Martin Heideggers Vorlesung „Die Grundbegriffe der Metaphysik“ aus dem Wintersemester 1929/1930 enthält einen längeren Abschnitt, der sich in Vorbereitung der Frage: „Was ist Welt?“ (als einem der von Heidegger annoncierten Grundbegriffe), mit dem „Wesen der Tierheit des Tieres“ beschäftigt (Heidegger 1983: 261 und 265). Um diesen Teil der Vorlesung hat sich recht bald nach ihrer Edition 1983 eine eigene Diskussion entwickelt, darunter auch die ausführlichen Lektüren durch Giorgio Agamben und Jacques Derrida.Footnote 1 In diesem Zusammenhang spielen die Quellen der von Heidegger gelegentlich in den Gang seines Arguments eingestreuten Schilderungen tierischer Lebensvorgänge nur eine nachgeordnete Rolle. Hervorgehoben werden eher die systematischen Bezüge zu zeitgenössischen biologischen Theorien und ganz vornehmlich Heideggers Rezeption der Umweltlehre Jakob von Uexkülls. Dieser Fokus dürfte sich zum Teil daraus erklären, dass man sich hier auf Heideggers eigene Literaturverweise stützen kann. Hingegen sind seine Referate aus dem Gebiet der Zoologie nur teilweise annotiert.

Dies gilt vor allem für die Ausführungen über die Orientierung der Bienen nach dem Sonnenstand, die ihren Platz in dem in der Forschungsliteratur aufmerksam studierten Abschnitt über die Benommenheit des Tiers haben (Heidegger 1983: 356–358). Heidegger zeigt sich hier so kenntnisreich, dass man auf den Gedanken verfallen könnte, er habe in der Freiburger Universitätsbibliothek regelmäßig die einschlägigen Fachzeitschriften studiert. Ausgeschlossen ist das nicht, aber wenigstens für seine Vorlesung hat er sich den Weg etwas abgekürzt. Was dort über die Orientierung der Bienen mitgeteilt wird, hat Heidegger einer kleinen Schrift entnommen, die zwei Jahre zuvor, 1927, als erster Band der Reihe „Verständliche Wissenschaft“ im Berliner Verlag Julius Springer erschienen war: Ihr Titel lautet Aus dem Leben der Bienen und ihr Verfasser ist der Zoologe Karl von Frisch, dessen Arbeiten zu den Sinnesvermögen und zur Tanzsprache der Bienen bis heute einschlägig sind.Footnote 2

In diesem Beitrag wird nicht das eben erwähnte Referat von Versuchen über die Orientierung der Bienen besprochen werden, sondern eine Passage einige Paragraphen zuvor, in der Heidegger von einem Experiment zur fotografischen Darstellung des Netzhautbildes am Leuchtkäferauge berichtet. Wie gleich gezeigt werden wird, bildet die Quelle hierfür erneut von Frischs Schrift, die sich an der fraglichen Stelle wiederum auf rund vierzig Jahre ältere Forschungen des Physiologen Sigmund Exner bezieht. Im Folgenden werde ich zunächst Heideggers und von Frischs Darstellung des Experiments miteinander vergleichen. Im Anschluss gehe ich der Rolle der Netzhautbild-Fotografie in Exners Arbeit und im Kontrast hierzu in Heideggers Vorlesung nach. Schließlich möchte in einem letzten Abschnitt skizzieren, in welcher Hinsicht eine nähere Kenntnis des wissenschaftlichen Kontextes bei der Beschäftigung mit Heideggers an das Experiment anknüpfenden grundsätzlichen, wesenhaften Unterscheidung zwischen dem menschlichen Sehen und dem Sehen der Tiere von Bedeutung sein könnte.

