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Das (vermeintliche) Ungenügen des Hedonismus

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Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Der Hedonismus ist aus der gegenwärtigen Debatte um das gute Leben als ernstzunehmende Position nahezu verschwunden. Die dabei vorherrschende Kritiklinie wirft dem hedonistischen Ansatz ein systematisches Ungenügen vor: Er sei eine zu schlichte Theorie, um all das angemessen abbilden zu können, was ein menschliches Leben zu einem glücklich-gelungenen macht. In einer kritischen Auseinandersetzung mit zwei prominenten Fassungen dieser Kritiklinie – einerseits Carlyles Vorwurf, der Utilitarismus sei eine „Philosophie für Schweine“, und Mills Versuch einer Antwort darauf, andererseits Nozicks Gedankenexperiment der „Erlebnismaschine“ – argumentiere ich dafür, dass dieser Einwand keineswegs das Ende für den Hedonismus bedeuten muss. Ich zeige argumentative Wege auf, mit denen ein zeitgemäßer Hedonismus darauf reagieren kann, die in die grundlegendere These münden, dass der Hedonismus als Theorie des guten Lebens gut daran täte, seine moralphilosophische Unabhängigkeit – insbesondere vom Utilitarismus – zu behaupten.

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Notes

  1. Für die deutschsprachige Debatte, vgl. paradigmatisch Peter Schabers Ablehnung des Hedonismus: 1998, 152f. Zwar erwähnt Holmer Steinfath die Nähe seiner Theorie zum Hedonismus (2001, 382 f.), fügt dem aber umgehend so tiefgreifende Unterschiede seiner Theorie zu hedonistischen Theorien an, dass fraglich bleibt, inwiefern er überhaupt in der Nähe des Hedonismus verbleibt. In den anglophonen Diskussionen finden sich dagegen noch vereinzelt Vertreter einer hedonistischen Theorie des guten Lebens. Sie beschränken sich aber vorrangig auf zwei Denker: Roger Crisp (2006) und Fred Feldman (2002 u. 2010), die seit einigen Jahren vor allem eine – weithin meta-ethisch verortete – Debatte darüber führen, ob die Grundkategorie des Hedonismus, die „Lust“, eher als eine bestimmte, phänomenal eigenständige Empfindung (enjoyableness), oder aber als Einstellung (attitude) verstanden werden sollte.

  2. James Griffins Vorgehen in Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance (1986) – eines der bis heute für die Debatte zentralen Werke – ist dabei maßgeblich: Griffin erwähnt Robert Nozicks Gedankenexperiment der „experience machine“ auf S. 9 und schiebt damit den Hedonismus für den gesamten Rest des Buches beiseite.

  3. Der Hedonismus bestimmt seinen Grundbegriff als terminus technicus dabei sehr umfassend: Unter „Lust“ wird ein breites Arsenal an positiven Empfindungen verstanden, das neben dem – im Deutschen recht eng bestimmten – Ausdruck „Lust“ auch Freude, Vergnügen, Genuss und Spaß umfasst. Eine heute geläufige Differenzierung unterscheidet einen handlungstheoretischen Hedonismus (engl. motivational, manchmal auch psychological hedonism) – die These, dass wir in all unseren Handlungen immer nach Lust streben – von einem normativen (normative hedonism), also einer Werttheorie, die in der Lust das höchste anzustrebende Gut verortet (vgl. zu dieser Unterscheidung konzise Weijers 2018). Im Folgenden wird es dieser Unterscheidung gemäß also um einen normativen Hedonismus gehen, der sich allerdings nicht auf den normativen Bereich der Moral und ihrer wechselseitigen Forderungen bezieht, sondern auf den des guten, glücklich-gelungen Lebens.

  4. Der Hedonismus wurde philosophiegeschichtlich wohl zuerst von Aristipp und seinen Schülern, den Kyrenaikern, vertreten (vgl. Pieper 2001, 42-52 u. Ruhnau 2004, 1024). In Platons Dialog Philebos erfährt der Hedonismus als Theorie des guten Lebens eine grundsätzliche Kritik. Aristoteles diskutiert in der Nikomachischen Ethik (X 2) ein hedonistisches Argument, das er Eudoxos von Knidos zuschreibt. Die philosophisch ausgearbeitetste Theorie des Hedonismus findet sich in der griechischen Antike zweifelsohne bei Epikur, insbesondere in seinem Brief an Menoikeus. Zum Hedonismus und seiner Geschichte in der Philosophie, s. konzise Ruhnau 2004 sowie Jones 1989 und, neuerdings, Wilson 2015.

