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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter June 1, 2022

Ein Stück Heimat? Hans Mayers ambivalente Sicht auf Israel

  • Stefan Hermes ORCID logo EMAIL logo
From the journal Naharaim

Abstract

Hans Mayer (1907–2001), one of the most eminent literary critics and public intellectuals in post-war Germany, visited Israel four times between 1968 and 1995. This article aims to reconstruct the key elements of Mayer’s ambivalent (albeit mainly positive) perception of Israeli society and culture as it is documented in his travelogue Reisen nach Jerusalem from 1997 and several further texts. However, Mayer’s view on Israel can only be understood adequately by also considering his situation as a non-religious Jew and Shoah survivor in Germany.

1 Zur Einführung

In seiner breit rezipierten Außenseiter-Monografie von 1975 untersucht Hans Mayer sowohl literarische Repräsentationen von Frauen, die gängige Rollenmuster unterlaufen, als auch solche von homosexuellen Männern und von Juden. Dabei berücksichtigt der 1907 in Köln geborene und 2001 in Tübingen verstorbene Germanist mehr oder minder kanonische Werke der europäischen Literatur von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne; er stellt aber auch vielfach Bezüge zu den politischen Realitäten seiner Gegenwart her – und gelangt im Zuge dessen wiederholt zu Auffassungen, die noch heute, fast ein halbes Jahrhundert später, aktuell anmuten. Für den vorliegenden Aufsatz ist eine dieser Einschätzungen von besonderem Belang; generell aber wird im weiteren Verlauf lediglich am Rande auf Außenseiter einzugehen sein. Ins Zentrum des Interesses rücken hingegen Texte, die es ermöglichen, Mayer als Reiseschriftsteller in den Blick zu nehmen, was bis dato erst in geringem Maße geschehen ist.[1]

Die erwähnte Einschätzung Mayers betrifft den erinnernden Umgang mit der Shoah und besitzt eine gewisse Ähnlichkeit mit jenen Positionen, die der Komparatist Michael Rothberg in seiner kontrovers diskutierten Studie Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization (2009) vertritt. „[D]as Phänomen Auschwitz hatte nur in vordergründiger Weise mit Judenhaß zu tun“, heißt es bei Mayer,

[e]s meinte, weit über die Existenz von Juden hinausreichend, ein globales Vernichtungsdenken, das nur noch Mehrheiten zulassen will, und Minderheit gleichzusetzen strebt mit ,lebensunwertem Leben‘. Lebensunwert mögen hier die Juden sein, dort die Neger, anderswo (und überall) die Homosexuellen, die Frauen vom Typ der Judith und der Dalia: nicht zuletzt die immer noch auf Individuation und rationale Anstrengung des Begriffs erpichten Intellektuellen.[2]

Auf die Singularität des deutschen Genozids an den europäischen Juden besteht der Überlebende Mayer hier keineswegs[3] – was freilich nicht impliziert, dass bei ihm jene polemische Kritik an der bundesrepublikanischen Gedenkkultur vorweggenommen würde, die unlängst der Historiker Dirk Moses geäußert hat.[4] Überdies unterscheiden sich Mayers Ausführungen insofern grundlegend von denjenigen Moses’, als es ihrem Autor fernliegt, gegen den Staat Israel Front zu machen. Ganz im Gegenteil konstatiert Mayer:

Wer den ,Zionismus‘ angreift, aber beileibe nichts gegen die ,Juden‘ sagen möchte, macht sich oder andern etwas vor. Der Staat Israel ist ein Judenstaat. Wer ihn zerstören möchte, erklärtermaßen oder durch eine Politik, die nichts anderes bewirken kann als eine solche Vernichtung, betreibt den Judenhaß von einst und von jeher.[5]

Mayers prinzipielle Solidarität mit Israel, die hier zum Ausdruck kommt, wird in vielen weiteren seiner Texte ebenfalls ersichtlich. Diese geben außerdem zu erkennen, dass Mayer, wie noch zu zeigen sein wird, vor allem die von ihm beobachtete Heterogenität bzw. Diversität der israelischen Gesellschaft und Kultur ungemein positiv bewertet. Gleichwohl wäre es verfehlt, sein Verhältnis zu dem Land als ein eindimensional-unproblematisches zu begreifen. Mit bloßer Affirmation begegnete Mayer ihm mitnichten; speziell während seiner längeren Aufenthalte vor Ort entwickelte er eine durchaus komplexe, ambivalente Sicht auf die dortigen Zustände.

Das Hauptziel dieses Aufsatzes besteht also darin, die Kernelemente von Mayers Israel-Wahrnehmung herauszupräparieren, doch erfordern zunächst einige Aspekte Beachtung, die er selbst wiederholt damit in Verbindung gebracht hat. Das betrifft vorrangig den Blick des zurückgekehrten Exilanten auf Deutschland (bzw. auf BRD und DDR) sowie Mayers Identität als areligiöser Jude: Gerade aufgrund der Tatsache, dass er zeitlebens existenzielle Ausgrenzungserfahrungen machen musste, auch als Homosexueller,[6] drängt sich die Frage auf, ob eine Übersiedlung nach Israel für ihn zumindest vorstellbar war. Zu erörtern ist mithin, inwiefern er das Land als ein Stück – potenzielle und/oder ideelle – Heimat zu betrachten vermochte.

