, vertieft, „nicht als eine verlorene ‚gewesene‘, vormoderne (ans Kultische gebundene) Form der Gegebenheit von Gegenständen, sondern als Form und/oder Daseinsmodus des Immer-schon-Verloren-Gewesen-Seins“ (247). Die historistische Implikation der Aura dramatisiert, was sich in der transzendentalen Konstitution an Geschichte entzieht. Horst-Michael Schmidt, Sinnlichkeit und Verstand-. Zur philosophischen undpoetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung, München 1982, der versucht hat, die „sinnlich-visuelle Erfahrung“ als historisch zu erweisen (251 ), deckt auf paradoxe Weise in dem mühsam gewonnenen transzendentalen Diskurs die Schicht der empiristischen Motivationsrückstände auf, die dessen Punkt gerade nicht ist, wiewohl sie zweifellos das Wirrwarr der Ästhetik-Geschichte als Applikations- und Reflexions-Geschichte betrifft: der von Harold Bloom und Paul de Man als notwendig erkannten Rezeptions-Formationen der ‚mis-readings‘, in der Romantik verinnerlichtes Erbe der in der ‚ästhetischen Ideologie ‘übersprungenen, konstitutiven ‚Blindheit ‘des Ästhetischen.

    Google Scholar 

  35. Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910), in: Studienausgabe, hrsg. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt a.M. 1969, X, 135.

  36. Klaus Herding, Freuds Leonardo (Vorträge der Carl Friedrich von Siemens Stiftung), München 1998, hat Freuds Abhängigkeit von Pater auf „die der Gesprächspraxis der Psychoanalyse entstammenden Begriffe Übertragung und Gegenübertragung“ bezogen, „wohl wissend, daβ das Bild als Produkt von anderer Art ist denn das Gespräch als Prozeβ“ (63). Daβ in der Mona Lisa, wie Herding Marx induziert, „der ephemere, prozessuale Ausdruck eines Gesprächs im Gemälde irrevokabel gefroren“ sei (Herdings Hervorhebungen ebd.), unterlegt und repetiert die figura cryptica Baumgartens in Stande ihres Miβverständnisses der utpictura poesis. Wenn Herding diesen metaphorologischen Untergrund als Ausdruck eines „vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert“ nachweisbaren „Normenkonflikts“–„die Möglichkeit eines kommenden Lächelns“, ohne daβ ein „wirkliches Lächeln zustande“ käme–literalisiert (64), so ist der Effekt der figura cryptica, die Verkehrung von Genesis und Geltung ebenso treffend nachvollzogen wie verkannt. Das kann man von Paters Text nicht sagen; er exponiert die Grundlage, auf der Freud den Grundzug der Verkennung erkennt.

    Google Scholar 

  37. Walter Pater, The Renaissance: Studies in Art and Poetry ( 1873, 1877), hrsg. Adam Phillips, Oxford 1986, 79/80 (meine Ergänzungen in Klammern).

  38. Ulla Haselstein, „Et in Arcadia Ego: Walter Paters Gedächtniskonzept“, in: Anselm Haverkamp, Renate Lachmann (Hrsg.), Gedächtniskunst: Raum-Bild-Schrift, Frankfurt a.M. 1991, 263–294, hat Paters „avant la lettre psychoanalytische“ Stilisierung der Renaissance (266), die dem Künstler „a cryptic language for fancies all his own“ verleiht (The Renaissance, 78), als „transindividuellen Text“ gelesen (275), der durch Pater zum kulturwissenschaftlichen Grundmythos ‚Renaissance ‘geworden ist.

    Google Scholar 

  39. T. S. Eliot, Arnold and Pater (1930), in: Selected Essays, London 1932; nach Phillips (Anm. 36), xvii. Eliots Waste Land datiert von 1922. Die von Pater angerichtete Gefühlsverwirrung folgt Arnolds Provokation, deren kulturwissenschaftliche Reichweite unbestritten ist (zuletzt aktualisiert von Tim Walters, „The Question of Culture (and Anarchy)“, MLN 112 [1997], 349–365)

    Google Scholar 

  40. deren Pater’sche Weiterführung dagegen (entscheidend radikalisiert durch Geoffrey H. Hartman, Criticism in the Wilderness, New Haven CT 1980, 46) immer noch nicht ausgestanden ist.