Ein erstaunliches Experiment

Die Passage, um die es geht, steht bei Heidegger im Kontext seiner Feststellung, dass die Leistung eines Organs nur im Zusammenhang mit dem Organismus insgesamt in seiner „Fähigkeit zu etwas“ bestimmt werden kann (Heidegger 1983: 332). Entsprechend wird für ihn die Leistung eines Organs durch eine vom Ganzen des Organismus abgekoppelte Betrachtung nur unzureichend erfasst. Diese Rahmung des Organs als Ausstülpung eines organismischen Potentials erläutert Heidegger zunächst in Bezug auf den Bau des Bienenauges, um dann hinüberzulenken auf jenen „noch konkreteren Fall eines Insektenauges, der durch ein erstaunliches Experiment nähergebracht werden kann“ (ebd.: 336). Der anschließende Bericht setzt mit der Besprechung des finalen Produkts dieses Experiments ein. „Es ist“, so vernimmt es die Zuhörerschaft,

beim Auge des Leuchtkäferchens gelungen, das Netzhautbild, das bei dem Sehen des Käfers entsteht, zu beobachten, ja sogar zu photographieren. Es wurde das Netzhautbild eines zu einem Fenster hinaussehenden Leuchtkäfers beobachtet. (Die Technik des Experiments ist hier nicht auszuführen). Die Photographie gibt relativ deutlich den Anblick eines Fensters und Fensterrahmens und eines Fensterkreuzes wieder, den auf die Scheibe aufgeklebten großen Buchstaben R und in ganz unbestimmten Umrissen sogar den Anblick des Kirchturmes, der durch das Fenster hindurch sichtbar wird. Diesen Anblick bietet die Netzhaut des zum Fenster blickenden Leuchtkäfers. Das Insektenauge ist fähig, diesen „Anblick“ zu bilden. Aber können wir daraus entnehmen, was das Leuchtkäferchen sieht? Keineswegs. (Ebd.: 336, Hervorhebung im Original)

Dieses apodiktische „Keineswegs“ wird uns später beschäftigen. Zunächst sei zum Vergleich die Stelle in von Frischs Büchlein Aus dem Leben der Bienen angeführt. Bei der Besprechung des anatomischen Aufbaus des Bienenauges heißt es dort, dass die Schärfe eines von einem solchen Facettenauge entworfenen Netzhautbildes notwendig von der Zahl der Augenkeile oder Facetten abhängig ist. Wie scharf aber ein solches Bild jeweils konkret sein kann, ist, so von Frisch (1927: 64), „nicht leicht zu beurteilen.“ Es folgt die Passage, auf die Heidegger sich bezieht. Von Frisch fährt fort (wörtliche Übereinstimmungen mit Heideggers Formulierungen sind kursiv hervorgehoben):

Da ist es interessant, daß es gelungen ist, ein Bild, wie es die Augenkeile eines Insektenauges auf seiner Netzhaut entstehen lassen, zu beobachten und sogar photographisch festzuhalten. Die Photographie (Abb. 42) zeigt uns den Ausblick aus einem Fenster, gesehen durch das Auge eines Leuchtkäferchens. Man erkennt die Gestalt des Fensters, das Fensterkreuz, man sieht den auf eine Fensterscheibe aufgeklebten Buchstaben R und, etwas verschwommen freilich, einen Kirchturm in weiterer Ferne. (Ebd.)

Wie sich zeigt, hat Heidegger die Formulierungen von Frischs für seine Vorlesung ein wenig redigiert. Mit dem Wissen um die anderen Übernahmen aus von Frischs Schrift ist der Bezug aber eindeutig. Besonders signifikant ist das kleine Füllwort „sogar“ zwischen „zu beobachten“ und „photographisch festzuhalten“, das sich an derselben Stelle auch bei Heidegger findet („zu beobachten, ja sogar zu photographieren“).

Beleg und Messbild

Ausnahmsweise ist es ganz gewiss kein Zufall, dass von Frisch bei der Besprechung der Schärfe des Netzhautbildes beim Facettenauge die Darstellung am Leuchtkäferauge referiert und seiner Schrift (dies klang im Zitat schon an) auch die zugehörige Fotografie beigibt. War doch Sigmund Exner, auf den der Versuch zurückgeht, sein Onkel und Lehrer an der Wiener Universität. Der fragliche Versuch steht im Kontext von Exners Monographie Die Physiologie der facettirten Augen von Krebsen und Insecten, die seine Studien zum optischen Mechanismus der Bildentstehung beim Facettenauge entlang der zwei von ihm so benannten Grundtypen zusammenfasst: dem Appositions- und dem Superpositionsbild (Exner 1891: 17). Die Erklärung für letzteres, bei dem die von den Augenkeilen gesammelten Lichtstrahlen nebeneinander als Punkte verschiedener Helligkeit auf die Retina fallen und für den Beobachter ein einzelnes, aufrecht stehendes (mosaikartiges) Netzhautbild formen, gilt bis heute in der Forschung als grundlegend (Land/Nilsson 2012: 193 f.). Im Weiteren soll aber nur der Platz interessieren, den die Fotografie in Exners Schrift einnimmt, sowie die Überlegungen, die er zum Sehen mit dem Facettenauge anstellt. Dabei wird sich zeigen, dass das eine zum anderen in einem untergründigen Spannungsverhältnis steht.