Die in diesem Kontext wichtigste Publikation Mayers, die bislang aber keine gesteigerte Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen hat,[7] ist der Band Reisen nach Jerusalem. Erfahrungen 1968 bis 1995 aus dem Jahr 1997. Darin rekapituliert der bei Erscheinen bereits 90-jährige Autor nicht allein seine vier Israelreisen, sondern geht auch auf die oben benannten Gesichtspunkte ein. Das aber tut er keineswegs in systematischer Manier: Die Narration zeichnet sich über weite Strecken durch einen essayistischen, assoziativ-digressiven und teils montage- und collageartigen Charakter aus;[8] das Schlusskapitel etwa besteht aus einer Rede, die Mayer 1996 anlässlich des israelischen Unabhängigkeitstages in Köln gehalten hatte. Analog zu dieser recht locker gefügten Textstruktur werden in Reisen nach Jerusalem kaum je unverrückbare Positionen artikuliert; vieles hält Mayer – das bleibt zu demonstrieren – bewusst in Bewegung bzw. in der Schwebe. Anscheinend verstand er das „Reise-Genre“ in der Tat als jenen „Ort“, an dem sich ein Schriftsteller „am freiesten bewegen darf“,[9] sei es in inhaltlicher oder formaler Hinsicht.[10]

Neben Mayers „persönliche[m] Erfahrungsbericht“[11] über Israel werden im Folgenden einige seiner literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten und ein Interview, das er Herlinde Koelbl Ende der 1980er Jahre gab, auszuwerten sein. Darüber hinaus wird Ein Deutscher auf Widerruf berücksichtigt – auch wenn sich in Mayers Erinnerungen, deren zwei Bände 1982 und 1984 erschienen, überraschend wenige Passagen finden, die für das hier behandelte Thema von direkter Relevanz sind. Hervorzuheben ist jedoch, dass er die Arbeit daran auf seiner zweiten Israelreise Anfang März 1979 in Jerusalem begann;[12] offenbar fühlte er sich durch den Aufenthalt in der Stadt nachgerade zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewordensein herausgefordert. In Jerusalem habe er sich gesagt, so Mayer im erwähnten Interview: „Jetzt schreibst du nicht ein weiteres Buch über deutsche Literatur, sondern beschreibst die Geschichte deines Lebens, in den Verhältnissen deiner Zeit. In diesen Tagen in Israel hat sich in meinem Inneren etwas bewegt.“[13] Als Mayer Ein Deutscher auf Widerruf knapp fünf Jahre später, im Januar 1984, abschloss, lag auch seine dritte Israelreise von 1983 bereits hinter ihm; bis zur vierten und letzten sollten noch 12 Jahre vergehen.[14]

2 Mayers Selbstverständnis als ,Deutscher auf Widerruf‘ und areligiöser Jude

Aus dem allegorischen Charakter, der dem Titel von Mayers Reisen nach Jerusalem unübersehbar eignet, resultiert eine gewisse Nähe zu dem der Außenseiter-Studie. Denn das bis heute zum Beispiel auf Kindergeburtstagen verbreitete Spiel ,Reise nach Jerusalem‘ sieht ja das Ausscheiden des- bzw. derjenigen vor, dem bzw. der es im Moment der Unterbrechung der Musik nicht gelingt, sich auf einen der im Kreis aufgestellten Stühle zu setzen, deren Anzahl die der Mitspielenden stets um eins unterschreitet. Doch auch für den Gewinner oder die Gewinnerin handelt es sich um ein „insgeheim bedrückendes Geschehen“, so Mayer: „Ein Spiel mit den Ausgrenzungen. Ein Spiel mit dem Überleben. Allein, es ist, am Spielende, ein trauriges Überleben in der Einsamkeit. Dieses heitere Kinderspiel ist recht eigentlich auch ein Parabelspiel für alte Leute.“[15]

Wie bereits erwähnt, war Mayer selbst von radikalsten Exklusionsmechanismen betroffen. Nach der Machtüberahme der NSDAP hatte er – als Jude, Homosexueller und Marxist – über Belgien nach Frankreich und in die Schweiz fliehen müssen, wo er mehrfach interniert wurde.[16] Seine Eltern Ida und Rudolf überlebten die Shoah nicht; sie wurden 1941 nach Litzmannstadt (Łódź) deportiert und im Jahr darauf im KZ Kulmhof (Chełmno nad Nerem) ermordet.[17] Nach dem Zusammenbruch des ,Dritten Reichs‘ war Mayer zunächst als (Radio-)Journalist in Frankfurt am Main tätig, ehe man ihm eine Professur an der Universität Leipzig anbot, wo er ab 1948 Literaturwissenschaft lehrte. Zunehmende Schikanen durch den Staatsapparat der DDR[18] veranlassten ihn 1963 zur Übersiedlung in die Bundesrepublik – „worauf die Stasi“, so Mayer, „meine gesamte Habe konfiszierte“[19] –, und ab 1965 bekleidete er einen Lehrstuhl an der Technischen Universität Hannover. Allerdings ließ er sich 1973, nachdem die Berufung seines Schülers Fritz J. Raddatz gescheitert war, vorzeitig emeritieren und wirkte fortan von Tübingen aus als Publizist.