    Google Scholar 

  41. Wie die abwägende Darstellung von Raymond Williams in Culture and Society 1780–1950 (1956), Harmondsworth 1971, nach wie vor plausibel macht, steht Paters Provokation unübertroffen: „What we reject in Pater is his instances“, klagt Williams (i.e. the „instance“ Mona Lisa), „and the substance of these instances is his style at its worst“ ( 171 ). Er bezweifelt Pater auf dem eigenen Gelände, dem des Stils, während er Eliots Kritik ideologiekritisch miβdeutet; Eliot liegt es an der im Arcanum der Religion verborgenen poetischen Pointe, die er den Metaphysical Poets schuldet. Für den vorliegenden Zweck überschlagen heiβt das: Pater trägt in die nach-hegelsche Funktionsbestimmung der Kunst durch Arnold die ursprüngliche, transzendentale Provokation Baumgartens wieder ein, die mit Meier schon verloren ging, um dem Preis bis heute nicht kontrollierter hermeneutischer Anschlüsse wie Kurzschlüsse.

    Google Scholar 

  42. Ernst Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), Darmstadt 1961, 10 u. 25.

    Google Scholar 

  43. Paul Ricœurs groβe Studie De l’interprétation: Essai sur Freud, Paris 1965, beginnt mit einer Kritik Cassirers, indem er dessen „zu weite Definition“, symbolische Formen als eine „allgemeine Vermittlungsfunktion“ der Synthese aufzufassen, in all ihren nachkantischen Vorteilen würdigt, die transzendentale Verflachung des Symbolbegriffs aber vor dem Anspruch der Psychoanalyse beklagt: „Wie gibt der Mensch Sinn, wenn er Sinnliches mit Sinn erfüllt–das ist das Problem Cassirers“ (dt. Die Interpretation, übers. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1969, 22–23). Ricceur greift ein Zitat Cassirers auf, in dem das Symbol Baumgarten-nah als „Sinnerfüllung des Sinnlichen“ gedacht ist (Philosophie der symbolischen Formen, III, 109), und er kommt darauf zurück, wo er die Phänomenologie Merleau-Pontys ein „Korrollarium“ der Psychoanalyse liefern sieht: „Nicht die vitale Determination des Körpers ist exemplarisch, sondern die Ambiguität der Seinsweise“ (391). Das ist, in Kürze, das Problem Baumgartens. Vgl. dazu Jean-Luc Nancy, Corpus, Paris 1992, sowie Derrida (Anm. 16), 49ff.

    Google Scholar 

  44. Friedrich Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000, rekurriert auf Vico, denn dieser setze (ich ergänze: mit der Rhetorik) voraus, „Erst ein kulturelles oder technisches Artefakt wie der Spiegel bringt es fertig, dem Geist oder Auge zur Selbsterkenntnis zu verhelfen“ (22). Daβ aber „Vicos Kulturwissenschaft“ eben „dieser Spiegel“ nur sei, und zwar „ohne es zu sagen“ (Kittlers Hervorhebung), erhebt sie nicht über die Naturwüchsigkeit zweiter Ordnung, so sicher es uns auch die „Anstrengung“ auferlegen mag, „gegen Evidenzen und Unmittelbarkeiten vorgehen zu müssen“ (ebd.). Baumgartens Entdeckung zielt über die ihm wie Vico selbstverständliche Technizität, ja „Technisierung“ durch aller Art „Spiegel“ hinaus, sofern sie die darin gefangene ästhetische Eingebundenheit aller Wahrnehmung und Sprache in die wahr- und für wahr genommene Welt als eine Verflechtung erfaβt, deren technisch-rhetorische „Artefakte“ als verdeckte Figuren, wie sprachlich verdichtete „Schaltungen“, fungieren. Für Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, hrsg. Claude Lefort, Paris 1964, wie nach ihm Derrida und Gasché, ist es deshalb der eigentümliche Nicht-Spiegel des Chiasmus, der die Durchkreuzung des Mimetismus re-präsentiert, nämlich: weniger dar- als ausstellt; sie ansichtig macht ohne Ansicht (188).

