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Publicly Available Published by De Gruyter (A) June 30, 2016

Diskurse, Kompetenzen, Darstellunge

Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs

  • Stefan Hirschauer
From the journal Paragrana

Abstract

Der Beitrag skizziert drei Optionen einer konzeptuellen Verknüpfung von Körper und Wissen. Sie sind mit den Begriffen Diskurs, Kompetenz und Darstellung verbunden und betrachten das Wissen als etwas, das man über den Körper „haben“ kann, etwas, das im Körper „sitzt“, oder als etwas, das über Körper zirkuliert. Diskurse stehen für die Wissensabhängigkeit von Körpern, Kompetenzen für ihre praktische Wissensträgerschaft und Darstellungen dafür, dass Körper Wissen visuell kommunizieren: Menschliches Verhalten ist jene Form kultureller Selbstrepräsentation, die sich durch Körper artikuliert – und nicht durch Erzählungen, Texte oder technische Bilder.

Körper und Wissen sind Begriffe für zwei Phänomenbereiche, die einer alten soziologischen Gewohnheit gemäß lange recht entfernt voneinander angesiedelt waren. Wir fanden sie sozusagen in verschiedenen Schubfächern unserer Zettelkästen. Daran hat sich einiges geändert. Eine Generation nach der kommunikationstheoretischen Wende der 80er Jahre ist eine Art Wiederentdeckung des Körpers festzustellen. Ich möchte daher ein paar konzeptuelle Bemerkungen zum Verhältnis von Körper und Wissen machen, die das Potential einer Soziologisierung des Körpers für den Begriff des Wissens umreißen. Es gibt im Wesentlichen drei Optionen einer konzeptuellen Verknüpfung des Körpers mit dem Wissen. Sie sind mit den Begriffen Diskurs, Kompetenz und Darstellung verbunden und betrachten das Wissen als etwas, das man über den Körper ,haben‘ kann, etwas, das im Körper ,sitzt‘, oder als etwas, das über Körper zirkuliert. Zu sprechen ist also über das Wissen vom Körper, im Körper und am Körper.

Diskurse: Wissen vom Körper

Das Wissen vom Körper ist eine gut etablierte Option der Verknüpfung, die den Körper als Gegenstand von Wissensbeständen betrachtet. Diese umfassen biologisches und medizinisches Wissen, aber auch das Alltagswissen vom Körper, das in historischer Abhängigkeit von biomedizinischem Wissen stehen kann, aber auch in Opposition zu ihm oder indifferent neben ihm. ,Dazwischen‘ lassen sich Begegnungsstätten, Proliferationswege und Machtbeziehungen verfolgen, Diskurse unterschiedlicher Niveaus und Provenienz. Zusammen genommen geht es beim Wissen vom Körper um ,Ethnobiologie‘ – ein Konvolut aus ethnosemantischen Kategorien, medizintechnischen Bildern, aus Deutungs- und Erklärungsmustern.

Es gibt in dieser Verknüpfungsoption eine Wissensabhängigkeit des Körpers, die konzeptuell sprach- und diskurstheoretisch begründet ist. Alles, was man von ihm sagen kann, muss in einer Sprache gesagt werden, die ihre je eigenen Denkvoraussetzungen in sich trägt und je spezifische Wahrnehmungsschemata bereithält. So kann der Körper nie den historischen und kulturellen Index loswerden, den ihm die Diskurse einer Zeit aufprägen. Er ist – wie eine textualistische Metapher besagt – wie eine Schreibfläche, auf die alles Mögliche geschrieben werden kann. Er muss das hergeben, was man sinnhaft von ihm braucht. Zum Beispiel mussten die Eierstöcke im 19. Jahrhundert (wie Thomas Laqueur 1992 zeigte) – sobald sie einmal als spezifisch weibliche Organe benannt und markiert waren – die Zurücksetzung der Frauen neu begründen. Insofern gibt es einen Sitz des Körpers in der Sprache: im Vokabular, das ihn zerteilt, in Deutungsmustern und Theorien. Der Körper ist zu einem guten Teil sprachlich verfasst. Seine Materialität erscheint demgegenüber als etwas Sekundäres, als Ergebnis einer – etwas rätselhaften bleibenden – „Materialisierung“ (Butler 1995).