  5. Einen guten Überblick über die Denker des klassischen Utilitarismus, ihre jeweiligen Ansätze und den historisch-sozialen Kontext dieser Philosophie liefert neuerdings Bart Schultz (2017). Die von Otfried Höffe herausgegebene deutschsprachige Anthologie (Höffe 52013a) verfügt neben Übersetzungen der klassischen Texte (in Auszügen) auch über eine ausführliche und aufschlussreiche Einleitung. Zu Mill, s. außerdem Rinderle 2002, zu dessen politischer Philosophie auch Höffe 2016, Kap. 17. Für einen Überblick über das Vermächtnis des klassischen Utilitarismus in der heutigen Zeit, s. Gesang 2003 und de Lazari-Radek/Singer 2017.

  6. So beginnt Bentham seine einschlägige Schrift, die Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung (An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1780) mit der wegweisenden Feststellung: „Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Gebieter – Leid (pain) und Freude (pleasure) – gestellt. Es ist an ihnen allein aufzuzeigen, was wir tun sollen, wie auch zu bestimmen, was wir tun werden. [...] Sie beherrschen uns in allem, was wir tun, was wir sagen, was wir denken“ (I.1, 55; die Seitenangabe bezieht sich auf die deutsche Teilübersetzung in Höffe 52013a). Mill bekräftigt gut achtzig Jahre später die grundlegende Rolle, die der Hedonismus für den Utilitarismus spielt, wenn er Folgendes als die „Lebensauffassung“ (theory of life) bestimmt, auf der seine Theorie der Moral wesentlich beruhe: „dass Lust und das Freisein von Unlust die einzigen Dinge sind, die als Endzwecke wünschenswert sind, und dass alle anderen wünschenswerten Dinge [...] entweder deshalb wünschenswert sind, weil sie selbst lustvoll sind oder weil sie Mittel sind zur Beförderung von Lust und zur Vermeidung von Unlust“ (Utilitarismus, II.2, 25; die Seitenangabe bezieht sich auf die bei Reclam erschienene deutsche Übersetzung).

  7. Zu einer konzisen kritischen Diskussion dieses utilitaristischen Arguments, s. Höffe 52013b, 23–25.

  8. Mill fasst diesen Einwand im zweiten Kapitel seines Utilitarismus (1863) präzise zusammen: „Der Gedanke, dass das Leben (wie sie sagen) keinen höheren Zweck habe als die Lust, kein besseres und edleres Ziel des Wollens und Strebens, erscheint ihnen im äußersten Grade niedrig und gemein; als eine Ansicht, die nur der Schweine würdig wäre“ (Utilitarismus, II.3, 25).

  9. Interessanterweise ist der Hedonismus, den der erste Vertreter des klassischen Utilitarismus, der Bentham noch vorangehende William Godwin (1756–1836) seiner Theorie zugrunde legt, ebenso wie derjenige Mills ein qualitativer (vgl. hierzu die Zitate aus Godwins An Enquiry Concerning Political Justice (1793) und ihre überzeugende Einschätzung in Schultz 2017, 32f.) Es ist also philosophiegeschichtlich Bentham, der mit seinem rein quantitativen Hedonismus einen Sonderweg beschreitet, und nicht, wie oft kolportiert wird, Mill mit dessen qualitativen Hedonismus.

  10. Benthams sieben Kriterien lauten: Intensität, Dauer, Gewissheit oder Ungewissheit, Nähe oder Ferne, Folgeträchtigkeit, Reinheit und Ausmaß, also auf wie viele Personen sich die Lust erstreckt (vgl. ebd.). Eine aufschlussreiche Zusammenfassung von Benthams Hedonismus findet sich bei Crisp 1997, 20-23.

  11. Es erscheint gleichwohl als Verkürzung, wenn man, wie es etwa Peter Rinderle tut, diese Qualität nur als eine ästhetische versteht: „Mill erweitert die hedonistische Werttheorie Benthams um eine qualitative, um eine ästhetische Dimension“ (Rinderle 2002, 66). Mill sagt nirgendwo, dass es ihm allein um ästhetische Qualität gehe.

  12. Mill beruft sich in diesem Punkt sogar auf die Philosophiegeschichte: Es gebe nämlich „keine epikureische Lebensauffassung, die nicht den Freuden des Verstandes, der Empfindung und Vorstellungskraft sowie des sittlichen Gefühls einen weit höheren Wert zuschreibt als denen der bloßen Sinnlichkeit“ (Utilitarismus, II.4, 27).