    Google Scholar 

  45. Marcello Gigante, „Philodème: Sur la liberté de parole“, in: Actes du Ville Congrès, Association Guillaume Budé, Paris 1969, 196–217, bringt seinen dankenswerten Forschungsbericht zum Begriff der Parrhesie auf diese Formel (201). Der Gebrauch des Begriffs bei Baumgarten ist alles andere als selbst-evident. Der Sache nach steht die technische Bedeutung der Parrhesie in Frage, die in der gleichnamigen Schrift des Philodemos von Gadara überliefert ist und im Lateinischen als terminus technicus bestehen bleibt, eine „techne conjecturale“, die epikureischem „comportement, un mode de vie“ entspricht (202). Als Teil philosophischer Selbstsorge, die in der alt-epikureischen Tradition eine psychagogische Praxis war, ist die Parrhesie in den späten Vorlesungen Michel Foucaults unter dem Titel he Gouvernement de soi et des autres: le courage de la vérité (1983–84), édition sous la direction de François Ewald (in Vorbereitung in der Reihe „Hautes Études“), zu neuer Aktualität gediehen (deutsche Ausgabe der Berkeley-Vorlesungen, Diskurs und Wahrheit. Berkeley-Vorlesungen 1983, Berlin 1996, 119ff.). Daβ sich Baumgarten im Epikureismus der Zeit, bei Gleim oder Uz, auf einen entsprechenden Horizont beziehen konnte, legt Dorothée Kimmich, Epikureische Aufklärungen, Darmstadt 1993, nahe (167ff.). Wie Pierre Aubenque, „Kant et l’épicurisme“, in: Actes du Ville Congrès (wie oben), 293–303, die Quellenlage für Kant erläutert, kommt für die epikureischen Gemeinplätze der Zeit in erster Line Ciceros De officiis in Frage, die von Garve 1783 im Auftrag Friedrichs IL übersetzt und kommentiert worden sind (302 mit Anm.2).

    Google Scholar 

  46. Richard Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht, 2. Aufl., Leipzig 1885, 499. Lausberg macht es sich zu einfach. Die lateinische licentia ist nicht einfach das lateinische Äquivalent; sie konnte die griechische parrhesia terminologisch nur zur Hälfte ersetzen. Der griechische Mehrwert ging in die christliche Tradition ein und bewahrte dort gegenüber der Freizügigkeit das widerständige Moment gegen jede Obrigkeit. Darauf legt Giuseppe Scarpat, Parrhesia: Storia del termine e délie sue traduzioni in latino, Brescia 1964, zurecht Wert (113). Die Fülle und Vielfalt der Belege und Verweise, die Scarpat beibringt, reicht leider nicht bis zur Renaissance und zum Barock, wo die liturgischen Konnotationen der fiducia und constantia eine theatralische Erneuerung erfahren und eine neue juridisch-politische Aura des Begriffs entsteht.

    Google Scholar 

  47. Wenn Jacques Derrida, L’Université sans condition, Paris 2001, die „Literatur als das Recht“ definiert (und auf die „Epoche der Aufklärung“ datiert), „alles öffentlich auszusprechen“, so mit der Implikation, auch „ein Geheimnis zu wahren, und sei es im Modus der Fiktion“ (dt.–mit dem Aufdruck „Adorno-Preis 2001“–Die unbedingte Universität, übers. Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M. 2001,15): „ce qu‘on appelle la littérature, au sens européen et moderne du terme, comme droit de tout dire publiquement, voire de garder un secret“ (17). Derrida radikalisiert die Parrhesie, die Baumgartens Schluβ ist, und erlöst sie aus der epikureischen Selbstsorge, die Foucault in ihr realisieren möchte, als „une indépendance inconditionnelle, revendiquer une sorte de souveraineté“, und zwar (im Blick auf neuere Souveränitätskonzepte) eine äuβerst pointierte: „une espèce très originale, une espèce exceptionelle de souveraineté“, von der sich sagen läβt, daβ sie „non seulement un principe de résistance“ erfordert, sondern „une force de résistance–et de dissidence“ (19–20; Derridas Hervorhebung).

    Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Additional information

Rede zum 10. Jahrestag der wiedergegründeten Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder am 22. Mai 2001. Die mündliche Fassung ist beibehalten, ergänzt um Hinweise zur Forschungslage. Die ins Auge gefaßte Revision des Stands der Forschung ist nur soweit angedeutet, wie es dem Anlaß und Zweck des öffentlichen Vortrags angemessen sein konnte. Ich habe mir erlaubt, diese Andeutungen an einigen Stellen zu vertiefen, wo ich Möglichkeiten zur aktuellen Anknüpfung sehe.

Rights and permissions

Reprints and permissions

About this article

Cite this article

Haverkamp, A. Wie die Morgenröthe zwischen Nacht und Tag Alexander Gottlieb Baumgarten und die Begründung der Kulturwissenschaften in Frankfurt an der Oder. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 76, 3–26 (2002). https://doi.org/10.1007/BF03375837

Download citation

  • Published:

  • Issue Date:

  • DOI: https://doi.org/10.1007/BF03375837

Navigation