Bei der Durchsicht des umfangreichen, aber völlig ungeordneten NachlassesFootnote 1 von Rudolf Tomaschek (1895–1966) fand ich in einem Stapel diverser Vortrags- und Aufsatzmanuskripte von ihm und anderen Personen aus seinem Umfeld auch das mit zahlreichen handschriftlich ergänzten chemischen Formeln und Schemata von Zerfallsketten versehene Typoskript mit dem gesperrt getippten Titel „Interatomare Energie“. Heute würde man eher von „inneratomarer Energie“, oder von „Kernenergie“ sprechen, aber dennoch interessierte ich mich gleich näher für den Inhalt dieses 30 Seiten umfassenden Textes über technische Kernphysik sowie ihrer potentiellen militärischen Anwendungen – ein historiographisch bis heute intensiv beackertes (Minen‑)Feld. Der Text bietet einen ungefilterten, in vielem erschreckenden Einblick in die technokratische Gedankenwelt sowie den Wissensstand und Anwendungshorizont eines „technischen Kernphysikers“ im „Dritten Reich“.

Wie aus der letzten beschriebenen Seite des auf starkem, leicht vergilbtem Papier in einem Format etwas größer als DIN A4 hervorgeht, ist der Autor dieses Textes ein gewisser „H. Watzlawek“, der dort mit der Adresse „Phys. Institut, Technische Hochschule München“ und dem Datum 31.10.1944 zeichnete. Dieser Name war mir zunächst nicht bekannt, und ich musste in ersten Recherchen auch feststellen, dass über ihn in der reichen Sekundärliteratur zum deutschen „Uranverein“ und zu kernphysikalischen Forschungen im nationalsozialistischen Deutschland leider nur sehr wenig zu finden war.Footnote 2 In einschlägigen Lexika und Datenbanken ist er nicht aufgeführt.Footnote 3 Auch sein VIAF-Datensatz sowie seine vollständig darauf basierende world cat identity erbrachten zunächst nicht mehr als Hinweise auf einige seiner nach 1945 publizierten Bücher.Footnote 4 Insofern ist der nachfolgende Aufsatz eine „nuclear salvage history“ im Sinne von Hugh Gusterson und Alex Wellerstein,Footnote 5 also die Rekonstruktion und Dokumentation der Rolle eines völlig unbekannt gebliebenen Außenseiters. Dessen gleichwohl erstaunliches Wissen über radioaktive Elemente, technische Kernphysik, Isotopentrennung und seine intensive Suche auch nach militärischen Anwendungen machen ihn zu einem hochinteressanten Akteur in dem heterogenen, ja polykratischen Geflecht der konkurrierenden kernphysikalischen Arbeitsgruppen im nationalsozialistischen Deutschland.

Zur Biographie des Autors jenes Typoskripts

Durch weiteres Bibliographieren und ergänzende Recherchen wurde rasch klar, dass es sich bei dem Autor um den damaligen Diplomingenieur Hugo Watzlawek (1912–1995) handelt (Abb. 1). Im Jahr 1948 publizierte er im Verlag Franz Deuticke in Wien ein bereits 1943 entstandenes Lehrbuch der technischen Kernphysik, auf dessen Titelseite er noch immer als „Dipl.-Ing.“ angeführt ist.Footnote 6 In einem weiteren Lehrbuch über Gewöhnliche Differentialgleichungen, das 1952 erschien, trägt er den Titel „Dr. techn.“, da er 1950 an der Technischen Hochschule Wien (der heutigen TU Wien) zum Doktor der Ingenieurwissenschaften promoviert worden war (in Österreich abgekürzt Dr. techn.), und zwar mit einer Arbeit über die Bineutronenperiode der Reinelemente. Eine Anfrage an das Archiv der TU WienFootnote 7 erwies sich in vielfacher Hinsicht als aufschlussreich für seinen Werdegang und die beeindruckende Vielfalt seiner Forschungen in den Bereichen Aerodynamik, Kreiselphysik, Geometrische Optik, Kernphysik, elektrische Meßtechnik sowie Licht- und Kinotechnik. Laut Meldekartei der Landeshauptstadt Innsbruck verstarb Hugo Watzlawek am 3. März 1995 in Innsbruck.Footnote 8 Er hinterließ drei Kinder.Footnote 9 Bevor ich näher auf Watzlaweks kernphysikalische und -chemische Arbeiten sowie sein Typoskript von 1944 eingehe, hier ein kurzer Überblick über seine sonstige, bislang völlig unbekannte Vita.

Abb. 1
figure 1

Photo von Hugo Watzlawek, aufgenommen 1934 in Wattens, Tirol, eingelegt am Ende seiner unpaginierten Akte der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Bundesarchiv R73/15520)

Hugo Watzlawek wurde am 24. Januar 1912 als Sohn von Hugo Watzlawek senior (*1884) geboren, einem aus Tschechien stammenden Betriebsleiter eines Schleifwerks in Wattens, Bezirk Innsbruck, Tirol und seiner Frau Emma Watzlawek († 1919), geb. Heinisch, war also österreichischer Staatsbürger und wie seine gesamte Familie römisch-katholisch. Nach Besuch der Bundesoberrealschule in Innsbruck, an der er 1930 die Matura mit Auszeichnung bestand, studierte er an der damaligen Technischen Hochschule Wien „technische Physik“. Die erste Staatsprüfung bestand er 1933 mit „sehr gut“ in Physik und „vorzüglich“ in Mathematik; in der zweiten Staatsprüfung 1935 erhielt er für den praktischen Teil, einer Messung der täglichen und monatlichen Schwankung der in Tirol ankommenden UV-Strahlung der Sonne, ein „sehr gut“, in den anderen Studienfächern ein „gut“. Vorsitzender jener Prüfung war Hofrat Heinrich Mache (1876–1954); der Betreuer seiner praktischen Arbeit zur Strahlungsmessung war Prof. Dr. Herbert Schober (1905–1975). Diese Strahlungsmessungen werden ihn auch zum Thema der Höhenstrahlung geführt haben, über das er 1942 einen ausführlichen Übersichtsartikel verfasste, der ihn bereits als Kenner photographischer und kernphysikalischer Nachweisverfahren ausweist.Footnote 10

