Zusammenfassung
Die Autoren der Wiener Decadence sehen die historische Stellung ihrer Generation in einer widersprüchlichen „Mischung von Gebundensein und Wurzellosigkeit“ (Hofmannsthal). Ihre Modernität liegt darin, daß sie nicht bestimmte Kunstrichtungen, sondern Tradition als solche zum Gegenbegriff des eigenen Generationsstils erklären. Die Einheit ihrer Generation ist weder historisch noch stilgeschichtlich, sondern nur mehr selbstreflexiv, als Ausdruck des gemeinsamen „Kunstwollens“ (A. Riegl) begründet. Von der Spannung zwischen sozialgeschichtlichen bzw. biologischen Ableitungen des Generationsbegriff und der ästhetischen Emergenz neuer „Stilgenerationen“ leben auch die kunst- und literaturgeschichtlichen Debatten der zwanziger Jahre (W. Pinder, J. Petersen, K. Mannheim) — ohne sie lösen zu können.
Abstract
Viennese Fin de Siècle authors such as Hofmannsthal considered themselves being determinated and uprooted at the same time. For their generation, modernity did not only mean to leave behind the style of the former generation, but to be opposed to tradition as a whole. The unifying features of „decadent“ artists and writers can rather be found in their intentional esthetical credo (their „Kunstwollen“, as A. Riegl said) than in historical experience. In the Twenties the paradigm of „generations“ was employed to reduce the changing of styles to biological or sociohistorical factors (W. Pinder, J. Petersen, K. Mannheim), though Fin de Siècle Vienna had already shown the cultural constructions within that concept of‘ generation style’: styles emerge and disappear like generations.
Literature
Robert Musil, Stilgeneration oder Generationsstil, Gesammelte Werke, hrsg. Adolf Frisé, 2 Bde., Reinbek 1978, II, 661–663, hier: 662; die folgenden Zitate ebd.
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke, hrsg. Adolf Frisé, 2 Bde., Reinbek 1978, I, 10.
Jacques Le Rider, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, übers. Robert Fleck, Wien 1990, 21.
Karl Kraus, „Franz Ferdinand und die Talente“, Die Fackel 16/400–403 (1914), 1–4, hier: 1.
Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen aus dem Nachlaß, Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze — Aufzeichnungen, hrsg. Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert, 4Bde., Frankfurt a.M. 1979f., III (1980), 311–595, hier: 383.
Einflußreichster Vermittler der im romanischen Sprachraum entstandenen Literaturströmung für das Junge Wien war Hermann Bahr. Er beschrieb die Décadence als Abkehr vom Naturalismus, die statt einer „Abschrift der äußeren Natur“ eine „Romantik der Nerven“ darzustellen versuche. Neben Joris Huysmans’ A rehours, dessen Protagonist Des Esseintes ihm als „das reichste und deutlichste Beispiel der décadence“ gilt, zählt Bahr insbesondere Maurice Barrès’ Trilogie Culte de moi zu den exemplarischen Werken der Bewegung (Hermann Bahr, Die Décadence [1894], Wiederabdr. in: Gotthart Wunberg [Hrsg.], Die Wiener Moderne. Literatur; Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1981, 225–232, hier: 225, 226).
Wolfdietrich Rasch, Die literarische Décadence um 1900, München 1986, 7.
Wucherpfennig hebt hervor, daß im Generationsproblem individualpsychologische und soziologische Legitimationskrisen einander überlagern: „Die Autorität der Väter, der Glaube an die von ihnen vermittelten Werte, ist erschüttert, doch mangels Nachfolger regieren sie weiter. Dies, nicht eine vermeintlich zunehmende Strenge patriarchalischer Herrschaft, schafft die Atmosphäre, in welcher der Ödipuskomplex entdeckt, die Doppelmoral zu einem literarisch-öffentlichen Thema werden konnte“ (Wolf Wucherpfennig, „Das Junge Wien und seine Väter. Bahr und der junge Hofmannsthal im gesellschaftlichen Zusammenhang“, Hofmannsthal-Forschungen 7 [1983], 145–180, hier 151).
Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen stellen diesen Bezug zur Dekadenz in einer Art Selbstanalyse her: „Mein eigentliches Erlebnis … war die „Entartung‘ einer solchen alten und echten Bürgerlichkeit ins Subjektiv-Künstlerische: ein Erlebnis und Problem der Uberfeinerung und Enttüchtigung“ (Gesammelte Werke in 13 Bänden, hrsg. Hans Bürgin, Frankfurt a.M. 1974, XII, 7–589, hier: 139).
Vgl. bereits Walter Rehm, Der Untergang Roms im abendländischen Denken, Leipzig 1920.
Hugo von Hofmannsthal, Ad me ipsum, Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze — Aufzeichnungen, hrsg. Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1979f., III (1980), 597–627, hier: 625. Hofmannsthal bezieht sich ausdrücklich auf die durch Gibbon bezeichnete historiographische Traditionslinie, die er in der Wiener Kunsthistoriker-Schule (Riegl, Wickhoff) fortgesetzt sieht.
Hans Robert Jauß, „Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität“, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970, 11–66, hier: 56.