Schon angesichts dieses äußerst knappen biografischen Abrisses erscheint es mehr als naheliegend, dass Mayer weder für die DDR noch für die BRD schwelgerische Heimatgefühle hegte.[20] Vielmehr fragte er sich im Alter sogar, ob es nicht „ein Fehler [war], nach Deutschland zurückzukehren“ – wenngleich es dafür gewichtige Gründe gegeben habe: „[O]hne diese Entscheidung wäre ich nicht das geworden, was ich heute bin. Was ich geschrieben habe, konnte ich nur hier schreiben.“[21] Speziell den nach wie vor grassierenden Antisemitismus schildert Mayer im Gespräch mit Herlinde Koelbl jedoch als schier unerträglich: „Ich glaube, wäre ich zwanzig Jahre jünger, würde ich meinen Wohnsitz in Deutschland wieder aufgeben. Da mache ich gar keinen Unterschied zwischen der BRD und der DDR.“[22] Entsprechend verwahrte sich der 1938 Ausgebürgerte gegen wohlmeinende Vereinnahmungsversuche durch die Mehrheitsgesellschaft. Allenthalben sage man ihm: „Aber Sie sind doch heute deutscher Professor, hochgeehrt in der Bundesrepublik, auch in der DDR – also sind Sie doch wieder Deutscher.“[23] Das aber weise er strikt zurück: „Meine Antwort ist nach wie vor: nein.“[24] Er könne auch nicht behaupten, dass er seinen „ehemaligen Landsleuten gegenüber irgendwelche Sympathien hätte.“[25] Nicht minder deutlich heißt es in Mayers Monografie Der Widerruf. Über Deutsche und Juden (1994): „Ich bin ein deutscher Universitätsprofessor und ein deutscher Schriftsteller. Deutscher bin ich nicht mehr und kann es auch nie wieder sein.“[26] Demgemäß hat er Koelbl gegenüber betont, dass „Heimat“ für ihn „ein ganz enger Begriff“ sei, mit dem er nicht Deutschland, sondern lediglich seine Herkunftsregion verbinde:

Heimat ist das Rheinland, Köln, die rheinische Landschaft, die mich immer wieder bewegt […]. Das ist meine Landschaft. Das verleugne ich nicht. […] Doch ganz wohl ist mir bei dem Begriff Heimat nicht. Wenn in Deutschland wieder ein Heimatgerede anfängt, ist das ein Gefahrensignal.[27]

Wie nur allzu verständlich, war eine Identifikation mit Deutschland für Mayer mithin undenkbar. Im Kontrast dazu ermöglichte ihm sein Judentum dem Anschein nach durchaus ein Gefühl der Zugehörigkeit; er habe sich „stets als Jude gefühlt und dargestellt“,[28] bekundet Mayer in Reisen nach Jerusalem. Jedoch sind derartige Aussagen prinzipiell kaum zu verifizieren, und überdies hat man die Glaubwürdigkeit gerade von Mayers Selbstauskünften äußerst gering veranschlagt. So enthalten die 2010 veröffentlichten Tagebücher des bereits erwähnten Fritz J. Raddatz einen Eintrag aus dem Jahr 1983, in dem der erste Band von Ein Deutscher auf Widerruf als durch und durch „verlogen[ ]“[29] abgetan wird.[30] In einem Notat aus dem Folgejahr heißt es über Mayer sogar: „Ich glaube kein Wort von ihm, nichts, was er schreibt, nichts, was er sagt. […] [V]erlogen ist auch jede Zeile in seinen Memoiren […]. Er lügt sich seine eigene Biographie zurecht (tun wir das alle?), und er lügt sich seine Urteile zurecht.“[31] Allerdings legt die eingeklammerte Frage nahe, dass Raddatz ungeachtet seiner hyperbolisch-empörten Formulierungen eigentlich bewusst war, in welch hohem Maße das, was er seinem akademischen Lehrer ankreidete, dem Regelfall entspricht. In der Autobiografie-Forschung wurde denn auch verschiedentlich festgestellt, dass „das Kriterium der Objektivität […] ein höchst problematisches“ sei: „Es liegt auf der Hand, dass niemand in der Lage ist, die subjektive Wahrnehmungsperspektive hinter sich zu lassen.“[32] Demnach bestehe das Hauptmerkmal der (modernen) Autobiografik in ihrer „Doppelpoligkeit zwischen Fiktionalisierung und fortdauernder Beglaubigung“,[33] und folglich mutet es weniger ergiebig an, die Faktizität bzw. die Authentizität eines autobiografischen Textes klar bemessen zu wollen, als nach den Techniken und Zielen der Selbstinszenierung des schreibenden Individuums zu fragen.[34]