Dieser diskurstheoretische Ansatz erlaubt Untersuchungen historisch-semantischer Art. Zu seinen größten Verdiensten gehört die Auflösung des großen Singulars „der Körper“. Dieser verliert sich in den Wissensordnungen von Kulturkreisen, Epochen und Professionen. Unser heutiger Körper wird so erkennbar als ein hochspezifischer Ausschnitt aus zahllosen Diskursen um jenes Ding zwischen Fußspitzen und Haarspitzen (so es sich denn um Körper mit Fuß- und Haarspitzen handelt).[2]

Ein weiterer Vorzug der diskursgeschichtlichen Studien liegt darin, dass sie die Soziologie grundsätzlich mit Gelassenheit über die kulturelle Fundierung des Körpers versorgen können. Auch Synapsen haben Geschichte (Hagner 2006). Wenn die zeitgenössische Biologie sagt, Hormone übermittelten „Nachrichten, Anweisungen, Anfragen, Korrekturen, Hilferufe, Aktualisierungen, Befehle [...]“ (Bryson 2004, S. 481), so können wir feststellen, dass sie nun eben das Vokabular einer Wissens- und Informationsgesellschaft nutzt, um körperliche Vorgänge zu beschreiben.

Auf der anderen Seite verharrt dieser Ansatz aber in einer eigentümlich defensiven Haltung gegenüber dem Körper. Er konzipiert die Soziologie im Wesentlichen als Geisteswissenschaft, die ihre Domäne in sprachlicher Kommunikation und im kognitiven Wissen hat. Und viele soziologische Grundbegriffe laden auch zu dieser mentalistischen Verkürzung ein: Erwartung, Deutung, Einstellung, Entscheidungusw. Die Naturwissenschaften werden dabei in einer wissensgeschichtlich alten Teilung implizit als ,Opponent‘ entworfen, dessen Themen und Relevanzen kontaktscheu zu meiden sind. Im Zuge der „Entdinglichung des Sozialen“ (Giesen 1991) wird die Materialität zum „Anderen“ der Soziologie,[3] dessen diskursive und technische Betreuung durch die Naturwissenschaften das Fach dann „kritisch“ beobachtet. Es kommt daher leicht zu Schreckreaktionen, wenn die Neurobiologie ihrerseits auf Mentales zugreift.

Pierre Bourdieu (1993) hat diese geisteswissenschaftliche Grundhaltung treffend kritisiert: Die starke Stellung der Sprache und der Schrift beruhen auf einem intellektualistischen Bias. Viele Theorien des Sozialen zeichnen dessen Konturen vor dem Hintergrund der hoch partikularen Lebensform von Sozialtheoretikern, in der eben Sprache und Schrift vorherrschen. Der Körper der Biomedizin kann dagegen schon deshalb ganz andere Eigenschaften gewinnen, weil diese Fächer ihren Gegenstand viel stärker auch mittels visueller Kommunikation und experimentellen Praktiken herstellen.

Bourdieus Kritik lässt sich auch auf soziologische Methoden beziehen, auf die notorische Überschätzung des Interviews nämlich. Wenn Methoden Gegenstände konstituieren, dann hat ein Großteil der empirischen Sozialforschung seine Gesellschaft offenbar als Telefonauskunft entworfen: Die Gesellschaft besteht aus Anschlüssen zur Erteilung von Auskünften. Soziologische Fragen? Anruf genügt! Diese Gesellschaft erscheint als ein großes Gerede von plappernden, tippenden, zappenden Stubenhockern, in das man sich einwählen kann. Und Soziologen? (z. B. im Blick von Erstsemestern): talking heads talking about talking heads.

Man kann die Überschätzung verbaler Primärdaten und verbaler Kommunikation durchaus als späten Effekt der erfolgreichen Professionalisierung des Wissens über Sozialität betrachten, jener Übersetzungsprozesse nämlich, die die Masse des stillschweigend und routinemäßig Gewussten an seinen Rändern fortlaufend in ein soziologisch kommunikables Wissen übersetzt haben. Wir Soziologen müssen hart am Vergessen dieser Übersetzungsleistungen gearbeitet haben, bevor wir die Form unseres erworbenen soziologischen Wissens mit der Form jenes Wissens verwechseln konnten, in dem soziale Phänomene ursprünglich verfasst sind.

