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Absenz, Latenz, Dissidenz

Das Rip van Winkle-Syndrom

Absence, Latency, Dissidence

The Rip-van-Winkle Syndrom

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Im eigenen Hause fremd zu bleiben, war nicht erst das Schicksal moderner Heimkehrer, wie es Alfred Döblin und Robert Musil nach dem Ersten Weltkrieg beschreiben. Mit Rip van Winkle verbindet sich die Geschichte eines in die Einsamkeit geflüchteten Mannes, der nach einem Zauberschlaf in eine von Grund auf veränderte Heimat zurückkehrt. Seine wundersame Abwesenheit wirft ein überraschendes Licht in die Latenz der holländisch-englischen Kolonialgeschichte Nordamerikas, indem sie die Selbstbeobachtung innerer Fremdheit ermöglicht. Wilhelm Raabe und später auch Max Frisch nutzen die von Washington Irving eingeführte Figur, um ein jeweils zeitspezifisches Szenario der befremdenden Heimkehr zu entwerfen. Aus einer virtuell bleibenden kolonialexotischen Perspektive stellt Raabes Afrika-Abenteurer Leonhard Hagebucher in Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge dem preußischen Deutschland die Diagnose einer mangelnden Fähigkeit zur Aufnahme von kultureller Alterität.

Abstract

After World War I, the problem of not-belonging to one’s home had become, again, an important motif for many writers, including Alfred Döblin, and Robert Musil. Much earlier, this was the story of Rip van Winkle, the man who went back home after twenty-years of absence, after he had fallen into a magic sleep. Van Winkle returns into a home that has completely changed, while he still represents the now hidden layers of colonial history. Becoming outsiders within, is a state also experienced by the heroes in some narratives by Wilhelm Raabe and Max Frisch, authors who explicitly refer to Washington Irving’s Rip van Winkle. In Raabe’s novel Abu Telfan, the adventurer Leonhard Hagebucher returns back home from the inner regions of Africa, just to realise that nobody among his German fellows is interested in being challenged by outside views.

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Notes

  1. Nathaniel Hawthorne, »Wakefield«, in: Ders., Tales and Sketches, New York 1982, 290–298, hier: 290.

  2. Alfred Döblin, November 1918. Eine deutsche Revolution, Erzählwerk in drei Teilen, 4 Bde., hrsg. Werner Stauffacher, Solothurn 1991. Bd. II/2: Heimkehr der Fronttruppen, 17.

  3. Döblin (Anm. 2), 17.

  4. Vgl. Sarah Mohi-von Känel, Kriegsheimkehrer. Politik und Poetik, 1914–1939 (Dissertation ETH Zürich 2016), bes. 8–15.

  5. Döblin (Anm. 2), 17.

  6. Ralph Schock, »Spurensuche in einer Grenzregion«, in: Alfred Döblin, »Meine Adresse ist: Saargemünd«. Spurensuche in einer Grenzregion, zusammengetragen und kommentiert von Ralph Schock, Merzig 2010, 203–294, hier: 226f., 232.

  7. Döblin (Anm. 2), Bd. II/1: Verratenes Volk, 169.

  8. Döblin (Anm. 7), 100; die folgenden Zitate ebd.

  9. Helmuth Kiesel, Literarische Trauerarbeit. Das Exil- und Spätwerk Alfred Döblins, Tübingen 1986, 275; vgl. Manfred Auer, Das Exil vor der Vertreibung. Motivkontinuität und Quellenproblematik im späten Werk Alfred Döblins, Bonn 1977, 60.

  10. Christina Althen, Machtkonstellation einer deutschen Revolution. Alfred Döblins Geschichtsroman »November 1918«, Frankfurt a.M. 1993, 143.

  11. Vgl. hierzu Mohi-von Känel (Anm. 4), Kap. III und V.

  12. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. I, hrsg. Adolf Frisé, Reinbek 1978, 13.

  13. Musil (Anm. 12), 19.

  14. Zur Strukturanlage des Romans vgl. Alexander Honold, Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, München 1995, 35–50; Inka Mülder-Bach, Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman, München 2013, 22–73.