Die Aufnahme des Netzhautbildes im Leuchtkäferauge findet sich in Exners Monographie als eine Art Frontispiz links neben dem Titelblatt, eingebunden auf einer eigenen Tafel. Das Bild ist nicht gedruckt, vielmehr ist (in allen von mir eingesehenen Exemplaren) jeweils ein Papierabzug mittig auf dem Karton aufgezogen (Abb. 1), darüber und darunter stehen die Bildlegende, ein kurzer Abriss der Aufnahmesituation sowie der Nachweis ihrer Herstellung. Angefertigt wurde die Fotografie im Auftrag Exners von Josef Maria Eder, dem Direktor der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien, die damals ihr Gebäude in der Westbahn Straße hatte, unweit der Schottenfeldkirche, deren Turm auf der Aufnahme durch das Fenster schemenhaft erkennbar ist (Eder 1890). Ungeachtet ihrer prominenten Platzierung und des beträchtlichen Aufwands, mit dem die Aufnahme jedem Exemplar einzeln beigegeben wurde, wird auf sie in der Schrift nur zweimal eingegangen. Bei der Besprechung des Superpositionsbildes (um ein solches handelt es sich beim Netzhautbild des Leuchtkäfers) dient sie schlicht als Beleg für die Gegebenheit des durch Präparation des optischen Apparats am Mikroskop beobachteten Bildeindrucks. Exner (1891: 36) schreibt: „Ein solches [Luftbild, d. h. das virtuell am Ort der abpräparierten Retina entstehende Bild] ist mikrophotographisch aufgenommen und durch Lichtdruck (selbstverständlich ohne jede Retouche) vervielfältigt, diesen Zeilen als Titelbild beigegeben.“ Der Zusatz „selbstverständlich ohne jede Retouche“ stellt klar: Der Akzent liegt hier auf dem dokumentarischen Charakter der Aufnahme. Kein Zweifel, so die Botschaft, das Netzhautbild ist tatsächlich vorhanden; wer will, mag seine Reproduktion vorne neben dem Titelblatt noch einmal in Augenschein nehmen.Footnote 3

Abb. 1
figure 1

„Mikrophotographie des aufrechten Netzhautbildes im Augenhintergrunde des Leuchtkäferchens (Lampyris spldl.).“ Abzug im Original ca. 6 × 4,5 cm bei 120 facher Vergrößerung. „Als Object diente ein Bogenfenster, durch welches eine Kirche gesehen wird. Auf eine Fensterscheibe war ein aus schwarzem Papier geschnittenes ‚R’ geklebt. (Es erscheint wegen der Vervielfältigung durch Lichtdruck in Spiegelschrift.) Die Entfernung des Fensters vom Auge betrug 225 Ctm.; die der Kirche vom Fenster 135 Schritte.“ Quelle: Exner 1891, neben dem Titelblatt links

Hiervon deutlich verschieden ist der zweite Gebrauch, den Exner von der Fotografie in seiner Monographie macht. Die Aufnahme wird diesmal als eine Art Messbild behandelt, das, wie bei von Frisch referiert, dazu dient, Angaben über die Schärfe des Netzhautbildes des Facettenauges zu gewinnen. Angesichts der deutlichen Wiedergabe des auf das Fenster aufgeklebten Buchstabens resümiert Exner (1891: 179), dass „dieses Thier, soferne es sich um das Netzhautbild handelte, noch im Stande wäre, Schilderschrift in der Entfernung von einigen Metern zu lesen.“ In der Einschränkung liegt eine gewisse Doppeldeutigkeit, denn man könnte sie auch als scherzhaften Hinweis darauf verstehen, dass ein Käfer, Netzhautbild hin oder her, vermutlich niemals in der Lage ist, „Schilderschrift“ zu lesen. Konkret hat Exner aber im Sinn, dass die Schärfe des Bildes keine Aussage darüber zulässt, ob dieses auch voll umfänglich von der Retina verarbeitet wird. Mangels geeigneter Experimentiertechniken kann Exner (ebd.: 180) diese Frage nur mit einer Schlussfolgerung beantworten. Sein Argument lautet, dass es „doch wohl absurd“ sei, „zu denken, die Natur habe einen so complicirten dioptrischen Apparat zur Herstellung eines Bildes construirt und dem Thiere keine Netzhaut gegeben, dieses Bild zu verwerthen.“ Die Tücken eines solchen ins Teleologische hinüberspielenden Arguments brauchen hier nicht diskutiert zu werden. Wesentlich interessanter ist, dass für Exner die primäre Leistung des Facettenauges gar nicht direkt mit der Schärfe des Netzhautbilds gekoppelt ist.