Angesichts dessen sollte man Raddatzʼ Insinuation aus dem Jahr 1987, Mayer sei seine jüdische Herkunft weitgehend „gleichgültig“[35] gewesen, sicher nicht zu viel Gewicht beimessen. Jedenfalls impliziert dessen Bekenntnis zum Judentum keinerlei religiöse Überzeugungen. „Seit meinem siebzehnten Lebensjahr bin ich nicht wieder in einer Synagoge gewesen“, hat Mayer mit Anfang achtzig zu Protokoll gegeben, und weiter:

Wenn man mich nach der Religion fragt, dann sage ich immer: Ich interessiere mich nicht für Religion, aber für Theologie. Ich interessiere mich für theologische Deutungen und das Verhältnis von Glauben und Wissen. Alles andere, Glaubensbekenntnisse – schwer zu sagen. Ich bin nicht einmal mit Überzeugung Atheist. Weil ich auch das für töricht halte.[36]

Im Übrigen vertrat Mayer die einigermaßen irritierende, da mit antisemitischen „Rasse“-Konzepten nicht inkompatible Auffassung, er „sehe jüdisch aus.“[37] Den vorsichtigen Einwand seiner Gesprächspartnerin Koelbl, das Vorhandensein einer jüdischen Physis sei doch „heftig umstritten“, ließ er nicht gelten: „Ich glaube […], daß Juden einander in der Menge erkennen.“[38] Dies hänge mit ihrer gemeinsamen Abkunft zusammen; die Juden seien nun einmal ein „Mittelmeervolk“, und auch „[v]ieles, was im Norden als typisch jüdisches Verhalten gilt, läßt sich wahrscheinlich herleiten aus einer mittelmeerischen Existenz“,[39] darunter eine spezifische Form des Gestikulierens, wie man sie ähnlich bei Spaniern, Italienern oder Griechen beobachten könne.[40] Außerdem sei schwerlich zu leugnen, dass sich „die Geschichte auch im Äußeren auskristallisiert. […] Prägend sind bestimmte Formen der Zivilisation, zum Beispiel der Umstand, daß die Juden keine Bauern waren und daher auch keine bäuerlichen Züge haben.“[41] Daraufhin aber korrigiert sich Mayer: „Wobei selbst das nicht stimmt. Mein Vater wäre nie für einen Juden gehalten worden. Er hatte den Körper eines Eifelbauern, war ein blonder, blauäugiger Rheinländer. Ich bin – Mendelsches Gesetz – wieder nach dem Großvater geraten, mit ausgesprochen jüdischen Eigenschaften.“[42]

Weshalb diesen biologistischen Einlassungen ein höchst prekärer Charakter eignet, muss wohl nicht ausbuchstabiert werden. Es dürfte genügen, sie als ein eindrückliches Beispiel dafür zu betrachten, wie heikel Versuche, das vermeintliche Wesen des Jüdischen zu ergründen, und damit verschränkte Identitätsfragen seit jeher häufig ausfallen. Mayer selbst hat derlei wiederholt scharfsinnig analysiert, etwa in Bezug auf das Problem des ,jüdischen Selbsthasses‘, wie es nicht erst seit Theodor Lessings Monografie von 1930 diskutiert wurde.[43] Dies aber bedeutet eben nicht, dass er den Fallstricken solcher Debatten seinerseits stets entgangen wäre.

3 Ein Stück Heimat? Mayers affirmative Israel-Wahrnehmung

Es stellt sich nun also die Frage, welche Relevanz Mayers Israel-Aufenthalten für dessen Selbstverständnis zukam. Von Belang ist in diesem Zusammenhang, dass er in Reisen nach Jerusalem unterstreicht, niemals „Zionist gewesen“[44] zu sein, denn, so die Begründung im Interview mit Koelbl, „[a]ls Marxist konnte ich nicht Zionist werden.“[45] Dazu passt es, dass er sich Israel in Reisen nach Jerusalem vergleichsweise umwegig, ja zögerlich annähert, nämlich vermittelt über die europäische Literaturgeschichte, wobei er insbesondere Torquato Tassos Kreuzzugsepos La Gerusalemme liberata (1575) behandelt.[46] Was sich demnach gleich zu Beginn abzeichnet, ist die schon benannte heterogene Anlage von Mayers Text, der mit vielen weiteren literatur-, musik- und kunsthistorischen Exkursen aufwartet, die zu den eigentlichen Reiseschilderungen in auffälligem Kontrast stehen. Gewidmet sind sie kanonischen Werken von Goethe,[47] Thomas Mann[48] und Kafka[49] oder auch Schönbergs 1954 uraufgeführter Oper Moses und Aron, die auf nicht weniger als zwanzig Seiten einer Interpretation unterzogen wird.[50] Analog dazu zeigt der Schutzumschlag der Erstausgabe nicht etwa ein in Israel aufgenommenes Fotomotiv, sondern den in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom zu besichtigenden Moses des Michelangelo.[51] Mit diesen Eigenheiten von Reisen nach Jerusalem korrespondiert Mayers nicht-holistische, nicht-monolithische Perzeption der israelischen Verhältnisse.