Kompetenzen: Wissende Körper

Die beiden anderen Optionen der Verknüpfung von Körper und Wissen versuchen dagegen, den Körper als Teil materieller Kultur ernst zu nehmen. Sie geben dem Wissensbegriff sozusagen mehr Körper, indem sie nicht seine Wissensabhängigkeit, sondern seine Wissensträgerschaft hervorheben.

Die erste dieser beiden Optionen arbeitet mit einer starken Engführung, wenn nicht Verschmelzung der Begriffe. Es geht ihr um das Wissen im Körper oder auch: um wissende Körper. Diese Grundintuition taucht in zwei Varianten auf. Die eine ist die Phänomenologie des Leibes, die den Körper und seine Sinne als vorrangige Quelle des Wissenserwerbs, also als Träger von Erkenntnis würdigt (etwa: Merleau-Ponty 1966). In dieser Tradition kommt nicht die Sprache, sondern der Körper im grundsätzlichen Singular. Sie formuliert gewissermaßen den ihr entgegengesetzten Apriorismus und ein ebenso gewichtiges fundamentalistisches Argument: Der Körper ist die Grundausstattung jedes Zugangs zur Welt. Alles Wissen ist körperlich vermittelt. Und in der Tat wäre es bizarr, der Sprache eine größere ontologische Tiefe zuzuschreiben als dem Körper – eine Seltsamkeit, mit der auch jener Autor gebrochen hat, auf den sich die Diskursanalyse so gerne beruft: Michel Foucault.

Die zweite Variante des wissenden Körpers ist der Körper als Träger von Praktiken. Das in diesem Zusammenhang zentrale Argument der Praxistheorien lautet: Das Alltagswissen hat nicht dieselbe Form wie sozialwissenschaftliches Wissen. Es ist zu einem großen Teil überhaupt kein kognitives oder auch nur sprachlich verfasstes Wissen. Zum einen besteht es, wie schon Alfred Schütz betonte, aus stillschweigenden Annahmen, die zu selbstverständlich sind, als dass wir darüber reden würden: eingefleischte Glaubensüberzeugungen, ein implizites Wissen. Zum anderen ist es überhaupt nicht sprachfähig, es ist zu einem beträchtlichen Teil stumm, ein körperliches Können, kein abfragbares Wissen. Es besteht aus Dingen wie Fingerspitzengefühl, Orientierungssinn, Geschicklichkeit, Kniffen und Tricks. Für dieses ,eingekörperte‘ Wissen sind schon viele Begriffe ausprobiert worden: Marcel Mauss (1978) sprach von Körpertechniken, Schütz von Fertigkeiten und Routinen (Schütz/Luckmann 1979), die Ethnomethodologie (Garfinkel 1986) von skills, Gilbert Ryle (1969) von knowing how, Michel Polanyi (1985) von tacit knowledge, Foucault (1976) von Disziplinen und Bourdieu (1976) vom Habitus.

Der Wissensbegriff der Praxistheorien ist gewissermaßen ,tiefergelegt‘, er zielt auf vorsprachliche Kompetenzen, denen gegenüber das auskunftsfähige Wissen nur eine Restgröße darstellt.[4] Diese Theorien führen zu einer körpersoziologisch begründeten Verschiebung des Wissensbegriffs. Die alte wissenssoziologische Frage, wer etwas weiß (welche Trägerschicht, Experten/Laien, Lehrer/Schüler) wird verdrängt durch die konstitutionstheoretische Frage, wie etwas überhaupt gewusst wird. Auf welche Weise ist es bekannt, vertraut, präsent, verfügbar, verstanden? Die primäre Frage ist dann nicht: „Wie verteilt sich Wissen über Personen?“, sondern: „Wie verteilt es sich über ontologisch unterschiedliche Träger?“. Für ältere Wissensbegriffe gab es hier klar umrissene Container. Texte – prototypisch: die Heilige Schrift – galten als Speicher des Wissens, oder Bewusstseinsstrukturen – prototypisch: der Kopf des Gelehrten. Das Wissen war in Personen oder Texten zentriert.[5] Wenn man dagegen wie die Praxistheorien kompetentes Verhalten ins Zentrum rückt, verteilt sich das Wissen zwischen kundigen Körpern, klugen Kommentaren, informativen Schriftstücken und intelligenten Maschinen. Es wird – mit einem Ausdruck von Donna Haraway (1988) – situiertes Wissen, für das Texte wie Technologien externalisierte Wissensträger unter anderen sind.[6]