Gerade die im Zuge der architektonischen Modernisierung in die Kunstbetrachtung eingeführte Aktualitätsperspektive habe, so Riegl, zu einer Historisierung des klassisch-überzeitlichen Kunstideals beigetragen: „Nach der älteren Meinung besitzt ein Kunstwerk insofern Kunstwert, als es den Anforderungen einer vermeintlichen objektiven … ästhetik entspricht; nach der neueren bemißt sich der Kunstwert eines Denkmals danach, wie weit es den Anforderungen des modernen Kunstwollens entgegenkommt“ (Alois Riegl, „Der moderne Denkmalskultus, sein Wesen und seine Entstehung“ [1903], in: ders., Gesammelte Aufsätze, Augsburg, Wien 1929, 144–193, hier: 147f.).
Hugo von Hofmannsthal, Gabriele D’Annunzio (1893), Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze — Aufzeichnungen, hrsg. Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1979f., I (1979), 174–184, hier: 174; das nachfolgende Zitat 176.
Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften, hrsg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., V (1982), 1022.
Begriff und Konzept der Generationsentelechie, die Karl Mannheim von Wilhelm Pinder übernahm, ermöglichten „eine Übertragung des Rieglschen „Kunstwollens‘ vom Phänomen der Stileinheit auf die Generationseinheit“ (Karl Mannheim, „Das Problem der Generationen“ [1928], in: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hrsg. Kurt H. Wolff, Berlin, Neuwied 1964, 509–565, hier: 518).
Richard Alewyn, „Das Problem der Generation in der Geschichte“, Zeitschrift für Deutsche Bildung 5 (1929), 519–527, hier: 519.
„Este ritmo de épocas de senectud y épocas de juventud es un fenòmeno tan patente a lo largo de la historia, que sorprende no hallarlo advertido por todo el mundo. La razón de esta inadvertencia esta en que no se ha intentado aun formalmente la instauración de una nueva disciplina cientifica, que podria llamarse metahistoria“ (José Ortega y Gasset, El tema de nuestro tiempo [1923], Madrid 1981, 81).
Wilhelm Dilthey, Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875), Gesammelte Schriften, V, 6. Aufl., Stuttgart 1974, 31–73, hier: 36.
Eduard Wechßler, „Die Auseinandersetzung des deutschen Geistes mit der französischen Aufklärung (1732–1832)“, DVjs 1 (1923), 613–635, hier: 615.
Julius Petersen, „Die literarischen Generationen“, in: Emil Ermatinger (Hrsg.), Philosophie der Literaturwissenschaft, Berlin 1930, 130–187, hier: 145.
Julius Petersen, Die Wesensbestimmung der deuschen Romantik. Eine Einführung in die moderne Literaturwissenschaft, Leipzig 1926, 140.
Vgl. den kulturhistorischen Überblick, den Hermann Glaser zur Konstellation der „Jugend in Wien“ bietet (Hermann Glaser, Sigmund Freuds Zwanzigstes Jahrhundert. Seelenbilder einer Epoche, Frankfurt a.M. 1979, bes. 51–168).
Vgl. Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Eine Autobiographie (1968), Frankfurt a.M. 1981; ferner den Katalog der gleichnamigen Sonderausstellung des Schiller-Nationalmuseums Marbach a.N.
Ludwig Greve, Werner Volke (Hrsg.), Jugend in Wien. Literatur um 1900, 2. Aufl., Marbach a.N. 1987.
Vgl. hierzu: Alexander Honold, Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, München 1995, 95–136.
Robert Musil, Tagebücher, hrsg. Adolf Frisé, 2., durchges. und erg. Auflage, 2 Bde., Reinbek 1983, I, 485.
Robert Musil, Der deutsche Mensch als Symptom (1923), Gesammelte Werke, hrsg. Adolf Frisé, 2 Bde., Reinbek 1978, II, 1353–1400, hier: 1355.
„Wie es mit den Menschen in unserem Jahrhundert gemeint ist, konnte man zur Jahrhundertwende nicht wissen“, notiert Alexander Kluge. „Es sind aber, im Verborgenen, einige der Voraussetzungen für den Kriegsausbruch von 1914 gelegt, und im Dezember 1918 ist die Chiffre, die das Jahrhundert in unseren Breiten prägt, für jeden im Lande als Erschütterung erfühlbar“ (Alexander Kluge, „Das Lesen des Textes wirklicher Verhältnisse“, Nachwort zu: Hans Dieter Müller, Der Kopf in der Schlinge. Entscheidungen im Vorkrieg, Frankfurt a.M. 1985, 175–211, hier: 178f.).
Hugo von Hofmannsthal, Krieg und Kultur (1915), Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze — Aufzeichnungen, hrsg. Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1979f., II, 417–420, hier: 418.
Hugo von Hofmannsthal, Zürcher Rede auf Beethoven (1920), Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze — Aufzeichnungen, hrsg. Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert in Beratung mit Rudolf Hirsch, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1979f., II, 69–81, hier: 72; vgl. unter dem Aspekt des Generationserlebnisses dazu auch Rudolph (Anm. 59), 118.
Robert Wohl, The Generation of 1914, Cambridge/Mass. 1979, 1.
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Honold, A. Die Wiener Décadence und das Problem der Generation. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 70, 644–669 (1996). https://doi.org/10.1007/BF03375596
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