  15. Musil (Anm. 12), 21.

  16. Alexander Honold, »Das andere Land. Über die Multikulturalität Kakaniens«, in: Gunther Martens u.a. (Hrsg.), Musil anders. Neue Erkundungen eines Autors zwischen den Diskursen, Bern 2005, 259–275.

  17. Vgl. Erhard Schüttpelz, Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870–1960), München 2005, 109ff.

  18. Carl E. Schorske, Fin-de-siècle Vienna. Politics and Culture, New York 1979. Dt.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle, übers. Horst Günther, Frankfurt a.M. 1982.

  19. Max Frisch, Rip van Winkle. Hörspiel (1953), Stuttgart 1969, 59.

  20. Als Krankheitsbefund wurde »Heimweh« erstmals beschrieben von Johannes Hofer (Dissertatio medica de Nostalgia, oder Heimwehe, Basel 1688). Vgl. zur Semantik des Begriffs und Geschichte der dahinterstehenden Phänomene: Simon Bunke, Heimweh. Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit, Freiburg i.Br. 2009.

  21. Leslie Fiedler, Love and Death in the American Novel (1960), London 1967, 25f.

  22. Fiedler (Anm. 21), 26.

  23. Zum geschichtlichen Hintergrund der Erzählung vgl. Steven Blakemore, »Family Resemblances. The Textes and Contexts of ›Rip van Winkle‹«, Early American Literature 35/2 (2000), 187–212; Michael Warner, »Irving’s Posterity«, ELH 67 (2000), 773–799; Michelle R. Sizemore, »›Changing by entchantment‹. Temporal Convergence, Early National Comparisons, and Washington Irving’s Sketchbook«, Studies in American Fiction 40/2 (2013), 157–183.

  24. Blakemore (Anm. 23), 188.

  25. Kern dieser Anspielungen ist jeweils das rätselhafte Verschwinden eines Wanderers oder Jägers; vgl. Blakemore (Anm. 23), 174.

  26. »His dress was of the antique Dutch fashion«; Washington Irving, Rip van Winkle, London 2016, 11.

  27. Irving (Anm. 26), 17.

  28. Diese strukturelle Analogie beider Herrscherporträts, so Blakemore, ist durchaus illusionsbildend: »suggesting that nothing has changed, and that George Washington is, mutatis mutandis, George III. and vice versa.« (Blakemore [Anm. 23], 193).

  29. Irving (Anm. 26), 19.

  30. Irving (Anm. 26), 19.

  31. Warner (Anm. 23), 777, 782.

  32. Irving (Anm. 26), 21.

  33. Ethnografische Differenz hat häufig mit dem Aspekt nicht zustande kommender Gleichzeitigkeit beziehungsweise verweigerter Zeit-Gemeinsamkeit zu tun; vgl. Johannes Fabian, Time and the other. How Anthropology makes its object, London 2002.

  34. Irving (Anm. 26), 22f.

  35. »The old Dutch inhabitants, however, almost universally gave it full credit« (Irving [Anm. 26], 23).

  36. Warner (Anm. 23), 791.

  37. »In powerful contrast to revolutionary and republican-era histories that heralded the United States’ unswerving course from colony to nation, The Sketchbook makes colonialism central to the story of national identity.« (Sizemore [Anm. 23], 159).

  38. Wilhelm Raabe, Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge. Roman, in: Ders., Sämtliche Werke, bearb. Werner Röpke, Göttingen 2008, VII.

  39. Zu Raabes Faszination für Auswanderer und seinen eigenen zeitweiligen Auswanderungsplänen vgl. Werner Fuld, Wilhelm Raabe. Eine Biographie, München 2006, 21, 28 et passim.

  40. Eine zusammenhängende Darstellung des überseeischen und ›exotistisch‹-kolonialen Themenkreises bei Raabe bietet aus postkolonial-kulturgeschichtlicher Perspektive Florian Krobb, Erkundungen im Überseeischen. Wilhelm Raabe und die Füllung der Welt, Würzburg 2009, dort 103–132 auch eine ausführliche Interpretation zu Abu Telfan.

  41. Krobb (Anm. 40), 55.

  42. Raabe (Anm. 38), Kommentar des Hg., 415.

  43. Die holländische Kennzeichnung des Retters ist im Sinne der hier skizzierten Stofftradition desto bedeutungstragender, als es sich dabei um eine zur Tarnung angenommene Identität handelt, hinter welcher sich ein aus sozialer Not ausgewanderter Jüngling, Leutnant Viktor Fehleisen aus Hagebuchers Herkunftsregion, verbirgt.