Wie einige Seiten später ausgeführt wird, geht er davon aus, dass das Sehen mit einem Facettenauge anders verstanden werden muß als das Sehen mit einem Linsenauge:

Meine Ansicht geht dahin, dass der Typus des Wirbelthierauges [das heißt des Linsenauges, CH] in vollkommenerer Weise dem Erkennen von Formen der äusseren Objecte, der Typus des Facettenauges in vollkommenerer Weise dem Erkennen von Veränderungen an den Objecten dient. (Ebd.: 183, Hervorhebung im Original)

Von diesem Standpunkt aus läuft das Sehen mit dem Facettenauge nicht darauf hinaus, im Gesichtsfeld gegebene Gegenstände eingehend zu mustern, sondern darauf, Veränderungen dieser Gegenstände im Raum, insbesondere Bewegungen, zu bemerken, wofür vornehmlich die Zahl der Augenkegel, nämlich die Zahl der Hell–Dunkel–Wechsel im Ausschnitt des Gesichtsfeldes wichtig ist.Footnote 4 Sehen meint unter dieser Annahme nicht, in Blick zu nehmen. Es meint, auf Vorgänge im Gesichtsfeld zu reagieren, zu fliehen, zu verharren oder zuzuschlagen. „Das Insect“, so Exner (ebd.: 184), „kennt seine Feinde nicht nach Formen, sondern nur nach Bewegungen, die Fliege setzt sich ungescheut auf jeden ausgestopften Vogel, und der ganze Schwarm von Fliegen steigt in die Luft, wenn im Zimmer ein Sacktuch geschwungen wird.“

Kehrt man mit diesen Überlegungen zu der Fotografie zurück, die Exner seiner Monographie voranstellt, schwindet augenblicklich ihre ganze Anschaulichkeit. Diese Aufnahme stellt nichts von dem vor, was nach Exner den Sehvorgang mit dem Facettenauge charakterisiert. Sie zeigt keine Bewegung im Bild (wie immer man das anstellen müsste), sie zeigt im Gegenteil mit dem Netzhautbild jenes Bild, das zu diesem Zeitpunkt schon seit etwa 250 Jahren als Grundlage des Sehens mit dem einfachen Linsenauge gilt und im Weiteren zum Inbegriff dafür geworden ist, dass „das Sehen durch Bilder geschieht, welche sich von den äußern Gegenständen auf der Netzhaut malen“, so der englische Naturforscher Joseph Priestley (1772/1775: 93) in seiner Geschichte der Optik. Anders gesagt steht die Aufnahme, die Exner von dem Netzhautbild des Leuchtkäfers anfertigen lässt, in einer langen Tradition von Arbeiten, in denen der Sehvorgang selbstverständlich als ein Sehen von Bildern begriffen worden ist. Diese Tradition wird durch die Aufnahme beispielhaft reproduziert, von der Idee, ein Facettenauge diene primär dem Erfassen von Bewegungen, gibt sie hingegen nicht einmal ansatzweise eine Vorstellung.

Kann ein Tier sehen?