Indes gibt Mayer durchaus zu verstehen, dass er gleich nach seinem ersten Eintreffen in Israel eine identitätsstiftende historische Kontinuität registriert habe. Es sei nämlich just der „Große[ ] Saal der Loge Bne Brith“ gewesen, in dem er im Oktober 1968 einen Vortrag hielt, und „[d]ieser Name war mir wohlbekannt. Mein Vater war Mitglied der Loge Bne Brith gewesen.“[52] Indem Mayer diese Information zwei Seiten darauf fast wörtlich wiederholt,[53] versieht er sie mit zusätzlichem Nachdruck: In Israel kann er an einer Tradition teilhaben, die in Deutschland durch jenes Regime, das auch seine Eltern ermordete, unterbrochen worden war.[54] Darüber hinaus bemerkt Mayer, dass seine in früher Jugend erworbenen, lang verschütteten Kenntnisse des Althebräischen ihn zu einem rudimentären Verständnis des Ivrit befähigen.[55] Die wichtigste Landes- und einzige Amtssprache Israels ist ihm somit nicht völlig fremd, und folglich meint er, wenigstens in begrenztem Rahmen an einer der Grundvoraussetzungen für die „gemeinsame geistige Identität“[56] des Landes – und das heißt: für dessen nationale Identität – partizipieren zu können. Und auch auf einen weiteren Faktor, ohne den die ,Erfindung‘ einer Nation (nicht nur) gemäß Benedict Andersons Standardwerk Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism (1983) kaum gelingen kann, nimmt Mayer Bezug: auf das mehr oder minder klar definierte „Territorium“, ohne das „dieser Staat nicht denkbar gewesen“[57] wäre.[58] Zum Tragen kommen demnach integrale Bestandteile eines nationalen Denkens, das sich im deutschsprachigen Raum ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert verbreitete, unter anderem durch die Schriften Herders.[59]

Zudem steht für Mayer außer Frage, dass Israel auch für die jüdische Diaspora von elementarer Bedeutung ist: „[S]elbstverständlich“ gebe es „eine tiefe geistige und emotionale Gemeinsamkeit aller Juden, ob sie es sich eingestehen oder nicht, mit […] Israel.“[60] So habe er, als erklärter Nicht-Zionist, „mit großer Sympathie die Gründung des Staates […] verfolgt“ und Jahrzehnte später, als er ihn dann besuchte, sogar veritable Heimatgefühle verspürt: „Ich kann es nicht rational erklären, aber ich habe auch in Israel eine Heimat vorgefunden, ebenso wie die Landschaft im Rheinland.“[61] Das heißt zwar nicht, dass Mayer jemals ernsthafte Alija-Pläne schmiedete,[62] doch bescherte ihm seine erste Israelreise ein regelrechtes Erweckungserlebnis: Am Strand von Herzlia sei ihm schlagartig bewusst geworden, „wie absurd meine jahrelange Abneigung gewesen war, auch nur den Gedanken zuzulassen an ein Leben in einem jüdischen Staat: also, wie ich mir innerlich voller Unbehagen immer wieder vorgesagt hatte, ,unter lauter Juden‘.“[63]

Den Hauptgrund für diesen Sinneswandel erblickt Mayer darin, dass sich seine Befürchtung, in Israel mit einer allzu homogenen Gesellschaft konfrontiert zu werden, vor Ort als abwegig erwies. Die „jüdische Gemeinschaft“ im Land – die sich ja tatsächlich aus Migrant*innen aus höchst unterschiedlichen Weltgegenden und deren Nachkommen zusammensetzt – sei zugleich eine dezidiert „,multikulturelle‘ Gemeinschaft“,[64] ja „eine ungeheuer divergierende Menschheit.“[65] Mit anderen Worten: „Lauter Juden, das bedeutet extreme Vielfalt“[66] bzw. einen „extremen Pluralismus […], vom Noch des Gettos bis zur Technologie der Atomzeit.“[67] Allerdings beschränkte sich Mayers affirmative Wahrnehmung sozialer und kultureller Heterogenität nicht auf die innerhalb der jüdischen Bevölkerungsmehrheit vorhandene. Vielmehr berichtet er in Reisen nach Jerusalem auch davon, wie er 1979, bei seinem zweiten Israel-Besuch, die Gastfreundschaft einer drusischen Familie genoss, die ihm unter anderem, „obwohl ich gar nicht gefragt hatte, ein bißchen vom Glauben der Drusen erzählte.“[68] Weitere arabische Israelis finden zumindest am Rande Erwähnung,[69] und so kristallisiert sich insgesamt das Bild eines Landes heraus, dessen Einwohnerschaft einen derart hohen Diversitätsgrad aufweist, dass es dort schlechterdings keine Außenseiter(kollektive) gibt, die einer in sich geschlossenen Majorität rückhaltlos ausgeliefert sind.[70] Eben dies ist es, was Mayer so sehr faszinierte – und nicht die Möglichkeit, sich als Jude endlich selbst einmal als Angehöriger einer Mehrheit zu begreifen.