Darstellungen: Wissen kommunizierende Körper

Eine dritte Option der Verknüpfung von Körper und Wissen schließt wieder an Kommunikationstheorien an, nun aber nicht mit dem Körper als Thema von Kommunikation, sondern als ihr Medium. Hier geht es, kurz gesagt, um Wissen kommunizierende Körper. Der Körper als Kommunikationsmedium wird immer auffällig bei funktionalen Ausfällen, wie sie die Disability Studies untersuchen. Man kann dann etwa die elementare „Disziplin des Aussehens“ erkennen, in der man mühsam versucht, Blinde zu normalisieren (Länger 2002). Zum diskursiven Bias gehört, dass wir über den Buchdruck oder das Internet als Kommunikationsmedium viel genauer Bescheid wissen als über den Körper. Seine techniksoziologische Würdigung ist überfällig.

So wie man in Texten Wissen speichert, kann man auch den Körper zunächst einfach als einen Ort der Niederlegung von Zeichen ansehen. Einschnitte und Eingriffe bringen ihm physische Spuren bei. Tätowierungen (Hahn 1993), Piercings (Sennett 2002, S. 243ff.) und chirurgische Maßnahmen aller Art sind dabei überhaupt keine neuen, sondern kulturgeschichtlich alte Phänomene. Prototypisch ist die Beschneidung von Mädchen und Jungen, die an ihren Körpern ,saubere‘ Klassifikationen (Douglas 1985) erzeugen will, also das Wissen zur physischen Darstellung bringt, dass Männer und Frauen verschieden sind und sein sollen.

Der Körper ist aber viel weniger geduldig als ein Blatt Papier: Zeichen werden ihm nicht nur aufgeprägt, sie werden durch ihn prozessiert. So muss auch alles sprachlich verfasste Wissen durch Stimmen und Ohren, aber auch durch den Körper beanspruchende Schreib- und Lesepraktiken (Kittler 1995, S. 89ff.) hindurch, wenn es aktualisiert werden soll. Es gibt nicht nur einen Sitz des Körpers in der Sprache, sondern auch einen Sitz der Sprache im Körper. Und Taubstumme wie Legastheniker zeugen von entsprechenden Exklusionseffekten.

Noch wichtiger für die Korrektur des diskursiven Bias sind aber die „präsentativen Symbolismen“ (Langer 1984), das visuell verfasste Wissen, das der Körper prozessiert: das Zeigen, die Verkörperung und ihre nicht-sprachlichen Zeichensysteme: Kleidung, Haltung, Gestik, Mimik und Blick.[7] Erving Goffman sprach von der „folgenschweren Offensichtlichkeit“ des Sozialen (1994, S. 58). Und Visibilität ist eine zentrale Bezugsgröße seiner Soziologie. Personen sind Träger eines sozialen Gesichts, Interaktionen Spiegelungsverhältnisse, Institutionen Kulissen. Für Max Weber und Alfred Schütz war das Verhalten ein Handeln, wenn es mit einem subjektiven Sinn verbunden wird. Für Goffman ist das Verhalten eine Darstellung, weil es auf seine Wahrnehmbarkeit durch Andere eingestellt ist.