Wenn Heidegger sein Referat des Käferaugenversuchs mit einem apodiktischen „Keineswegs“ beschließt, könnte man meinen, dass er damit ganz auf Exners Linie liegt. Allerdings wird bei seiner Quelle von Frisch (1927: 65) Exners Einfassung des Facettenauges als eine Art Bewegungsmelder nicht erwähnt. Man darf deshalb vermuten, dass Heidegger nichts von der Spannung zwischen der Fotografie und der hypothetischen Zweckbestimmung des für ihre Herstellung benutzten Sehorgans wusste. Gleichwohl kann man zunächst konstatieren, dass für ihn der von der Fotografie vermittelte Eindruck ganz so einen Nullpunkt des Sehens mit dem Käferauge darstellt, wie es Exners Monographie zwingend – wenn auch unausgesprochen und dem Verfasser vielleicht gar nicht voll bewusst – nahelegt. Allerdings nimmt die Argumentation im Weiteren einen grundsätzlich anderen Gang. Um zu entscheiden, was ein Tier sieht, reichen verhaltensbiologische Dressurversuche, wie sie von Frisch (ebd.) zur näheren Prüfung ergänzend in Betracht zieht, nicht hin. Heidegger erwähnt sie gar nicht, sie können auch keine Rolle spielen, weil sich für ihn, wie gleich deutlich werden wird, das Problem nicht als ein physiologisch oder biologisch zu klärendes stellt. Heidegger (1983: 337) insistiert: „Die Schwierigkeit besteht aber nicht nur in der Bestimmung dessen, was das Insekt sieht, sondern auch, wie es sieht“ (Hervorhebung im Original). Zwar erinnert diese Verschiebung erneut an Exners Überlegungen, aber schon im folgenden Satz wird deutlich, dass Heidegger bei diesem „wie“ des Sehens nicht an irgendeine besondere im Bau respektive in der Funktionsweise des Sehorgans oder in den Lebensumständen des Tiers gegründete sinnliche Verrichtung denkt. Er fährt fort: „Denn wir dürfen auch nicht ohne weiteres unser Sehen mit dem des Tieres vergleichen, insofern das Sehen und Sehenkönnen des Tieres eine Fähigkeit ist, während unser Sehenkönnen am Ende noch einen ganz anderen Möglichkeitscharakter und eine ganz andere Seinsart besitzt“ (ebd., Hervorhebung im Original).

Die Bedeutung dieser Abgrenzung erschließt sich erst im größeren Zusammenhang von Heideggers Ausführungen. In Anlehnung an Jakob von Uexkülls Umweltlehre (allerdings, wie man gleich verstehen wird, unter Abstreichen des Wortes „Welt“) postuliert er, dass das Wesen des Tiers durch eine grundsätzliche „Benommenheit“ charakterisiert ist. Das Tier bezieht sich nicht „auf vorhandene Dinge“, ihm ist vielmehr im Rahmen einer Passung zwischen seinen Fähigkeiten und seiner Umgebung – Heidegger spricht von Umring, umringt sein und Enthemmungsring – immer schon bestimmt, „was als Anlaß sein Benehmen treffen kann“ (ebd.: 370 f., Hervorhebung im Original). Aus diesem Umstand folgt seine Benommenheit, womit nichts anderes gesagt ist, als dass das Tier in seiner Passung eingesperrt sein soll (ebd.: 292), und dieser Umstand speist Heideggers Ausgangsthese, dass das Tier „weltarm“ sei (ebd.: 272). Damit ist nicht gemeint, dass die Welt eines Tiers weniger vielfältig an Eindrücken und Vorkommnissen ist (ebd.: 286 f.), sondern dass das Tier zur Welt und ihren Gegebenheiten keinen ungebundenen Zugang hat, weshalb es ihm im starken Sinne von Besitzen grundlegend an Welt mangeln soll (ebd.: 391 f.).

An diesem Punkt angelangt gewinnt das „Keineswegs“, mit dem Heidegger die vermeintliche Transparenz des fotografierten Netzhautbildes durchstreicht, seine spezifische Prägnanz. Die Aufnahme entwirft vor allem deshalb ein Trugbild, weil sie den Eindruck einer Möglichkeit erweckt, die nach seiner Argumentation dem Käfer wie jedem anderen Tier verwehrt ist. Wenn Heidegger fragt, „was das Insekt sieht“ und „wie es sieht“, interessieren ihn nicht die Eindrücke des Tiers und er hat auch nicht, wie Exner, besondere Modalitäten des Sehens im Sinn. Mit „was“ und „wie“ des Sehens steht vielmehr eine ontologische Differenz im Raum. Für Heidegger kann nur eingeschränkt, gleichsam in Anführungszeichen, davon die Rede sein, dass ein Tier sieht und wahrnimmt. Alltagssprachlich mag dies zulässig sein, „[i]m Grunde aber hat das Tier keine Wahrnehmung“, weil es im Gegensatz zum Menschen „nie etwas als etwas vernehmen“ kann (ebd.: 376). Anders ausgedrückt darf man sagen, dass ein Tier, in der Weise „wie“ es nach Heidegger sieht, ein „was“ des Sehens nicht kennt. Es sieht, aber das Gesehene ist ihm als Seiendes nicht zugänglich, nicht vor Augen. „Der ontologische Rang der animalischen Umwelt“, so Agamben (2002/2003: 63), „kann folgendermaßen definiert werden: Sie ist offen, aber nicht offenbar“ (Hervorhebung im Original).