Welche Überzeugungskraft ein solches (idealisiertes) Israel-Bild zu entfalten vermag, ist hier nicht zu entscheiden. In jedem Fall war es mitursächlich dafür, dass Mayer vehement die Auffassung vertrat, es müsse „alles getan werden, um den Staat Israel zu erhalten. Das ist die Hauptsache.“[71] Dies begründete er freilich auch und gerade damit, dass einzig die Existenz dieses Staates den Fortbestand des Judentums gewährleisten könne; im Grunde sei von einer „Alternative“ auszugehen, so Mayers pointierte Formulierung, welche „die Namen Auschwitz und Israel trägt.“[72] Jedoch hinderte ihn seine positive Haltung zu dem Land keineswegs daran, zugleich davon auszugehen, dass „notwendigerweise“ die „Möglichkeit von Spannungen“[73] zwischen den dort lebenden Juden und denen der Diaspora gegeben sei.

4 Konfliktpotenzial: Mayers Kritik an den politischen Verhältnissen in Israel

Mit derartigen Spannungen sah Mayer selbst sich insofern konfrontiert, als er seine erste Israelreise 1968 „als Gast der bundesdeutschen Botschaft“[74] absolvierte, und zwar gemeinsam mit Walter Jens und (ausgerechnet) Martin Walser. Anders als für die beiden Nicht-Juden musste der Status eines offiziellen Repräsentanten jenes Staates, in dem er seit nunmehr fünf Jahren lebte, für Mayer beinahe zwangsläufig zum gravierenden Problem werden: „Ein überlebender deutscher Jude soll hier als Sprecher für die Bundesrepublik Deutschland auftreten. Wie kann er das tun, wie kann er das wagen?“[75] Eine befriedigende Antwort auf diese Frage vermochte er nicht zu geben, zumal Mayer seine Rückkehr aus dem Exil nach Deutschland als eine „Rückkehr in die Fremde“, aber niemals als einen „,Verrat‘ am Judentum“[76] empfunden hatte. Eine solche Vorstellung bewertet er in Reisen nach Jerusalem sogar als schlicht „absurd[ ].“[77]

Weniger widersinnig erschien derlei hingegen weiten Teilen der israelischen (Medien-)Öffentlichkeit, die Mayers ersten Aufenthalt im Land recht aufmerksam verfolgte. Während bei seinem gut besuchten Vortrag in den Räumlichkeiten von Bʼnai Bʼrith noch eine „[f]reundliche Stimmung“[78] geherrscht habe, sei die Pressekonferenz am Folgetag der Auftakt zu einer Kampagne gegen ihn gewesen. Den äußerst negativen Tenor der Berichterstattung gibt Mayer wie folgt wieder:

Da kommt einer, der so viel gelitten hat durch die Nazis, gleich nach Kriegsende einfach nach Deutschland zurück! Er kommt […] dann nach Israel […] als Gesandter eines westdeutschen Staates, der in seinen Anfängen so viele Antisemiten, Rassentheoretiker, Gewalttäter benutzt und beschützt hatte. […] Mit denen hätte ich also gemeinsame Sache gemacht.[79]

Diesem denkbar krassen Vorwurf begegnete Mayer recht defensiv: „Ich nannte meine Lebensentscheidungen höchst persönliche Dezisionen, die an sich weder tadelnswert seien noch nachahmenswert.“[80] Damit aber habe er niemanden überzeugen können, und in der Folge sei der Publikumszuspruch für seine Vorträge massiv zurückgegangen.[81]

Über seine gut ein Jahrzehnt später unternommene zweite Israelreise weiß Mayer indes Erfreulicheres zu berichten. Des „Renegatentum[s]“[82] habe man ihn nun nicht mehr bezichtigt, und generell sei die Beschäftigung mit germanistischen Themen kaum noch als anstößig aufgefasst worden: Stattdessen habe sich die Einsicht verbreitet, dass damit keineswegs „irgendeine Vertuschung des Holocaust“[83] einhergehen müsse. An seine Zeit als Gastprofessor an der Hebräischen Universität in Jerusalem, die ihm überdies beglückende Begegnungen mit Gershom Scholem und Stéphane Mosès sowie ehrenvolle Einladungen nicht nur des Universitäts-, sondern sogar des Staatspräsidenten beschert habe, erinnere er sich daher mit Freude zurück.[84]

Im Rahmen von Mayers drittem Israel-Aufenthalt 1983 waren dann aber neuerlich Misstöne zu vernehmen. Zwar sei auf der von Albrecht Schöne initiierten Tagung in Jerusalem, die sich um eine „Neudeutung und Überprüfung deutscher Literatur der Vergangenheit nach dem Holocaust“[85] bemühte,[86] ein fruchtbarer Austausch zwischen israelischen und deutschen Germanist*innen zustande gekommen, doch habe es von anderer Seite „gereizte […] Einwände“[87] gegen einen Abendvortrag zu Goethe gegeben. „Der Vortrag des deutschen Kollegen war untadelig in der Form und der Gesinnung“, kommentiert Mayer den Sachverhalt, „[a]llein, es wurde in der Stadt, vor allem auch in Teilen der Presse, die bloße Tatsache eines Goethe-Vortrags fast zur Zumutung hochgespielt.“[88]