In den Jahren 1937 und 1938 hat Watzlawek mehrere Artikel über die röntgen- und kernphysikalischen Eigenschaften der Platinelemente Ruthenium, Rhodium, Osmium, und Platin zur 8. Auflage von Gmelins Handbuch der Anorganischen Chemie verfasst, in einem Nachtragsband von 1942 auch zum Element Eka-Osmium (so nannte man damals Plutonium mit Elementzahl 94),Footnote 11 was zeigt, dass er bereits seit 1937 auch mit Themen der Kernchemie befasst war. Auch die Artikel über Atomkern und Atom sowie über optische und Röntgen-Spektren der Elemente stammen von Watzlawek.Footnote 12 Der Leiter der Fachgliederung Chemie im Reichsforschungsrat, Peter Adolf Thiessen (1899–1990), hatte diesen Wechsel aus Berlin nach Wien übrigens am 26. April 1939 in einem Schreiben an den Präsidenten des Reichsforschungsrates „auf das Wärmste befürwortet, da ich die Verhältnisse an dem fraglichen Institut [der LFA Hermann Göring in Berlin] aus eigener Anschauung kenne und weiß, dass die Arbeitsvoraussetzungen weder in sachlicher noch in personeller Hinsicht den gestellten Anforderungen zu genügen vermögen.“Footnote 13 Dem engen Nexus der Erforschung von Höhenstrahlung und der Kernphysik ging Hugo Watzlawek in einem 1942 erschienenen Überblicksartikel nach, an dessen Ende er forderte, dass die „Forschungsstätten für die Höhenstrahlung auch Anlagen für Isotopentrennung besitzen“ sollten und dass den Forschern „mehr als es bisher geschehen ist, Mittel zur intensiveren Bearbeitung zur Verfügung zu stellen“ sei.Footnote 14

Ab 1939 war Watzlawek in verschiedenen Bereichen der Luftfahrtforschung aktiv: Zunächst 1939 in der Luftfahrtforschungsanstalt Hermann Göring unter Leitung von Prof. Adolf Busemann (1901–1986) und Dr.-Ing. Eugen Sänger (1905–1964) in der Forschung zu Fernraketenflugzeugen, zum zweiten vom Dezember 1939 bis Ende April 1940 in der Entwicklung neuer Kreiselhorizonte und Kreiselkompasse für Marine und Luftwaffe in der Firma Kreiselgeräte in Berlin unter Leitung von Dr.-Ing. Johannes Gievers (1902–1979), und zum dritten 1940 bei den Henschel Flugzeugwerken unter Leitung von Prof. Dr. Ing. Herbert Wagner (1900–1982) in der Erforschung der Thermodynamik neuer Konstruktionstypen von Düsenjägern mit Gasturbinenantrieb.Footnote 15 Wagner – wie Watzlawek in Österreich geboren – war Spezialist für Flugzeugbau, seit 1930 ordentlicher Professor für Luftfahrzeugbau und Gründer des Flugtechnischen Instituts an der TH Berlin.Footnote 16 Seit 1940 leitete Wagner ferner für den Henschel Flugzeugbau deren Abteilung F[orschung] für alternative Antriebe und war an der Entwicklung ferngelenkter fliegender Bomben beteiligt.Footnote 17 Watzlawek war vom 20. Juni 1940 bis zum 31. März 1942 einer seiner wissenschaftlich-technischen Mitarbeiter. Aus einer „Übersicht und Darstellung der historischen Entwicklung der modernen technischen Kernphysik und deren Anwendungsmöglichkeit sowie Zusammenfassung eigener Arbeitsziele und Pläne“, die am 5. August 1941 unter anderem von Herbert Wagner und Hugo Watzlawek in Berlin fertiggestellt wurde,Footnote 18 geht hervor, dass Watzlawek zu diesem Zeitpunkt in der Marchstr. 10 nahe dem heutigen Ernst-Reuter-Platz arbeitete, also in einem Gebäude der damaligen TH Berlin-Charlottenburg. Wagner beantragte im Zusammenhang mit dieser Textsammlung im August 1941 beim Reichsluftfahrtministerium (RLM) die Gründung eines Reichsinstituts für Kerntechnik und Kernchemie, das für drei Jahre mit etwa 25 Millionen Mark ausgestattet werden sollte. Im Januar 1942 erfolgte eine allerdings um den Faktor Tausend geringere Bezuschussung in Höhe von 25.000 Reichsmark durch das RLM. Aus dem späteren Lebenslauf Watzlaweks lässt sich entnehmen, dass es Watzlawek war, der in diesem Kontext Anfang 1942 in der Firma Henschel Flugzeugwerke den Auftrag zur „Herstellung eines Flugzeugtreibstoffes [für Langstreckenbomber] auf kernphysikalischer Basis“ erhielt. „Hierbei stellte ich die Auswertung der Kettenreaktion in geeigneten Elementen, im Grossen, an erster Stelle.“Footnote 19 Dafür sammelte er systematisch und breit ausholend Unterlagen und vorhandenes Wissen zur technischen Kernphysik. Daraus ging 1942 ein streng geheimer, mit höchster Priorität ausgestatteter Staatsauftrag vom RLM (Kennnummer SS/3123/IV/41) hervor, der Watzlawek erteilt wurde „mit der Zielsetzung, Studien über den derzeitigen Stand der Kernphysik und die Möglichkeiten für ihre technischen Anwendungen […] anzustellen. Insbesondere ist das Gebiet der Kernspaltung zu untersuchen und festzustellen, ob auch bei anderen Elementen als Uran Möglichkeiten für die Einleitung von Kettenreaktionen vorhanden sind.“Footnote 20 Diese Suche weitete Watzlawek nicht nur auf Plutonium (in damaliger Terminologie inzwischen „Element 94“ genannt) aus, mit dessen Erzeugung durch Neutronenbeschuss von Uran und physiko-chemischen Eigenschaften er schon vertraut war und von dem Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007) im Jahr 1940 in einem Geheimbericht bereits gezeigt hatte, dass er für den Bau von Atombomben geeignet war,Footnote 21 sondern auch auf weitere Elemente, allerdings ohne Erfolg. „Nach Berichterstattung an das Reichsluftfahrtministerium wurde ein unzureichender Betrag bewilligt, weswegen ich die Fortsetzung dieser höchst kriegswichtigen Forschungsarbeit unterbrach“.Footnote 22 Wann genau diese Berichterstattung an das RLM erfolgte, wird von Watzlawek in seinem Lebenslauf leider nicht ausgeführt, aber da andere Quellen vom Abbruch des Vorhabens bereits im Frühjahr 1943 sprechen, dürfte es sich bei unserem Typoskript vom Oktober 1944 um einen Sachstandsbericht handeln, den Watzlawek auf der Suche nach neuer Finanzierung durch andere, uns unbekannt bleibende Förderer erstellte, wozu es dann wegen Kriegsende und Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ nicht mehr kam.