Andere Fraglichkeiten und eingefahrene Begriffe

Heideggers Schilderung der Untersuchung am Leuchtkäferauge hat in der einschlägigen Literatur bislang kaum Spuren hinterlassen.Footnote 5 Zumindest im Falle Derridas kann dies durchaus verwundern, denn seine Überlegungen setzen just mit dem Blick eines Tiers ein, freilich mit dem Blick einer Katze, die nicht einfach aus dem Fenster schaut, sondern den Philosophen, „nackt und schweigend“, erblickt (Derrida 2006/2010: 20). Eine etwas ausführlichere Diskussion findet sich allerdings bei Christina Vagt. Danach soll Heideggers Referat des Versuchs „einer ersten Kritik wissenschaftlicher Bilder und ihrer Evidenzproduktion“ (Vagt 2012: 120) dienen. Im Ergebnis würde demzufolge der Zugang zum Sehen des Käfers durch die Fotografie des Netzhautbildes geradewegs verstellt, weil auf diesem Wege einzig der menschliche, technisch vermittelte Zugriff auf den fraglichen Vorgang ins Bild gerückt werde: „Die Fotografie verrät ihm [Heidegger, CH] nichts über den Blick des Käfers, aber viel über den des Menschen, der sich das Sehen des Käfers mithilfe der Fotografie zum Gegenstand macht“ (ebd.: 121). Man kann diese Überlegung in Beziehung setzen zu Heideggers in die Vorlesung eingebundenen Ausführungen zum Stand der Biologie seiner Zeit und zu einer genuin biologischen (nicht physikalistisch-mechanistischen oder vitalistischen) Konzeption des Lebens, die unter anderem zu der Feststellung führen: „Die Wissenschaft der Biologie steht vor der Aufgabe eines ganz neuen Entwurfes dessen, wonach sie fragt“ (Heidegger 1983: 278). Vor diesem Hintergrund begegnete dem Philosophen in dem Käferaugenversuch ein schulmäßiges Beispiel dafür, wie ein wissenschaftliches Unternehmen von Grund auf, nämlich bereits durch einen nicht hinreichenden Entwurf seines Gegenstands, in die Irre geht.

In Kenntnis der näheren Umstände des Versuchs wird man allerdings festhalten müssen, dass weder Exner in seiner Monographie noch von Frisch in seinem Referat behaupten oder auch nur nahelegen, die Aufnahme gebe wieder, was der Käfer sieht. Dass uns die Fotografie, wie von Frisch schreibt, „den Ausblick aus einem Fenster, gesehen durch das Auge eines Leuchtkäferchens zeigt“, hebt gerade im Gegenteil das Gesehenwerden dieses Ausblicks durch einen, nach der ganzen Situation muss man vermuten, menschlichen Beobachter hervor. Wenn Heidegger die Darstellung des Versuchs in seiner Vorlesung in der Bemerkung kulminieren lässt: „Das Insektenauge ist fähig diesen ‚Anblick’ zu bilden. Aber können wir daraus entnehmen, was das Leuchtkäferchen sieht?“ (ebd.: 336, Hervorhebung im Original), rückt er die Fotografie also in eine Fraglichkeit ein, die sie im wissenschaftlichen Kontext gar nicht umgibt. Gleiches würde für Vagts Lesart der Stelle gelten: Sollte Heidegger dort (was nicht unmittelbar ersichtlich ist) einen den Gegenstand verfehlenden Gebrauch der Fotografie im Forschungsprozess kritisiert haben, so kritisierte er nur einen Gebrauch, den er erst selbst im Zuge seiner Darstellung dem Versuch beigefügt hatte. Die interne Bündigkeit von Heideggers Argumentationsgang wird von dieser Klarstellung nicht berührt, deutlich wird jedoch, dass er sich seine Beispiele passgenau zuschneidet. Entsprechend sollte man die eingestreuten Ausflüge in die Erforschung der Tierwelt besser nicht als Belege für Heideggers Ausführungen lesen, sondern als kunstvoll zugerichtete Lehrstücke, gegen die sein eigener Standpunkt schärfer noch hervortreten kann.