Für die israelischen Befindlichkeiten konnte Mayer in diesem Fall also wenig Verständnis aufbringen, und dazu fügt es sich, dass er in Reisen nach Jerusalem nicht mit scharfer Kritik an den politischen Zuständen im Land spart. Ja, seine Begeisterung schlägt mancherorts schier ins Gegenteil um, etwa wenn sich Mayer rigoros gegen ein „fast anachronistisch wirkende[s] orthodoxe[s] Sakraldenken[ ]“[89] bzw. gegen jegliche Bestrebungen wendet, Israel von einem „weltlichen“[90] in einen „Gottesstaat“[91] zu verwandeln. „War er aufzuhalten“, fragt er an anderer Stelle, „der religiöse Dogmatismus der Frommen im Staate Israel, der so liebevoll und ausgiebig, wie man wußte, von den ebenso Reichen wie Frommen in New York und Miami unterstützt wurde?“[92] Obendrein rügt Mayer „das selbstgefällige Besitz- und Herrschaftsdenken sehr wohlhabender amerikanischer Judenkreise“,[93] und mithin bedient er sich insgesamt einer zumindest fragwürdigen antiisraelischen und antiamerikanischen Diktion.

Dies wirkt umso heikler, als sich Reisen nach Jerusalem ja in allererster Linie an eine deutsche Leserschaft richtete (eine Übersetzung ins Ivrit kam ebenso wenig zustande wie eine ins Englische oder in irgendeine andere Sprache[94]). Denn passagenweise scheint Mayers Text jene ressentimentgeladene Haltung gegenüber Israel zu bestätigen, die im deutschen politischen Diskurs seit Mitte der 1980er Jahren zusehends Verbreitung gefunden hat – auch im sich wohl mehrheitlich als linksliberal verstehenden Suhrkamp-Milieu, dem Mayers ,Stammpublikum‘ angehörte. So hat Amos Oz die Auffassung vertreten, die in Westdeutschland lange dominierende Bewunderung Israels sei sukzessive einer tiefen „Enttäuschung“, wenn nicht gar offener „Feindseligkeit“ gewichen:

Israel nahm in den Augen nicht weniger Deutscher immer mehr die Gestalt eines Besatzerstaates an, der die Palästinenser unterdrückte, zerfressen war von religiösem und nationalistischem Fanatismus, habgierig, egoistisch, auftrumpfend und häßlich, ein manipulativer Staat, der listig an amerikanischen und anderen Fäden zieht, um Kriege, Unterdrückung und Gewalt im Nahen Osten zu vermehren.[95]

Den damit verbundenen (kollektiv)psychologischen Mechanismus der Schuldabwehr qua Täter-Opfer-Umkehr beschreibt Oz folgendermaßen:

[D]as grausame Verhalten Israels gegenüber den unterdrückten Palästinensern beweise ja, daß die Juden auch nicht besser als andere sind. Vielleicht im Gegenteil. Also könnten unter den Millionen Juden, die von Deutschen ermordet wurden, wohl nicht wenige gewesen sein, die sich, wären sie nicht ermordet worden, vielleicht in grausame israelische Soldaten im Gazastreifen oder fanatische Siedler in der Westbank verwandelt hätten. Wenn also nicht alle sechs Millionen Anne Franks waren, wenn die bösen Taten Israels bezeugen, daß sich unter den Opfern der Nazimörder möglicherweise auch nicht wenige Juden finden ließen, die nicht ganz so liebe Juden waren, dann – wie soll man es sagen – können einige Deutsche vielleicht etwas aufatmen? Vielleicht sieht das ungeheuer große deutsche Verbrechen dann plötzlich ein ganz kleines bißchen weniger groß aus?[96]

Auch Mayer – dem derlei Auffassungen selbstredend nicht vorzuwerfen sind – begreift in Reisen nach Jerusalem neben dem religiösen Fanatismus insbesondere einen vermeintlichen israelischen „Eroberer-Nationalismus“[97] als Anlass zur Sorge. „[N]ationalistische Unbeweglichkeit“[98] oder gar „Träume[ ] von einem Groß-Israel“[99] erachtet er für fatal, und des Weiteren moniert er, dass die „junge Generation“ im Land aufgrund der herrschenden Wehrpflicht eine nicht zuletzt „soldatisch-militärische Gemeinschaft“ bilde, die „demokratisch-politischen Lösungen mißtraut“ – was allerdings nichts daran ändere, dass Israel „natürlich […] ein demokratisches Gemeinwesen“[100] mit freien Wahlen, freier Justiz und freien Medien sei. Hier rückt denn doch wieder Mayers Hochschätzung für den jüdischen Staat in den Vordergrund, und es ist kaum zu übersehen, dass er just aus dieser Hochschätzung die Lizenz zu harscher Kritik ableitete.