Er unterscheidet zwischen Kommunikation i.e.S. – das ist das verbale Mitteilungshandeln – und dem visuellen „Ausdruck“ (1971) – ein irreführender Begriff, da er gerade nicht auf einen kommunikativen Urheber verweisen soll. Gemeint ist eher eine Art Anzeigetafel. Der kommunikative Charakter der sich dort ausbreitenden Zeichen wird nicht durch eine Adressierung hergestellt, sondern allein durch den Betrachter, der die diffus ausgestreuten visuellen Zeichen aufliest, unabhängig davon, ob etwas und jemand damit ,gemeint‘ ist. Dazu kann der Zustand der Kleidung zählen, über die jemand dokumentiert, dass er sich in der Öffentlichkeit weiß und sich um die Meinung anderer schert. Die optische Erscheinung stellt also dar, dass jemand es wahrnimmt, wahrgenommen zu werden. Für Goffman sind Kommunikation und Wahrnehmung dicht verschränkt. Unser Verhalten zeigt, was wir gerade wahrnehmen, vor allem als was wir unser Gegenüber wahrnehmen. Dafür sind Egos Körper und Alters Auge eng miteinander verschaltet. Es gibt einen nicht abstellbaren „breiten Informationsfluss“ zwischen aufeinander eingestellten Wahrnehmungen und Darstellungen. Unter Interaktionspartnern existieren gewissermaßen immer zwei riesige „Displays“, auf denen sie ständig zahllose Daten ablesen: Kollektivmitgliedschaften, Gemütszustände, Situationsdefinitionen usw. Ein Mensch, so Goffman (1971), könne aufhören zu sprechen, aber nicht, mit seinem Körper zu kommunizieren.

Diese visuellen Zeichen stellen eine erhebliche Herausforderung für Kommunikationstheorien dar. Den Vorzug lautlicher Gesten hatte bereits G. H. Mead (1974) festgestellt: Weil Ego zusammen mit Alter hört, was er selbst für Töne erzeugt, kann er sich in Antizipation der Rolle seines Gegenübers denselben Bedeutungsgehalt wie dieser vorstellen. Die Sprache hat einen Eindeutigkeitsvorteil. Georg Simmel (1992) stellte in seiner Soziologie der Sinne fest, dass das Ohr dafür aber auch wahllos alles im Raum aufnehmen muss, während das Auge sich auf bestimmte Objekte richten kann. Und in der Tat liegt die Selektivität visueller Kommunikation viel stärker beim Rezipienten. Sie liegt in der Perspektivität des Sehens und nicht in der Adressierung von Mitteilungen.

Der Betrachter hat aber noch mehr zu tun. Der von ihm taxierte Körper Egos ist als visuelles Kommunikationsmedium nicht so abstellbar wie dessen Sprechapparat. Der Mund kann sich schließen, das Display bleibt eingeschaltet. Darüber hinaus hat dieses Display, insbesondere das Gesicht, für Alter auch noch eine vielgrößere Zugänglichkeit als für Ego selbst (anders als dessen Bewusstsein). Betrachter hören und sehen den Darsteller, während der sich nur reden hört. Insofern gehört unser Gesicht unserem Gegenüber. Das Mirror-Self von Charles H. Cooley hat eine kommunikationstechnische Buchstäblichkeit.[8] Hieraus ergeben sich starke Argumente gegen die radikale Verstehensskepsis bewusstseinsphilosophisch geprägter Soziologien wie der von Schütz oder Luhmann. Der Körper in Goffmans Arbeiten ist nicht eine Hülle, in der sich ein Bewusstsein verbirgt, sondern eine Fläche, die permanent Auskunft gibt.[9]

Im menschlichen Verhalten steckt also nicht nur eine stumme Kompetenz der praktischen Durchführung – ein eingekörpertes Wissen, sondern auch ein vorgezeigtes Wissen: performed knowledge. Auch die Ethnomethodologie betrachtet menschliches Verhalten daher als einen Strom selbsterklärender Zeichen. Wir sagen nicht nur, was wir wissen, wir zeigen es uns auch in unserem Tun. Und zwar nicht bloß i.S. einer Demonstration von Kompetenz,[10] sondern als eine laufende Bekundung dessen, was wir wahrnehmen. Daher können Betrachter Verhaltensweisen Wissen entnehmen. Zum Beispiel wissen wir uns nicht primär deshalb zu benehmen, weil wir Benimmbücher lesen, sondern aufgrund unserer laufenden Beobachtung tatsächlichen Benehmens. Oder ein Publikum kann seine Präsenz in der Körperhaltung eines Redners sehen, wie man einen Vorgesetzten in der Unterwürfigkeit eines Angestellten sehen würde. So wie man in der Konversationsanalyse und der Systemtheorie verbale Kommunikation vom Verstehenden, vom Rezipienten her analysierte, muss man auch das im Verhalten gezeigte Wissen nicht allein vom Handelnden, sondern vom Betrachter her auffassen. Und löst man das Wissen so aus einem handlungstheoretischen Rahmen, dann kann man menschliches Verhalten als jene Form kultureller Selbstrepräsentation betrachten, die sich durch Körper artikuliert – und nicht durch Erzählungen, Texte oder technische Bilder. Dieser Verhaltensstrom ist wohl die älteste ,große Erzählung‘.[11]