Abgesehen hiervon könnte man sich allerdings auf den Standpunkt stellen, dass es für den Umgang mit Heideggers Argument keinen größeren Unterschied macht, ob man um den Kontext des Käferaugenversuchs weiß oder nicht. Seine Abgrenzung des menschlichen Sehens von dem eines Tiers begründet sich, wie ausgeführt, nicht in Bezug auf physikalische, physiologische oder zoologisch-verhaltensbiologische Einsichten. Maßgeblich ist vielmehr, dass nach seiner Auffassung einem Tier die Möglichkeit genommen ist, „etwas als etwas zu vernehmen“. Obwohl das Sehen damit als eine ausschließlich philosophisch zu behandelnde Frage reklamiert wird, steht Heideggers Begriff des Sehens dem wissenschaftlichen Verständnis des Sehvorgangs aber keineswegs völlig fern. Folgt man seinen Ausführungen, dann scheint das Sehen des Menschen (und damit im gegebenen Zusammenhang das Sehen überhaupt) dadurch spezifiziert, dass dieser sich dem Gesehenen gegenüberstellen, sich zu diesem in ein Verhältnis setzen, das Gesehene erkennen und schließlich auch bezeichnen kann. Deutlich wird dies an dem, wozu ein Tier nach Heidegger keinen Zugang hat: „Wenn wir sagen, die Eidechse liegt auf der Felsplatte, so müßten wir das Wort ‚Felsplatte’ durchstreichen, um anzudeuten, daß das, worauf sie liegt, ihr zwar irgendwie gegeben, gleichwohl nicht als Felsplatte bekannt ist“ (ebd.: 291, Hervorhebung im Original). Zwar ist hier nicht vom Sehen direkt die Rede, aber impliziert vom Wahrnehmen, das übergeordnet das Sehen einschließt.

Die Konstruktion dieser Wahrnehmungsszene steht nun in bemerkenswertem Einklang mit dem Grundverständnis des Sehvorgangs als ein Sehen von Bildern, die sich auf dem Grund der Netzhaut abzeichnen. Man muss sich dafür nur den Versuch vergegenwärtigen, auf den Priestley an der oben zitierten Stelle anspielt. Demonstriert wird das Netzhautbild (zuerst geschildert bei Christoph Scheiner, bekannter die Darstellung in René Descartes’ Dioptrique), indem von einem Linsenauge (bei Descartes eines Tiers, bei Scheiner eines Menschen) die den Augenhintergrund bedeckende Sehnenhaut abpräpariert wird und das Bild einer leuchtenden Kerze auf der Rückseite der Netzhaut durchscheinend dem Beobachter vor Augen geführt wird (Scheiner 1626–1630: 110, Descartes 1637/1982: 115 f.). In dieser Darstellung geht es nicht weniger um ein Erblicken, Einsehen und Bezeichnen (bei Descartes durch eine Textfigur gestützt) und nicht nur nebenbei wird hierüber das Verständnis des Sehvorgangs als ein Bezug-nehmen-auf und sich-in-Beziehung-setzen-zu bildhaft Gegebenem eingeübt. Von diesem Standpunkt aus verhielten sich Heideggers Weise vom menschlichen Sehen und Wahrnehmen zu sprechen und die Hypostatisierung des Netzhautbildes als Basis des Sehvorgangs durch die physiologische Optik wie Triebe eines Wurzelgeflechts zueinander oder, um es mit einem vorhin schon gefallenen Ausdruck Heideggers zu sagen, sie teilten miteinander den „Entwurf“ des Sehens, diesen je eigen ausgestaltend.