  44. Dennoch müsste eine Lektüre fehlgehen, die »Hagebuchers soziale Nicht-Integrierbarkeit« primär auf seine »lange Gefangenschaft« und Entfremdung von der »europäischen Heimat« zurückführte (Michel Gnéba Kokora, »Die Ferne in der Nähe. Zur Funktion Afrikas in Raabes Abu Telfan und Stopfkuchen«, Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1994, 54–69, hier: 58), also plot-immanent erklären würde, ohne den Anteil des narrationskonstitutiven Kommunikationsproblems in den Blick zu nehmen.

  45. Raabe (Anm. 38), 7.

  46. Raabe (Anm. 38), 7.

  47. Krobb (Anm. 40), 130, arbeitet in seiner Lektüre des Romans primär die semantischen »Grenz- oder Übergangsbereiche« heraus, die etwa schon von Hagebuchers Reiseweg beschrieben oder auch durch die Bekanntschaft des Protagonisten mit dem Sprachhistoriker Reihenschlager, einem Spezialisten des Koptischen, als kultureller Verstehensrahmen evoziert werden.

  48. Raabe (Anm. 38), 7.

  49. Zu Raabes politischem Denken und zu seinen republikanischen Vorstellungen vgl. Dirk Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, Würzburg 2000; Jeffrey L. Sammons, Wilhelm Raabe. The Fiction of the Alternative Community, Princeton 1987.

  50. Raabe (Anm. 38), 11.

  51. Raabe (Anm. 38), 12.

  52. Raabe (Anm. 38), 12.

  53. Zu Raabes Selbstthematisierung des Schreibens und zu seiner poetologischen Programmatik vgl. Hans-Jürgen Schrader, »Gedichtete Dichtungstheorie im Werk Raabes. Exemplifiziert an Alte Nester«, Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1989, 1–27.

  54. Die Referenz Raabes auf Jean Pauls Selina und das »innere Afrika« wird pointiert ausgearbeitet bei Christoph Zeller, Allegorien des Erzählens. Wilhelm Raabes Jean-Paul-Lektüre, Stuttgart 1999, bes. 164–202. Zum Faust-Intertext vgl. Monika-Yvonne Elvira Stein, »Im Mantel Goethes und Faust auf der Fährte«, Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2006, 50–77; ferner Susanne Illmer, »›Wilde Schwächlinge‹ auf dem Weg ›zu den Müttern‹. Die Ordnung des Matriarchats und die Politik der Provinz in Wilhelm Raabes Roman Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge«, in: Dirk Göttsche, Ulf-Michael Schneider (Hrsg.), Signaturen realistischen Erzählens im Werk Wilhelm Raabes, Würzburg 2010, 137–158.

  55. Er gehört insofern in die bei Raabe ohnehin virulente Reihe von Sonderlings-Existenzen, deren Antriebskräfte des Reisens stets auch eine Dissidenz zur zeitgenössischen Mitwelt artikulieren (Lucas Marco Gisi, »Barbaren, Kinder und Idioten. Von Wilhelm Raabes Abu Telfan und Altershausen zu Robert Walsers Jakob von Gunten«, Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2014, 103–125, bes. 105). Vgl. ferner Christian Müller, »Subjektkonstituierung in einer kontingenten Welt. Erfahrungen zweier Afrika-Heimkehrer – Gottfried Kellers Pankraz, der Schmoller und Wilhelm Raabes Abu Telfan«, Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2002, 82–110.

  56. Raabe (Anm. 38), 17.

  57. Raabe (Anm. 38), 30.

  58. Raabe (Anm. 38), 20.

  59. Raabe (Anm. 38), 23.

  60. Vgl. Göttsche (Anm. 49).

  61. Raabe (Anm. 38), 17.

  62. Raabe (Anm. 38), 38.

  63. Raabe (Anm. 38), 33.

  64. Raabe (Anm. 38), 33.

  65. Raabe (Anm. 38), 31.

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Honold, A. Absenz, Latenz, Dissidenz. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 92, 245–267 (2018). https://doi.org/10.1007/s41245-018-0059-1

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