Schluss

Die Soziologisierung des Körpers führt zu einer Auffächerung des Wissensbegriffs, die Handlungstheorien von ihrer geisteswissenschaftlichen Verengung und Kommunikationstheorien von ihrer Fixierung auf die Sprache lösen kann. Letzteres sei zum Schluss noch einmal anhand unserer , techniksoziologischen‘ Frage durchgespielt, wie sich der naturwüchsige Exhibitionismus des Körpers medientheoretisch fassen lässt. Eine solche Respezifikation des Körpers hätte nicht dessen vermeintliche anthropologische Urwüchsigkeit zu beschwören, sondern seine besondere kommunikative Leistungsfähigkeit zu rekonstruieren. Wieso veranstalten Wissenschaften teure Mammutkongresse, obwohl es doch Zeitschriften gibt? Wieso benötigen die sechs auf Bonn und Berlin verteilten Bundesministerien trotz Telefon, Fax und Internet noch 140000 Flüge pro Jahr, um arbeitsfähig zu sein? Was ist die Leistung visueller Präsenz? Und was ist die gesellschaftliche Relevanz der Sichtbarkeit in Interaktionen? Sie liegt sicher nicht in der von Gesellschaftstheorien favorisierten Steigerung der Reichweite von Kommunikation (also der Frage der technischen Verbreitung von Wissen über Personen). Sie liegt eher in einer lokalen Intensivierung und Fokussierung, in einer Art visueller Explikation von Wissen (s. Hirschauer 2015).

Goffman jedenfalls folgte hier Durkheims Religionssoziologie: Glaubensinhalte werden in Kollektivritualen konkretisiert. Es gibt ein Verhältnis wechselseitiger Spiegelung von Interaktionen und Institutionen, von Mikro- und Makro-Kosmos (Goffman 1981). In der Offensichtlichkeit der rituellen Darstellung wird ein Wissen präsent gehalten: Darstellungen sorgen für eine laufende Selbstveranschaulichung elementaren kulturellen Wissens: dass es Klassen-, Rang- und Altersunterschiede gibt, dass es einen Gott gibt oder zwei Geschlechter, was ein Individuum ist und was ein Paar usw.

Für die besondere Qualität dieses Wissens gilt: The medium is the message. Die visuelle Kommunikation schafft ,Offensichtliches‘ (z. B. die Geschlechtszugehörigkeit), sie erzeugt Evidenzen weit jenseits des Begründungszwangs, fernab aller ,Argumentations- und Deutungsmuster‘.[12] Das Wissen, das über den Körper kommuniziert wird, ist kein propositionales, aber dennoch ein explizites Wissen. Wir kennen diese kulturelle Bedeutung des ,Zeigens‘ als Verfahren visueller Evidenzerzeugung natürlich auch aus der Wissenschaftskommunikation oder der schulischen und beruflichen Didaktik. Dies sind aber späte und spezialisierte kulturelle Einsätze, denen die Visualität der körpergebundenen Nahraumkommunikation zugrunde liegt. In Situationen, das war Goffmans Punkt, spiegelt sich soziale Ordnung. Wer etwas über die Gegenwart der Gesellschaft wissen will, muss das hier zur Darstellung gebrachte Wissen der Teilnehmer per Beobachtung abschöpfen – ebenso wie man für das Studium vergangener Gesellschaften auf die in Texten gespeicherten Diskurse zugreifen muss.

Literatur

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Published Online: 2016-6-30
Published in Print: 2016-6-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 9.6.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/para-2016-0001/html
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