  13. Vgl. hierzu die Feststellung Roger Crisps: „Mill’s distinction between higher and lower pleasures attracted a great deal of critical attention most of it hostile, from the time of its publication. By far the most common objection was that Mill faces a dilemma: either quality collapses into quantity and Mill has made no advance on Bentham, or Mill can no longer count himself a (full) hedonist“ (Crisp 1997, 32; dort auch Verweis auf die einschlägige Forschungsliteratur, sowohl die zeitgenössische als auch die gegenwärtige).

  14. Entsprechend urteilt Otfried Höffe, der sich dieser Lesart anzuschließen scheint: „Auch wenn die Bewertung der verschiedenen Freuden nicht mehr mit dem übermäßig vereinfachten Instrumentarium von Benthams hedonistischem Kalkül auskommen mag, steht im Hintergrund ein quantitativer Begriff“ (Höffe 52013b, 23).

  15. S. zu diesem „Wertmonismus“ als Grundannahme des Hedonismus konzise Weijers 2018, insb. Abschn. 5 (a), sowie, im Zusammenhang mit dem Utilitarismus, Gesang 2003, 19f.

  16. David Brink, ein prominenter Vertreter dieser zweiten Lesart, ist gleichwohl der Ansicht, dass Mill recht damit tut, den Theorierahmen des Hedonismus zu sprengen, und versucht zu zeigen, dass Mill plausiblerweise als Anhänger einer „perfektionistischen“ (und also nicht mehr: hedonistischen) Auffassung des guten Lebens verstanden werden sollte: Brink 2013, Kap. 3.

  17. Es gibt gleichwohl Interpreten, die es unternehmen aufzuzeigen, dass Mill diesem Dilemma nicht erliegen muss. Zwei interessante Lesarten bieten Roger Crisp und Jonathan Riley. Während Crisp eine intuitionistische Interpretation unternimmt („Why are the higher pleasures more valuable? Because their nature makes the enjoyment of them more valuable. But why does their nature make them more valuable? It just does“; Crips 1997, 34), versucht Riley, den qualitativen Hedonismus als Ganzen zu retten. Das Qualitätskriterium, das Riley gegen Mills Kritiker verteidigt, lautet ihm zufolge: „that one pleasure x is higher in quality than another pleasure y if and only if x would not be exchanged for any finite amount of y“ (Riley 2003, 418, s.a. schon Riley 1999).

  18. Paradigmatisch hierfür ist etwa das Vorgehen von Nicholas White in seiner Brief History of Happiness, der in seiner Darstellung ohne größere Erläuterung davon ausgeht, dass die einzig diskussionswürdige Form des Hedonismus seine quantitative, von Bentham geprägte Form ist: White 2006, 41f. u. 54.

  19. Ein zentrales Anliegen der Denker des klassischen Utilitarismus war zweifellos ihr sozialreformatorischer Impetus: Die These, dass das Glück jedes Menschen gleich viel zählt, birgt ein enormes soziales Sprengpotential in einer Gesellschaft, in der Adelsprivilegien noch eine Selbstverständlichkeit darstellen. Um dieser, durch und durch liberalen, freiheitlichen Stoßrichtung Gewicht zu geben, war es jenen Philosophen wichtig, Wege aufzuzeigen, wie dieses Glück verstanden werden kann, um es vergleichbar und berechenbar zu machen. Nicht zuletzt lässt auch die Verwendung des Wortes „Nutzens“ (utility), den diese Denker eng an den den Glücks binden – Mill versteht die beiden Ausdrücke sogar synonym (vgl. hierzu präzise: Rinderle 2002, 65) – auf ihr eigentliches Ziel schließen: eine utilitaristische Moraltheorie zu begründen. Schultz (2017) stellt diesen sozialreformatorischen Impuls des klassischen Utilitarismus anschaulich heraus. Auch heutige Utilitaristen halten an einer solchen Gleichsetzung von Nutzenbegriff und Glück fest, s. exemplarisch Gesang 2003, 27f.