Demgemäß wird im skizzierten Zusammenhang einerseits erneut Mayers Distanz zum zionistischen Projekt erkennbar, doch zeigt sich andererseits abermals, wie weit er davon entfernt ist, es in Bausch und Bogen zu verdammen. Stattdessen bemüht er sich um einen möglichst differenzierten Standpunkt, und folglich versteht er den Zionismus auch nicht als ein unveränderliches Phänomen, sondern hebt die mannigfachen „Wandlungen[101] hervor, die dieser seit Herzls bahnbrechenden Werken Der Judenstaat (1896) und Altneuland (1902) durchlaufen habe. Mit einer gewissen Grundsympathie bedenkt Mayer den Zionismus aber zuallererst deshalb, weil er ihn in so geläufiger wie einleuchtender Weise als Reaktion auf die „permanente gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierung“[102] der Juden in Europa deutet; der Staat Israel sei letztlich „nur möglich geworden“, so Mayer in Anspielung auf Paul Celans Todesfuge (1948), „weil sich der Tod zum Meister aus Deutschland entwickelte.“[103] Auf Mayers Auseinandersetzung mit der Shoah wäre freilich im Rahmen einer anders gelagerten Studie in gebotener Ausführlichkeit einzugehen.[104]

Unabhängig davon charakterisiert Mayer den Zionismus zudem als eine ursprünglich „antibürgerliche und antikapitalistische Bewegung“, die sich vom Marxismus stets ebenso abgegrenzt habe wie von der „deutsch-bürgerliche[n] Hochkultur“,[105] was man etwa an der „kollektiven und solidarischen, vor allem ländlichen Lebensform“[106] der Kibbuzim festmachen könne.[107] Allein: „In der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts ist wenig davon übriggeblieben“,[108] stellt Mayer ernüchtert fest; späteren Einwanderer*innen nach Israel seien die benannten Traditionen oftmals fremd geblieben.

5 Ein Ausblick

In der deutschen Presse hat Reisen nach Jerusalem keine sonderlich große Resonanz erfahren. Die Zahl der Rezensionen fiel vergleichsweise gering aus, und die in Anbetracht ihres Erscheinungsorts wohl wichtigste Besprechung, diejenige von Friedmar Apel in der Frankfurter Allgemeinen, bot kaum mehr als ein Inhaltsreferat.[109] Demgemäß war Mayers Israel-Darstellung auf dem Buchmarkt nicht sehr erfolgreich; die gebundene Ausgabe erlebte zwei Auflagen, das Taschenbuch nur eine. Ungeachtet dessen handelt es sich bei Reisen nach Jerusalem um einen Text, der die Aufmerksamkeit (nicht nur) der Forschung unbedingt verdient, und zwar wesentlich deshalb, weil er keine eindimensional-vereindeutigende, sondern eine facettenreich-ambivalente Wahrnehmung der israelischen Realitäten vermittelt. Damit konvergiert, dass darin und in den weiteren einschlägigen Publikationen Mayers immer wieder dessen ethisch-politische Affirmation gesellschaftlicher und kultureller Heterogenität zum Ausdruck kommt – und dass speziell Reisen nach Jerusalem auch in formaler Hinsicht äußerst heterogen anmutet, da der Band durch eine starke Tendenz zur Assoziation und Digression, zum Montage- und Collageartigen bestimmt ist.

Vor diesem Hintergrund ließe sich künftig sondieren, in welchem Maße Mayers literaturwissenschaftliche Arbeiten bisweilen ganz ähnlichen Prinzipien folgen wie seine Reiseschilderungen. Immerhin hat man ihrem Verfasser mit gutem Grund bescheinigt, dass er niemals „eine systematisch ausgebildete und terminologisch fest umrissene Literaturtheorie“ entwickeln wollte, „die auf alles und jedes gleichermaßen anwendbar gewesen wäre.“[110] Mitunter ist Mayers germanistisches Œuvre daher sogar als „pre-theoretical“[111] eingestuft worden, was Eckart Goebel jedoch mit Blick auf Außenseiter in plausibler Weise zurückgewiesen hat. Vielmehr verhalte es sich so, dass der dort verfolgte Ansatz „anticipates both Michel Foucault’s analysis of discourse as well as the postmodern idea of thinking singularities. In other words, Mayer prepared the ground in Germany for the theoretical debates of the next generation, which in the end left him behind.“[112]

Des Weiteren dürfte es sich als produktiv erweisen, über die Beschäftigung mit Mayers oben diskutierten Texten hinauszugehen, indem man deren Ort innerhalb des Gesamtkorpus der (narrativen) deutschsprachigen Israel-Literatur zu bestimmen sucht: Zu eruieren wäre also unter anderem, wo Mayer gängige Topoi aufruft und wo er stattdessen individuelle Akzente setzt. Indes bildet die Aufarbeitung der entsprechenden faktualen, aber auch fiktionalen Werke höchst unterschiedlicher jüdischer wie nicht-jüdischer Autor*innen – von Friedrich Dürrenmatt[113] über Edgar Hilsenrath,[114] Katharina Hacker,[115] Doron Rabinovici,[116] Olga Grjasnowa,[117] Vladimir Vertlib[118] und Norbert Gstrein[119] bis zu Dmitrij Kapitelman[120] – derzeit noch ein Desiderat.


Corresponding author: Stefan Hermes, Institut für Germanistik, Universität Duisburg-Essen, Universitätsstraße 2, 45117 Essen, Germany, E-mail:

Online erschienen: 2022-06-01
Erschienen im Druck: 2022-06-27

© 2022 Stefan Hermes, published by De Gruyter, Berlin/Boston

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Downloaded on 28.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/naha-2021-0021/html
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