Unter der Hand ist eben schon klar geworden, dass dieser Entwurf des Sehens (das heißt die grundlegende Weise, das Sehen als Gegenstand eines forschenden, verstehenden Zugriffs zu bedenken)Footnote 6 in enger Beziehung zum Sehen mit menschlichen Augen steht, nämlich, anatomisch-physiologisch gesprochen, zum Sehen mit dem einfachen Linsenauge. Heideggers Begriff des Sehens mag diesen Bezug ausblenden, aber es bleibt doch unverkennbar, wie auch bei ihm Sehen und Wahrnehmen zusammenfallen mit einem Gegenüberstellen und Gegenüberstehen, einem Eindruck gewinnen und final mit dem Bezeichnen des Gesehenen. Diese Bindung des Sehens an das Bild und, damit verknüpft, die Bindung des Bezugs auf die Welt an deren Bildwerdung (siehe auch Snyder 1979/1980: 503 f.), ist lange Zeit selbstverständlich gewesen. Auch Exners Studien am Facettenauge gelten nicht umsonst den Mechanismen der Bildentstehung und die Fotografie, die sein Buch schmückt, lässt sich in dieser Hinsicht geradezu als Bekräftigung und Erneuerung des Satzes verstehen, dass „das Sehen durch Bilder geschieht“ (wenn auch nicht, um es noch einmal zu betonen, als Darstellung dessen, was der Käfer konkret sieht). In scharfem Widerspruch hierzu stehen allerdings Exners am Schluss der Studie entwickelten Überlegungen zum Sehen mit dem Facettenauge. Das entstehende Bild und alle von diesem hergeleiteten Aspekte des Sehens sind hiernach eher zweitrangig. Sehen unter diesen Umständen beinhaltet vielmehr die Orientierung an Hell–Dunkel Wechseln und mündet nicht in Kontemplationen über „etwas-als-etwas“ sondern in Aktionen.

Der gegebene Entwurf des Sehens wird hierdurch nicht modifiziert oder erweitert, sondern durch einen gegen ihn sich herausbildenden neuen, anderen Entwurf des Sehens kontrastiert. Pointiert gesagt: Mit Exners Überlegungen zum Sehen mit dem Facettenauge tritt am bildverhafteten Entwurf des Sehens dessen Charakter als Entwurf und das heißt als geschichtlich gewordene und damit auch reversible Einfassung des Sehens und Wahrnehmens erst hervor. Dies geschieht durchaus gegen Ausgangspunkt und Anlage von Exners Unternehmung, ändert aber nichts daran, dass in der Konsequenz der bis dahin privilegierte Begriff des Sehens in seinem Geltungsumfang eingeschränkt und in seiner Einseitigkeit hervorgehoben wird. Die Zuhörer von Heideggers Vorlesung erfahren hiervon nichts. Heutige Leser dürfen aber darüber nachdenken, in welchen Traditionen noch vor jeder näheren philosophischen Begründung der dort entwickelte Begriff des Sehens festhängt, welche anderen Möglichkeiten sich im Feld der Wissenschaften aufgetan haben und was hieraus für eine Kritik von Heideggers Bestimmung folgt, dass ein Tier „im Grunde“ keine Wahrnehmung hat. Sicher zu kurz greift eine solche Kritik, wenn sie sich ausschließlich damit abmüht, auch dem Tier eine Wahrnehmung von etwas als etwas zuzugestehen. Man bliebe damit nur der Basis von Heideggers Argument verhaftet und reproduzierte ein weiteres Mal einen ebenso eingefahrenen wie limitierten Begriff des Sehens, statt die Frage nach dem Sehen (von Menschen und Tieren) für Überlegungen beispielsweise entlang der Auseinandersetzung mit nicht-menschlichen Sehorganen neu zu öffnen (in diesem Sinne auch Berz 2009). Auf der Autonomie des philosophischen Räsonierens kann man an diesem Punkt schon deshalb nicht bestehen, weil Heidegger sich selbst in seiner Vorlesung in den betreffenden Passagen auf Ergebnisse der Forschung bezieht. Das Material, das er zur Ausführung seines Arguments verwendet, hinterlässt, egal wie unkenntlich es zugerichtet wird, in eben diesem Argument seine Spuren. Ihnen zu folgen, steht uns frei, diese Spuren lesbar zu machen, ist die vornehmliche Absicht dieses Beitrags gewesen.

Danksagung

Ich möchte Arno Schubbach für Kommentare und hilfreiche Kritik herzlich danken. Der vorliegende Beitrag bildet ein Seitenstück zu dem gemeinsam mit Peter Berz verfolgten Buchprojekt „Andere Augen“.