  20. Unter einer Moraltheorie sei hier eine normative Theorie verstanden, die eine Antwort auf die Frage gibt, was moralisch geboten und verboten ist, und wie sich dies herausfinden lässt, während sich Theorien des guten Lebens darauf richten, worin das menschliche Glück besteht, und wie es zu erreichen ist. Der Hedonismus stellt damit die Theorie des guten Lebens dar, auf der Bentham und Mill ihren Utilitarismus gründen. Zwar bezeichnet Mill seinen Hedonismus nicht als Theorie des guten Lebens, sondern, schlichter und zugleich umfassender, als „Lebenstheorie“ (theory of life: Utilitarismus II.2, 25, Birnbacher übersetzt bedauerlicherweise als „Lebensauffassung“). Da Mill seinen Hedonismus aber über den Glücksbegriff (happiness) bestimmt, ist sein Hedonismus der Sache nach dasselbe wie das, was man heute als Theorie des guten Lebens bezeichnet.

  21. S. hierzu etwa Samuel Scheffler, der freilich den umgekehrten Weg geht: Er argumentiert, dass der Utilitarismus nicht auf den Hedonismus angewiesen ist (Scheffler 1994, 27f.).

  22. Nimmt man Platon einmal aus, der seine Protagonisten in den Dialogen Gorgias und Protagoras Ansätze eines quantitativen Hedonismus diskutieren lässt.

  23. Epikur diskutiert in seinem Brief an Menoikeus bereits eindeutig die Lust sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht. Ebenso gehört die Diskussion der Frage, wie es sein kann, dass es einige Lüste gibt, die nicht aufgewogen werden können durch eine noch so hohe Anzahl anderer Lüste, zu den Kernthemen des antiken Hedonismus. S. auch Annemarie Piepers Urteil, derzufolge Epikur geltend mache, „nicht die Quantität, sondern die Qualität der Lust sei entscheidend für das Glück. Denn die Qualität wird durch den Menschen selber bestimmt, der sich von seinen Begierden nicht vereinnahmen lässt, sondern sie so weit befriedigt, dass sie keinen Schmerz mehr verursachen“ (Pieper 2001, 47f.). So sei das Glück Epikurs eines, „das Sinnlichkeit und Geist in einem umfassenden Genuss miteinander vereint“ (ebd., 48). Interessanterweise verweist auch Mill selbst auf diesen Aspekt der hedonistischen Tradition (Utilitarismus, II.4, 27), verbleibt aber, da es auch ihm letztendlich um einen Utilitarismus geht, in den Erwägungen der Vergleichbarkeit und der Verrechenbarkeit.

  24. Und Mill macht es ihnen leicht, dieses Verständnis an seinen Text anzulegen. So spricht er selbst an entscheidender Stelle von einem „weit höheren Wert“ (a much higher value; Utilitarismus II.4) und knüpft diese höherwertigen Freuden, wie wir gesehen haben, offenbar an die Aktivitäten unserer höheren Fähigkeiten, die uns von den Tieren unterscheiden (Utilitarismus, II.6).

  25. Peter Rinderle ist einer der wenigen Interpreten, die diesen Unterschied klar benennen: „Mill bleibt aber nicht bei der Unterscheidung verschiedener Arten der Lust stehen. Er ordnet sie, das ist ein weiterer, aus dem Vorhergehenden durchaus nicht zwingend folgender Schritt, höheren und niederen Rängen zu. Mill formuliert nicht nur einen pluralistischen, er formuliert auch einen hierarchischen Hedonismus“ (Rinderle 2002, 67).

  26. Ein solcher Hedonismus würde also, in Rinderles Worten, die „pluralistische Dimension“ von Mills Hedonismus beibehalten, als gleichsam „horizontale Unterscheidung verschiedener Möglichkeiten der Lusterfahrung“, ohne jedoch den „vertikal-hierarchischen Vorrang, den [Mill] den intellektuellen und sittlichen gegenüber den sinnlichen Freuden einräumt“, zu übernehmen (vgl. Rinderle 2002, 67).

  27. So diagnostiziert auch Matthew Silverstein: „Many of the most prominent philosophers of value – including James Griffin, David Brink, Stephen Darwall, and L.W. Sumner – take this thought experiment to be the definite response to hedonism and, more broadly, to all mental state theories of well-being“ (Silverstein 2000, 282). Einem anonymen Gutachten verdanke ich den Hinweis, dass Sumner gleichwohl Nozicks Realitätsbedingung – dass die Einschätzung einer Person, das eigene Leben sei ein gutes Leben, auf Überzeugungen über die Welt beruhen muss, die wahr oder zumindest gerechtfertigt sind – als unplausibel ablehnt: vgl. Sumner 1999, 157.