Zum Zeitpunkt der Fertigstellung unseres Typoskripts war Watzlawek (laut Lebenslauf von 1942 bis 1945) Assistent von Rudolf Tomaschek am Physikalischen Institut der Technischen Hochschule München. In diesem Umfeld arbeitete er hauptamtlich über Kreiselphysik, genauer über „die grundlegenden Probleme des künstlichen Horizontes für Flugzeuge“ und mit der „Schaffung eines sehr genauen (1’) Kreiseloktanten für die Astronavigation“ sowie von Kreiselortungsgeräten hoher Genauigkeit.Footnote 23 Nur in seiner Freizeit schrieb er am Manuskript seines späteren Lehrbuchs und dem hier vorliegenden Typoskript. Watzlawek wird in Berlin unter der Adresse Albestr. 5 in Friedenau geführt. Dies geht hervor sowohl aus einem Brief von Rudolf Fleischmann (1903–2002) an Dr. Karl Kuhn vom 7. Januar 1943, der auf einer englischsprachigen Karteikarte des ALSOS-Teams indiziert wurde,Footnote 24 die sich unter den vom Deutschen Museum in München online zugänglich gemachten Unterlagen zum Deutschen Atomprogramm 1938–1945 befindet,Footnote 25 als auch aus einem Aufsatz in der Meteorologischen Zeitschrift 1942. In Berlin wurde auch 1941 das älteste seiner drei Kinder, seine Tochter Maja geboren (in manchen Formularen auch Monika genannt). Watzlaweks Frau Ingeborg (geboren 1914 in Zuhlhausen) ist noch vor 1945 verstorben und er selbst hat in den letzten Kriegsjahren sehr unter Nahrungsmangel gelitten und war stark unterernährt. Er war nun alleine verantwortlich für seine beiden Kinder (Sohn Wolfgang war 1942 zur Welt gekommen) und wurde wegen seines Untergewichts für den Kriegsdienst für untauglich erklärt, Footnote 26was ihm die Möglichkeit gab, weiter wissenschaftlich zu arbeiten. In einem Schreiben an Rudolf Fleischmann vom 27. Januar 1943 bewarb sich bei diesem (erfolglos) um eine Stelle in dessen neuem Straßburger Institut für Kernphysik. Als Anschrift gab er die Muncherstr. 65 in Gmund am Tegernsee an, wohin seine Arbeitsstelle verlagert worden war.Footnote 27

Sein 1943 verfasstes und 1948 publiziertes Lehrbuch zur technischen Kernphysik trägt eine Widmung an seinen am 20. Mai 1942 verstorbenen Bruder Alois Watzlawek, der in den letzten Tagen der Rückeroberung der Halbinsel Kertsch in der Krim durch deutsche Truppen vom 8. bis 20. Mai 1942 fiel. Laut Aussage seiner Tochter Maja machte Hugo Watzlawek die Nationalsozialisten für den Tod seines Bruders verantwortlich, denen er – ihr zufolge – politisch nie nahegestanden habe,Footnote 28 und von deren völkischem Jargon sich auch in seinen vor 1945 verfassten Texten keine Spur findet. Aber diverse Passagen über die Lage Deutschlands, über Krieg und die Amerikaner in seinen Texten legen eine national-konservative Einstellung nahe, und in Erinnerungen seiner späteren Innsbrucker Studenten werden zudem für jene Personen „inakzeptable“ antisemitische Äußerungen erwähnt. Diverse Quellen belegen, dass Watzlawek zumindest bis 15. Dezember 1936 kein Mitglied der NSDAP war bzw. genauer „als Mitglied nicht zur Anmeldung gelangt ist“.Footnote 29 Der Grund für diese umständliche Formulierung ergibt sich aus Watzlaweks Angaben in einem Fragebogen der Deutschen Forschungsgemeinschaft aus dem Jahr 1939 auf die Frage, seit wann er Mitglied der NSDAP sei: „Am 1. Sept. 1933 bin ich in Wien beigetreten; vor der Umordnung in der Heimat ergab sich keine neue Verständigung wegen meiner Mitgliedschaft.“Footnote 30 Da die österreichische NSDAP im September 1933 wegen eines Handgranatenanschlags im Krems an der Donau Ende Juni 1933 verboten war und ein Beitritt zu dieser seither im Untergrund weiterarbeitenden Partei auch eher politische Nachteile mit sich brachte, sollte Watzlaweks Eintrittsgesuch als Ausdruck politischer Sympathie mit der österreichischen „NSDAP-Hitlerbewegung“ und nicht als opportunistisches Mitläufertum interpretiert werden wie die massenhaften Parteieintritte der „Märzgefallenen“ in Deutschland zum gleichen Zeitpunkt.Footnote 31 Fast zwanzig Jahre später wurden wegen eines Anstellungsgesuchs Watzlaweks in den USA ehemalige Arbeitskollegen Watzlaweks befragt. Ludwig Sedlmeier beschrieb ihn am 20. Februar 1957 als „a very quiet and serious person, [who] always conducted himself as a perfect gentleman and was friendly to those persons with whom he came in contact“, während Johann Herscher am Tag zuvor feststellte, dass Watzlawek nie einer politischen Partei angehört habe und kein Interesse an Politik gehabt habe. „SUBJECT had a hatred for the Hitler government because of the restrictions and regulations which forced SUBJECT to work at certain jobs in which he had little interest and which also hampered further study.“ Auch wenn derartige Aussagen mit großer Zurückhaltung zu bewerten sind, da sich die Befragten vermutlich eher vorsichtig und beschönigend äußerten, ergibt sich insgesamt doch nicht der Eindruck eines überzeugten oder gar aktiven Nationalsozialisten, sondern der eines parteipolitisch desinteressierten Mitläufers, der es die gesamten zwölf Jahre des „Dritten Reiches“ über mit Mitgliedschaften in der harmloseren Deutschen Arbeitsfront und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt bewenden ließ, und sich erst 1939 im Zuge eines DFG-Stipendienantrags an einen angeblichen früheren Aufnahmeantrag in die NSDAP erinnerte, um diesem Antrag größere Chancen zu geben.