  28. Genau genommen handelt es also gar nicht um eine „Erlebnis-“, sondern um eine „Empfindungsmaschine“ (der englische Ausdruck „experience machine“ ist sogar noch irreführender). Es ist gleichwohl wichtig zu sehen, dass dem Hedonismus nicht der Weg offen steht, das Gedankenexperiment deswegen abzulehnen: Denn eine Theorie, die das Glück in den positiven Empfindungen verortet (und nur dort), kann nicht ohne weitere, für ihre systematische Kohärenz womöglich problematische Zusatzannahmen postulieren, dass diesen Empfindungen auch tatsächliche – im Gegensatz zu künstlich erzeugten – Erlebnisse zu Grunde liegen müssen. Diesen Punkt gesteht auch Roger Crisp zu: vgl. Crisp 2006, 636.

  29. Nicht nur Platons Höhlengleichnis, sondern auch zahllose Beispiele aus Literatur und Film befassen sich genau mit diesem existentiellen Unbehagen, das sich einstellt, wenn Menschen dazu gebracht werden sollen, ihre Lebensweise grundlegend zu ändern, bzw. wenn jemand die jetzige, gewohnte Lebensweise als falsch oder illusorisch herausstellen möchte.

  30. Es finden gleichwohl auch vereinzelt Autoren, die die Aussagekraft und Eindeutigkeit von Nozicks Gedankenexperiments anerkennen, und dennoch nach Wegen suchen, die Folgen für den Hedonismus abzuschwächen (s. etwa Silverstein 2000 und Crisp 2006, 117-125, in anderer Weise auch Gesang 2003, 35 u. 47f.). Möglicherweise ist eine derartige Unternehmung aber gar nicht nötig, wenn die Konstruktion des Gedankenexperiments, wie es die Annahme dieses Aufsatzes ist, in der gezeigten Weise schillert.

  31. Gelegentlich findet sich, insbesondere in der anglophonen Debatte, daher auch die Formulierung der Grundthese des Hedonismus, dass allein die Lust „intrinsischen Wert“ habe – nur sie sei also an sich wertvoll, während alle übrigen Dinge allenfalls über instrumentellen Wert verfügten (s. z.B. Weijers 2018).

  32. Diese Kritik findet sich bereits in der Antike, so etwa bei Platon, der im Philebos das Leben, das sich am Lustprinzip orientiert, aufgrund der Vernunftlosigkeit dem „irgendeines Polypen oder eines Schaltieres, wie man sie im Meere findet“, gleichsetzt (21c). Ebenso prominent wie der Vergleich mit – vernunftlosen – Tieren ist bei den Kritikern die Diagnose der „Sklavenhaftigkeit“, in die sich Menschen begeben, wenn sie ihre Vernunft nur in dieser lustfunktionalen Weise gebrauchen. Letztere findet sich z.B. bei Aristoteles (Nikomachische Ethik, I 4) und Seneca (De vita beata, 8.1-2). In der Neuzeit erfolgt die wohl umfassendste Kritik daran, dass die Lust nur zu einem instrumentellen Vernunftbegriff führen kann, durch Immanuel Kant (s. exemplarisch seine Kritik der praktischen Vernunft, V 21-26).

  33. Schon Seneca befürchtet dies: „Derjenige nämlich, der seinen Lüsten völlig hingegeben ist, der fortwährend rülpst und trunken ist, glaubt, weil er weiß, dass er lustvoll lebt, er lebe auch tugendhaft (denn er hört, das die Lust von der Tugend nicht getrennt werden könne); daraufhin nennt er seine Laster Weisheit und bekennt sich offen zu Dingen, die man verbergen müsste“ (De vita beata, 12.3).

  34. Einige skizzenhafte Überlegungen, wie der Hedonismus auf den Vorwurf reagieren kann, er habe keinen Raum für Phänomene wie Liebe, Freundschaft und ein soziales Miteinander auf gleicher Augenhöhe, finden sich bei Hildt 2017.

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Danksagung

Dieser Aufsatz entstand im Rahmen eines eigenständigen PostDoc-Forschungsprojekts zum Thema Hedonismus als Theorie des guten Lebens?, das von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert wird. Ihr bin ich dafür zu großem Dank verpflichtet. Ich danke insbesondere Chris Boom, Eva-Maria Düringer, Otfried Höffe, Karoline Reinhardt und Jonathan Riley für Gespräche, Kommentare und Anregungen zu Aspekten der hier vorgestellten Überlegungen.

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Hildt, M. Das (vermeintliche) Ungenügen des Hedonismus. ZEMO 1, 75–89 (2018). https://doi.org/10.1007/s42048-018-0005-0

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