Kernphysikalische Wissensbausteine in Watzlaweks Typoskript von 1944

Im Vorwort seines Lehrbuches von 1948 sowie in seiner „Darstellung des Lebenswerkes“ von 1950 erwähnt Watzlawek, dass das Manuskript dieses Buches „bereits im Dezember 1943 bis auf kleine Zusätze abgeschlossen“ gewesen, sein Druck aber „durch die verschiedenen Kriegs- und Nachkriegsschwierigkeiten […] immer wieder verzögert“ worden sei.Footnote 32 Dass dies zutrifft, zeigen erhaltene Typoskripte, die den Zustand und Umfang des weit gediehenen Lehrbuchentwurfs im Jahr 1943 wiederspiegeln, und die heute im digitalen Portal des Deutschen Museums in München online abrufbar sind.Footnote 33 Für die Bewertung unseres Textes vom Oktober 1944 über „Interatomare Energie“, der bislang völlig unzugänglich im Nachlass von Rudolf Tomaschek unter Bergen anderer Manuskripte vergraben war, ist das insofern von Bedeutung, als etliche Passagen aus diesem im „Zusatzmaterial-Online“ dieses Beitrags unter https://doi.org/10.1007/s00048-020-00241-z vollständig wiedergegebenen und mit meinen erläuternden Anmerkungen versehenen Typoskript sich auch im Entwurf zum Lehrbuch von Ende 1943 und später zum Teil auch wörtlich in der 1948 dann gedruckten Fassung wiederfinden. Während in das Nachkriegslehrbuch natürlich noch die Informationen eingegangen sind, die nach dem Abwurf der beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 über den Bau der Bombe und die Anreichung des Bombenmaterials freigegeben wurden,Footnote 34 war Watzlaweks Typoskript definitiv vor diesen tragischen Ereignissen bereits Ende Oktober 1944 fertiggestellt und danach nicht weiter modifiziert worden. Daher dokumentiert es in klarer und kompakter Form, was in „Großdeutschland“ bis Oktober 1944 an Wissen über kernphysikalische Prozesse, technische Verfahren und empirische Messwerte (etwa zu Wirkungsquerschnitten, Zerfallsreihen und -Wahrscheinlichkeiten usw.) bereits bekannt war, wie weit die Deutschen in ihren Untersuchungen und Entwicklungen vorangeschritten waren und was ihnen bekannt bzw. nicht bekannt war.Footnote 35

  • Watzlawek kannte die Bedeutung von speziellen Reflektorwänden (engl. tamper) um das Innere der Bombe herum, die die langsamen Neutronen möglichst oft zurück in das Bombenmaterial leiten sollen, um die Zahl der Wechselwirkungen zu erhöhen und damit die kritische Masse niedrig zu halten.Footnote 36

  • Er beschrieb bereits sehr deutlich das auch von den Alliierten in der Hiroshima-Bombe gewählte Verfahren, zwei unterkritische Bombenhälften durch explosiven Aufprall aufeinander erst im Augenblick der Zündung in eine kritische Masse zu überführen.

  • Für diese kritische Masse angereicherten Urans machte Watzlawek in seinem Text keine klare Aussage, da sich seine Abschätzung von kritischen Radien zwischen 65 und 80 cm (S. 19) auf nicht-angereichertes Uranoxid beziehen, aber der Umstand, dass er gegen Ende Anwendungen in Flugmotoren sowie in Raketen als Sprengköpfe erwähnt, zeigt, dass er Größenordnungen einiger Kilogramm und nicht von Tonnen erwartete.Footnote 37

  • Ferner wird deutlich, dass Watzlawek bereits 1944 einen sehr klaren Einblick in die Möglichkeiten und Grenzen der verschiedenen Isotopen-Trennverfahren hatte, mit denen das für die Atombombe geeignete Uranisotop 235 von dem weit häufigeren, aber nicht für den Bombenbau geeigneten Uran 238 getrennt werden konnte.Footnote 38 Er empfahl eine Voranreicherung mittels Ultrazentrifugen und eine nachfolgende weitere Anreicherung des Urans 235 durch das Trennrohrverfahren (elektromagnetische Isotopentrennung).

  • Neben Uran 235, dessen Bombenfähigkeit ihm wie vielen anderen bereits bekannt war, suchte Watzlawek auch aktiv – aber erfolglos – nach weiteren bombenfähigen Elementen. Die große Bedeutung von Plutonium für den Bombenbau hat er erst in seinem Lehrbuch von 1948 erkannt und beschrieben.

  • Für den Betrieb einer Uranmaschine, die er nach eigenen Angaben (s. unten) bereits 1941 konstruktiv durchdacht hatte, schlug Watzlawek schweres Wasser (D2O) als Moderator vor,Footnote 39 was in der Tat machbar ist und zu sogenannten Schwerwasserreaktoren führt. Das von ihm hier nicht erwähnte Problem war nur die unzureichende Verfügbarkeit des in Norwegen mit sehr großem Energieaufwand erzeugten Deuteriums, dessen Transport nach Deutschland vom norwegischen Widerstand unterbunden und durch Bombardierung der Norsk Hydro Werke 1943 völlig unmöglich gemacht wurde.Footnote 40 Bis zum Kriegsende waren in Deutschland nur ca. 2,5 Tonnen D2O verfügbar.

  • Zur physikalischen Modellierung und zur Abschätzung von Größenordnungen benutzte Watzlawek mehrfach das von George Gamow (1904–1968), Niels Bohr (1885–1962) und John Archibald Wheeler (1911–2008) konzipierte Tröpfchenmodell des Atomkerns,Footnote 41 in dem der Prozess der Kernspaltung als ein durch das Auftreffen von Neutronen auf den Kern ausgelöste Schwingungen und durch Überschreiten von Grenzwerten für Oberflächenspannungen ausgelöstes Zerfallen eines Tropfens in zwei Tropfen modelliert wird.

  • Schließlich kannte Watzlawek auch schon das Problem einer „Vergiftung“ der Uranmaschine (also eines Abbruchs der Kettenreaktion) durch eine Anreicherung Neutronen-absorbierender Zerfallsprodukte und behauptete von seiner Gitterkonstruktion, dass diese eine kontinuierliche Abführung jener Zerfallsprodukte erlaubt hätte, während in den späteren amerikanischen Konstruktionen mit Brennstäben und Graphitstäben als Moderatormaterial zwischen diesen eine regelmäßige „Entgiftung“ des Reaktors durch Hochziehen der Brennstäbe erforderlich sei.Footnote 42

  • Da Watzlawek bereits seit 1939 in luftfahrttechnische Entwicklungsarbeiten und seit 1940 in die Suche nach einem kernphysikalischen Flugzeugtreibstoff für Langstreckenbomber eingebunden gewesen war, überrascht es nicht, dass er sich in seinem Aufsatz von 1944 auch ausführlich über Anwendungen der Kernspaltung in der Luftfahrt sowie in Bomben Gedanken macht und zahllose Anwendungsbereiche auflistet, die er herbeizusehnen scheint und für deren Entwicklung er dringendst größere Mittel erbittet.Footnote 43

Wie sehr Watzlawek selbst in diese, für den Bau einer Atombombe sowie für den Bau nuklear angetriebener Motoren entscheidenden Schritte eingebunden war, verrät er uns selbst en passant in seinem Lehrbuch von 1948 in einer Fußnote:

Bereits im Winter 1940/41 hat der Verfasser für eine Berliner Firma das Moderatorprinzip mittels Zirkulation von D2O konstruktiv durchgebildet vorgeschlagen (ohne den Ausdruck „Moderator“ benützt zu haben), ebenso den „Tamper“-Mantel der Bombe, wie auch die „Super-atombombe“ und ein Aggregat zur selbsttätigen Entfernung der störenden Fragmentelemente, was als Vorstufe zu einem kernphysikalischen Flugmotor gedacht war.Footnote 44

Eine bis heute ebenfalls kontrovers diskutierte Frage ist die, wie genau beide Seiten von den Entwicklungen der jeweils anderen Seite wussten. Während bereits relativ gut bekannt ist, welche Informations-Bausteine die Alliierte über diverse Informanten, Spione und sonstige Recherchen über die deutsche Entwicklung hatten, ist umgekehrt noch weitgehend unklar, wie gut die deutsche Seite über die Alliierten Unternehmungen insbesondere im sogenannten Manhattan-Projekt unterrichtet waren. Auch in dieser Hinsicht verschafft das Typoskript von 1944 einen interessanten Einblick: Gegen Ende des Kapitels VI über Anwendungen der technischen Kernphysik führt Watzlawek aus: „Abschließend muss noch gesagt werden, dass die intensivsten Bestrebungen aller Kernphysiker der USA dahingehen, gegen uns die Uranbombe in allernächster Zeit in Anwendung zu bringen.“Footnote 45 Als Quelle werden dort zwar nur ältere veröffentlichte Texte aus der New York Times vom 5. Mai 1940 und von Charles Percy Snow (1905–1980) aus dem Jahr 1939 angeführt,Footnote 46 aber die Formulierung über „alle Kernphysiker der USA“ und die Zeitangabe „in allernächster Zeit“ legen nahe, dass Watzlawek aktuellere Informationen über den Stand der amerikanischen Entwicklungen hatte. Es sei „allgemein bekannt, dass in den USA der kernphys. Forschung und der Erforschung der Höhenstrahlung Mittel in jeder Höhe zur Verfügung gestellt werden. Dies beweisen die neuen 100 MeV-Zyklotrons mit einem Magnetjoch von 18 m Länge und 9 m Höhe, sowie der 100 MV-Elektronenturbine nach Wideröe, für deren Bau ebenso viel Metall erforderlich ist, wie für den Bau eines Schlachtschiffs.“Footnote 47 Jedenfalls setzte Watzlawek in seinem Text Ende 1944 ebenso wie 1948 in seinem Lehrbuch wie selbstverständlich die oben aufgelisteten bombentechnischen Innovationen voraus, obgleich die Alliierten einige davon auch nach 1945 weiter versuchten geheim zu halten.

Watzlawek nach 1945

Die Terminologie und Notation des Typoskriptes weicht in einigen Einzelheiten vom heutigen Gebrauch ab, etwa in der Nutzung von Vokabeln wie „Energiebefreiung“, „Energiestapelung“ und „Zerplatzung“, aber es ist insgesamt ohne weiteres verständlich, klar strukturiert und prägnant formuliert. Watzlawek selbst hat seinen Text mit Fußnoten durchsetzt (typischerweise nur ein bis drei pro Seite), die ich hier fortlaufend durchnummeriert habe, während er auf jeder Seite die Fußnotenzählung wieder bei 1 begann. Im Unterschied dazu sind meine eigenen Anmerkungen zum Text Endnoten, die nach dem vollständig wiedergegebenen Text sauber getrennt davon folgen. Auch dort, wo sich Watzlaweks Text vom Oktober 1944 auf ältere Texte von ihm und von anderen bezieht oder wo er den Entwurf seines Lehrbuches von 1943 bzw. Passagen aus dessen späterer gedruckter Form von 1948 zitiert, habe ich dies vermerkt. Das ist auch deswegen interessant, weil man dadurch sieht, wo Watzlawek 1948 noch verschärft, wo er Formulierungen später abgemildert oder Passagen später ganz weggelassen hat. Auch wenn die militärischen Anwendungen der Kernspaltung in Kap. 7 des Lehrbuches nicht mehr so betont werden, ist insgesamt doch eine überraschend hohe, vielfach wörtliche Übereinstimmung der Texte von 1943 und 1948 festzustellen, ganz im Gegensatz zu anderen Neudrucken bereits vor 1945 verfasster wissenschaftlicher Texte, die nach 1945 massiv entschärft und bereinigt wurden.

Weder in seinem Lehrbuch von 1948 noch in seinem Lebenslauf und seiner „Darstellung des Lebenswerkes“ von 1950 spürt man irgendetwas von Reue, Nachdenklichkeit oder Zweifel am eigenen Tun vor 1945. Watzlawek scheint die unter Technikern weit verbreitete Haltung gehabt zu haben, nichts verbergen zu müssen, da er ja „nur der Technik gedient“ habe.Footnote 48 Trotzdem war das Ende der NS-Herrschaft für ihn ein Einschnitt, denn weder seine industriellen Arbeitgeber noch staatliche oder militärische Auftraggeber standen weiterhin zur Verfügung. Darüber hinaus war die Kerntechnik als Arbeitsgebiet noch bis zu den Pariser Verträgen 1954, die der Bundesrepublik Deutschland wieder eingeschränkte Souveränität in einem komplexen System von Zusagen und Bindungen zusicherten, für Deutsche und Österreicher tabu, so dass er seinen Arbeitsort und -bereich wechseln musste.

Aus einem Lebenslauf, den er 1950 im Kontext seines Promotionsverfahrens an der TH Wien verfasste, entnehmen wir, dass Watzlawek nach 1945 „durch die Umstände des Kriegsendes […] mit meiner Familie (2 Kindern) in meine Heimat Fritzens, Tirol, übersiedeln“ musste, wo er noch im Herbst 1945 als Dozent in die Bundesgewerbeschule Innsbruck (der späteren HTL Innsbruck), Höhere Abteilung, eintratFootnote 49 und dort bis zu seiner Pensionierung 1977 elektrische Meßtechnik sowie Licht- und Kinotechnik unterrichtet hat sowie Praktika im Elektrolaboratorium abhielt.Footnote 50 Nebenberuflich arbeitete Watzlawek von 1945 bis 1947 zusätzlich noch bei der Firma D. Swarovski in Wattens an der Berechnung photographischer Objektive.Footnote 51

Nach Abschluss seiner Promotion an der TH Wien und einigen Jahren des Dozierens an der HTL Innsbruck und erfolgloser BewerbungFootnote 52 1955 am Wiener Institut für Radiumforschung bei Berta Karlik (1904–1990) scheint Watzlawek 1956 den Plan gefasst zu haben, sich auf eine Stelle bei der von Wernher von Braun geleiteten Army Ballistic Missiles Agency (ABMA) in den USA zu bewerben.Footnote 53 Dafür wurde ein background investigation check und eine security clearance der Counter Intelligence Corps Group (CIC) der US-Armee notwendig, für die etwa ein Dutzend Personen befragt wurden, die Watzlawek von früher kannten sowie sämtliche damals verfügbaren Archive, Ämter und Regierungsstellen auf der Suche nach Dokumenten konsultiert. Das Ergebnis dieser strengen geheimdienstlichen Prüfung war:

Based on available records, Subject was not a war criminal, was not an ardent Nazi, has not been in the past and is not at the present time a member of the Communist Party and in the opinion of the undersigned is not likely to become a security threat to the United States.Footnote 54

Watzlaweks Anstellung in den USA ist 1957 trotzdem nicht erfolgt, so dass er bis zu seiner Pensionierung in Innsbruck verblieb. In der Letztbewertung seines Antrags urteilte ein Offizier der US Air Force, dass Watzlaweks Pläne und Entscheidungen zu stark durch seine zweite Frau und deren Forderung nach Absicherung der Pension und Ähnliches bestimmt seien, was mit seiner Tätigkeit für die USA interferieren könne. Ferner hatte man Angst davor, dass durch Watzlaweks Antrag auf Freistellung von seinen Dienstverpflichtungen an der Staatsgewerbeschule Innsbruck die Aufmerksamkeit öffentlicher Stellen auf die Aktivitäten der Amerikaner bei der Rekrutierung von Personal gerichtet werden könne, weshalb man seinen Antrag fallenließ.Footnote 55

Interpretationsansätze

Der Zugang unseres Autors zum Thema ist ein deutlich anderer als der eines ausgebildeten Physikers: Hier spricht dezidiert ein Ingenieur und entfaltet seinen „Ingenieurstandpunkt“, unter dem er die Kernphysik zu einer „technischen Kernphysik“ macht.Footnote 56 In unserem Text von 1944 hat ein Kernphysik betreibender Ingenieur das Wort, der ganz faktenbezogen, technokratisch, in mustergültiger Klarheit sein Wissen ausbreitet und der 1944 ebenso wie auch noch 1950 auf eine allumfassende Nutzbarmachung der Kernenergie hofft – wiederholt darauf verweisend, dass auch die Amerikaner dabei seien, dieses technische Problem zu lösen und daher auf Eile drängt. 1944 wie auch 1948 zitiert Watzlawek einen bemerkenswerten Satz über den zukünftigen „Herren der Welt“:

Man kann ruhig sagen, dass der, der dieses Problem löst, der Herr der Welt sein wird. Dann werden Projekte, über die wir bei den heutigen Mitteln lächeln, wie der Raketenflug in den Weltraum, mit einem Schlag ausführbar.Footnote 57

Der Autor, den Watzlawek hier mehrfach zitierte, ist Georg Joos (1894–1959), ein zu dieser Zeit bei Zeiss in Jena arbeitender Experimentalphysiker, der 1922/23 kurzzeitig Mitglied der NSDAP gewesen war, dann aber wieder austrat und seither mit der NS-Wissenschaftspolitik auf Kriegsfuß stand und sich insbesondere immer wieder für die weitere experimentelle Prüfung der Relativitätstheorie Einsteins einsetzte.Footnote 58 Im Kontext unseres Textes erlangte Joos insofern Berühmtheit, als er es war, der im April 1939 das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung von den Möglichkeiten der Kernspaltung unterrichteteFootnote 59, was den Beginn des „deutschen Uranprojektes“ markiert.Footnote 60

Dass eine Floskel wie „Herr der Welt“, die im Jahr ihres Erstgebrauchs 1934 bei Joos sowie im Zitat von Watzlawek 1944 mit nationalsozialistischen Allmachtsphantasien und Führermentalität zu tun hat, im Jahr 1948 unverändert weiter den Eingang in physikalische Lehrbücher fand, ist erstaunlich. Auch die nachfolgende Passage übernimmt Watzlawek unverändert von Joos aus dem Jahr 1934:

Aber diese Lösung fällt nicht vom Himmel, sondern erfordert eine unendlich mühsamet nicht ungefährliche Laboratoriumsarbeit. Es ist daher eine gefährliche Kurzsichtigkeit, wenn man die Atomforschung als weltfremd abzutun sucht, weil sie nicht für den Augenblick greifbare Resultate liefert. Stets galt noch der Satz, dass die Physik von heute die Technik von morgen ist.Footnote 61

In unserem Typoskript von 1944 wird Watzlawek noch deutlicher und schließt eine eigene, 1948 dann bezeichnender Weise weggelassene Formulierung an: „Es ist also wert, das vorliegende physikalische Problem mit allen Mitteln und mit grösster Energie bereits jetzt unverzüglich in Angriff zu nehmen.“ (Watzlawek 1944: 7).

Wie wir wissen, ist es im Kontext des „tausendjährigen Reiches“ zu derartigen Investitionen in die Kernphysik nicht mehr gekommen, aber es ist aufschlussreich, dass ein aktiver Kerntechniker wie Watzlawek noch im Oktober 1944 die Dringlichkeit der Arbeiten auf diesem Gebiet betonte, ja geradezu beschwor.Footnote 62 Damit verbindet Watzlawek in den letzten beiden Sätzen seines Textes auch ein gezieltes Plädoyer für eine erhebliche Ausweitung der Mittel zur Finanzierung kernphysikalischer Forschung:

Wo mehr Intelligenz ist, dort sind weniger Mittel notwendig, aber es darf nicht übersehen werden, dass die kernphys. Forschung einen Stand erreicht hat, wo es eben ohne große Mittel nicht mehr geht. Wollen wir die Früchte der eigenen Entdeckertätigkeit zum Nutzen der Nation verwenden, dann muss auch in der Zuteilung von Mitteln eine vollständige Wandlung erfolgen. (Watzlawek 1944: 29)

Dem nach 1945 aufgebauten Mythos einer bewussten Zurückhaltung der deutschen KernforscherFootnote 63 in ihren diesbezüglichen Forschungen zur Anwendung der Kernenergie widerspricht das deutlich: Watzlawek scheint sich geradezu zu beklagen über die bisherige Austerität und sich auf „den neuen Weg“ hin zu einer Uranmaschine sowie einer Atombombe zu freuen, die das „Großdeutsche Reich“ und seine Verbündeten zum „Herr der Welt“ (Watzlawek 1944: 6) gemacht hätte.

Watzlaweks zwischen berufsständigen Eigeninteressen und „vaterländischer Pflichterfüllung“ changierende Haltung ist typisch für die unter anderem von Herbert Mehrtens und Mitchell Ash beschriebenen „Kollaborationsverhältnisse“, in die sich gerade auch die wissenschaftlichen und technischen Eliten begaben, die dem Nationalsozialismus ideologisch eigentlich nicht nahestanden, sondern die auch in der NS-Zeit nur weiter „der Technik dienen“ oder ungestört – wenn nicht sogar noch durch zusätzliche staatliche Mittel gefördert – Wissenschaft betreiben wollten und nicht merkten (oder bemerken wollten, leider auch nach 1945 nicht wirklich reflektierten), wie weit sie dabei immer wieder der Systemstabilisierung eines verbrecherischen Regimes dienten und nützliche Rädchen eines inhumanes Getriebes wurden.Footnote 64 Von seinen ehemaligen Arbeitskollegen wurde Watzlawek 1956/57 im Zusammenhang eines vom amerikanischen Geheimdienst durchgeführten security checks vor einer von ihm 1956 beantragten Einstellung in der neugegründeten Army Ballistic Missile Agency (ABMA) als „very industrious worker“ beschrieben, „who was in the process of writing a book on the topic of nuclear physics.“Footnote 65 Auch dieses wiederholte sich Andienen gegenüber politisch völlig verschiedenen Machthabern ist typisch für den vom Technikhistoriker Wolfang König beispielsweise am Raketenspezialisten Wernher von Braun herausgearbeiteten Typus des technokratischen Opportunisten.

Ein weiteres Netzwerk anwendungsorientierter kernphysikalischer Forschungen

Bisherige Studien über angewandte Kernphysik in Deutschland vor 1945 fokussierten fast immer auf den im April 1939 gegründeten deutschen „Uranverein“, in dem insbesondere Teams aus dem Kaiser-Wilhelm-Instituten für Physik und Chemie in Berlin-Dahlem, den Physikalischen Instituten der Universitäten Hamburg, Heidelberg, Leipzig, Göttingen und Straßburg, der Heeresversuchsanstalt Kummersdorf bei Berlin (später verlegt nach Stadtilm), der Auergesellschaft in Oranienburg zur Gewinnung von Uranoxid aus Uranerz, der Deutschen Gold- und Silber-Scheide-Anstalt (Degussa) in Frankfurt am Main zur Herstellung von reinem Uran, der Anschütz GmbH in Kiel zum Bau von Gaszentrifugen und der Norwegischen Hydroelektrischen Gesellschaft (Norsk Hydro) bei Rjukan zur Produktion von schwerem Wasser beteiligt waren. Der Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch wies 2005 auf ein zweites Netzwerk von Forschern hin, die in der Heeresversuchsanstalt Gottow sowie in Thüringen und an der Ostsee tätig waren, vom Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, und vom Heereswaffenamt finanziert wurden und angeblich am 12. Oktober 1944 im Sperrgebiet der Halbinsel Bug auf Rügen sowie noch am 12. März 1945 auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf in Thüringen „schmutzige“ Bomben nur schwach angereicherten Urans mit außen umhüllend angebrachten Sprengstoffen gezündet hätten.Footnote 66 Im Unterschied dazu hat Hugo Watzlaweks Beziehungsnetz ganz andere Knoten aufzuweisen, die in den bisherigen Studien zur angewandten Kernforschung in Deutschland stark unterbelichtet geblieben sind: als direkte Auftraggeber seiner kernphysikalischen Arbeiten die Henschel Flugzeugwerke bzw. das Reichsluftfahrtministerium, und als weitere Arbeitgeber die physikalischen Institute der TH Wien, TH Berlin und später der TH München sowie weitere Unternehmen der Luftfahrtindustrie.Footnote 67 Aus der Außenseiterposition Watzlaweks bezüglich des „Uranvereins“ resultieren auch die wenigen blinden Flecken seines Typoskriptes von 1944, in dem beispielsweise keiner der geheimen Forschungsberichte des Uranvereins zitiert wird, während Watzlaweks Text umgekehrt etliche Punkte (siehe oben) beinhaltet, die in den Arbeiten des Uranvereins nur unzureichend oder gar nicht Berücksichtigung fanden. Man sieht hier sehr schön, wie durch die Nichtzusammenführung dieser kernphysikalischen Arbeiten an unterschiedlichen Orten und unter verschiedenen Auftraggebern Synergieeffekte, die im alliierten Manhattan-Projekt voll ausgereizt wurden, nicht genutzt wurden – ein typischer Befund für das polykratische System vieler in Deutschland um die knappen Ressourcen konkurrierender und eher gegeneinander als miteinander arbeitender Forschergruppen.Footnote 68

Dazu passt auch ein geradezu polemischer Beginn der Einleitung im Entwurf seines Lehrbuches von 1943, der 1948 dann unverändert in die erste gedruckte Auflage übernommen worden ist:

Die technische Kernphysik ist dasjenige Gebiet allgemeiner Atomphysik, speziell der Kernphysik, für dessen Ausgestaltung der Ingenieurstandpunkt maßgebend ist. Die außerordentlich rasche Entwicklung der techn. Kernphysik in den U.S.A. zwingt uns ebenfalls, diesen Ingenieurstandpunkt einzunehmen.

Nicht die leere Wissenschaft, die in ärmlicher Weise mit Experiment und Theorie lebensfremd arbeitet, kann das Grundproblem der Technik, die Energieerzeugung lösen, sondern nur die mit den besten wissenschaftlichen Kenntnissen ausgestatteten, großzügig handelnden und denkenden Ingenieure. Dieser neue Ingenieurstandpunkt bietet uns die einzige Möglichkeit, eine gesunde Vereinigung zwischen Theorie und Praxis zu erlangen und soll uns daher durch das ganze Gebiet der modernen techn. Kernphysik führen. (Watzlawek 1943: 4/I 1 bzw. 1948: 1)

Damit reklamierte der Kerntechniker Watzlawek das Gebiet der Kernphysik, das institutionell und disziplinär bislang stets der Physik zugeordnet worden war, nun für die Domäne der Technik. Dem „Bevollmächtigten für Kernphysik“ und ausgebildeten Physiker Walther Gerlach (1878–1979) stieß dieser Passus offenbar übel auf, da er ihn grün mit Schlangenlinien anstrich und nach dessen Lektüre aktiv verhinderte, dass dieses Lehrbuch Watzlaweks 1944 noch im Druck erscheinen konnte.Footnote 69 Wegen dieser für das Wissenschaftssystem in Deutschland damals typischen Inkompatibilität naturwissenschaftlicher und technischer Zugänge zur Kernphysik blieb dem Außenseiter Watzlawek jede Wirkung auf aus der Physik oder Chemie kommende, mit Kernphysik befasste Kollegen an anderen Standorten bzw. auf die Arbeiten im ‚Uranverein‘ verwehrt.

In Teil VI des Typoskriptes von 1944 lässt Watzlawek sich ausführlich über die „Anwendungsmöglichkeiten der technischen Verwirklichung der Kettenreaktion“ aus – etwa eine halbe Seite lang über die Nutzung in „kernphysikalischen Kraftwerken“, als „Volksheizung“ in „kleinen, stets mit sich führbaren“ Öfen (ein in der Tasche transportables Minikraftwerk sozusagen) sowie in der Beleuchtungstechnik und in der Medizin (Watzlawek 1944: 25), aber dann schwärmt er über zwei Seiten lang über Anwendungen für die Rüstung, gegliedert nach Luftwaffe, Marine und Heer mit klarem Schwerpunkt auf ersterer. Gerade hier geht er weit über die Visionen hinaus, die in der publizierten Literatur bis 1940 auch von anderen Autoren bereits gezeichnet worden waren:Footnote 70 So spricht er etwa von Interkontinentalflugzeugen, die mit nur 3 kg U 235 ausgestattet etwa 111 Äquatorflüge ohne zu landen und zu tanken hinter sich bringen könnten, von Raketenflugtechnik oder „gepanzerten Riesenflugzeugen mit Bestückelung schwerer Geschütze“, die „als Festungen der Luft tagelang in großer Höhe fliegen oder mittels Hubschrauben schweben.“ Dadurch sei die „Absperrung weiter Meere mit wenigen solcher Flugzeuge“ ausführbar (Watzlawek 1944: 26). Für die Marine sieht er atomare U‑Boote voraus, die mit geringen Mengen von U 235 beladen mit großer Geschwindigkeit „jahrelang alle Meere der Welt durchfahren.“ Auch die Verwendung von U 235 als „furchtbarster Sprengstoff“ wird in kräftigen Farben ausgemalt und mit numerischen Abschätzungen untermauert (Watzlawek 1944: 26 f.). Er war offenbar begierig darauf, diese technischen Möglichkeiten möglichst bald in die Tat umsetzen zu können und bat nachdrücklich um intensivere Förderung.

Wegen der Publikationssperre über angewandte Kernphysik in den USA und in Deutschland gab es von Mitte 1942 bis 1945 keine weiteren publizierten Texte über derartige Anwendungen, aber das Typoskript von Watzlawek zeigt, dass die Phantasie der in „Großdeutschland“ mit Kernphysik befassten Forscher an diesem Punkt sehr wohl bis zuletzt weitergearbeitet hat. Das widerlegt zum einen die Nachkriegslegende einer vermeintlich nur auf eine friedliche Nutzung in Form eines Reaktors (einer „Uranmaschine“) gerichteten Forschung (dazu kritisch Walker 1990); zum anderen komplementiert es die kontroverse Diskussion zwischen dem amerikanischen Wissenschaftshistoriker Mark Walker und dem deutschen Kernphysiker Manfred Popp (Popp 2016a, 2016b vs. Walker 1989/90, 2017), die beide den Wissensstand der deutschen Kernforschung alleine an den Arbeiten im Kontext des Uranvereins festmachen und die weitaus stärker auf militärische Anwendungen abzielenden Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in den Henschel Flugzeugwerken im Auftrag des Reichsluftfahrtministeriums übersahen.

Das hier in einer durch diese Einführung sowie mit römisch durchnummerierten Endnoten und durch /S. x/ angezeigter Originalpaginierung kommentierten Transkription vorgelegte Typoskript von Watzlawek gibt einen tiefen Einblick in diese technokratische Gedankenwelt und den damaligen Wissensstand eines erstaunlich gut informierten, aber ebenso erschreckend wenig reflexiven „technischen Kernphysikers“.

Danksagung

Für die Bereitstellung einschlägiger Dokumente von bzw. über Hugo Watzlawek danke ich den Archivaren Dr. Norbert Becker (Universitätsarchiv Stuttgart, abgekürzt UAS), Dr. Paulus Ebner (Archiv der TU Wien), Claudia Schülzky (Universitätsarchiv der TU Berlin), Theodore Lauren (US National Archives in College Park, Maryland, USA), Frau Andrea Ladwig vom Bundesarchiv in Berlin sowie dem Bibliothekar Robert Winkelhofer von der Leihstelle der TU Wien Bibliothek, Frau Sakine Toraman vom Melde- und Einwohnerwesen der Landeshauptstadt Innsbruck und den Mitarbeiterinnen der Fernleihe der Universitätsbibliothek Stuttgart. Für ein informatives Gespräch über die Person und Familie Watzlaweks sowie die Genehmigung des kommentierten Abdrucks des Aufsatzes von Watzlawek aus dem Jahre 1944 danke ich seiner Tochter, Frau Dr. Maja Monika Cernuska. Auch den beiden anonymen Gutachtern sowie der Redaktion von NTM sei gedankt für ihre Hinweise.