Skip to content
Publicly Available Published by De Gruyter (A) November 20, 2022

Schein oder Erscheinen des Sittlichen?

Hegels Analyse der Marktwirtschaft

  • Axel Honneth

Abstract

The article attempts to show that Hegel’s concept of “civil society” is characterised by a deep ambivalence regarding the value of the new market economy. On the one hand, Hegel believed that the economic system represented by “civil society” succeeded like no other in simultaneously giving free reign to the desires of individual subjects and integrating them into a stable structural framework (I). On the other hand, Hegel’s reflections are increasingly overtaken by doubts as to whether, in the light of its self-destructive tendencies, the market system can be as successful in guaranteeing individual freedom as he first envisaged it tobe (II). In the course of this essay, it will ultimately become clear that Hegel’s attempt to redefine “civil society” reveals considerably more conceptual indecision and inner conflict than one might have suspected from the great system builder.

Es gibt kaum ein Kapitel in der politischen Philosophie der Neuzeit, das zu stärkeren Veränderungen in der politischen Begriffsbildung und damit in der Wahrnehmung der modernen Gesellschaft geführt hat als der Abschnitt über die „bürgerliche Gesellschaft“ in Hegels Rechtsphilosophie. Bis zur Veröffentlichung dieser Schrift war es von Hobbes über Locke bis Kant üblich gewesen, als das „Bürgerliche“ oder das „civil“ an der sich seit dem 17. Jahrhundert immer schneller verändernden „Gesellschaft“ oder „society“ genau das zu verstehen, was schon die antiken Autoren darunter verstanden hatten: eine politische Vereinigung von wirtschaftlich unabhängigen, aller lästigen Arbeit enthobenen Bürgern, die gemeinsam gewillt sind, die Geschicke ihres Gemeinwesens autonom zu lenken. Dieser begrifflichen Vorstellung, die sich einer Übertragung der klassisch-politischen Kategorien der „polis“, der „koinonia politike“ oder der „societas civile“ auf neuzeitliche Verhältnisse verdankt, versetzt Hegel in seiner Rechtsphilosophie mit seiner vollkommen neuen Verwendung des Ausdrucks „bürgerliche Gesellschaft“ einen schweren, ja am Ende tödlichen Schlag; denn nun sollte, was „bürgerlich“ an der „Gesellschaft“ war, plötzlich nicht mehr die politische Tätigkeit der Staatsbürger sein, sondern geradezu umgekehrt die wirtschaftliche Aktivität all derer, die jeglichen politischen Zusammenhalts enthoben ausschließlich für ihre privaten Interessen tätig sind. [1] Damit gab es, wie Hegel sehr wohl wusste, von nun an zwei Kategorien von Bürgern, nämlich den, der in der neuen, marktvermittelten Wirtschaftssphäre aus Eigennutz tätig war, und den, der als politisches Subjekt mit Blick auf das Gemeinwohl in die Staatsgeschäfte einbezogen war – und immer wieder lässt er durchblicken, wie sehr er es bedauert, dass es im Deutschen nicht für beide Typen zwei unterschiedliche Begriffe gibt, wohingegen doch das Französische deutlich und richtig zwischen dem „bourgeois“ und dem „citoyen“ unterscheide. [2] Aber damit nicht genug, nicht nur waren dem Bürger jetzt zwei verschiedene Rollen zugewiesen, auch stand das, was bislang „bürgerliche Gesellschaft“ geheißen hatte, mit einem Mal der politischen Vereinigung der Staatsbürger scheinbar vollkommen unvermittelt gegenüber: Aus der klassisch-politischen Erbmasse der Zweiteilung der Gesellschaft in den arbeitenden Privathaushalt oder „oikos“ und die politische Bürgergesellschaft oder „polis“ war in der hegelschen Rechtsphilosophie unversehens eine Dreiteilung in „Familie“, „bürgerliche Gesellschaft“ und „Staat“ geworden – eine Zergliederung, die deutlich machen sollte, dass die Familie von nun an nicht mehr Ort der Arbeit, sondern des privaten, intimen Zusammenlebens sein würde, die Gesellschaft stattdessen alle erforderlichen Arbeiten ohne politische Vermittlung zu organisieren habe, und es daher die große Aufgabe des Staates sein musste, das harmonische Zusammenspiel zwischen den drei sich ergänzenden Sphären mittels seiner allgemein-rechtlichen Befugnisse zu garantieren. Durch diese Dreiteilung war die „bürgerliche Gesellschaft“, für Kant noch der Inbegriff einer Sphäre staatsbürgerlichen Handelns, [3] wie über Nacht zum Subsystem der privat organsierten Marktwirtschaft geworden.

An diese revolutionäre Begriffsschöpfung Hegels knüpft Marx rund ein Vierteljahrhundert später an, als er in seiner Schrift „Zur Judenfrage“ zum ersten Mal den Versuch unternimmt, eine Kritik an den gegebenen Sozialverhältnissen zu entwickeln. Ohne jeden Anklang an die ältere Terminologie wird hier mit der Kategorie der „bürgerlichen Gesellschaft“ ausschließlich nur noch die soziale Sphäre bezeichnet, in der es den Subjekten freigestellt ist, ihre rein individuellen Interessen im ökonomischen Austausch mit allen anderen, ebenso nutzenorientiert handelnden Subjekten zu verfolgen; und wie Hegel glaubt auch Marx, dass diesem Raum des rechtlich erlaubten Privategoismus in der Gegenwart ein politischer Staat gegenübersteht, der seinem ganzen Anspruch nach das Allgemeininteresse vertritt und damit einziger Statthalter des gemeinschaftlich Verbindenden unter den Gesellschaftsmitgliedern ist. [4] Allerdings ist diese Beschreibung auch schon alles, was Marx in seinem kurzen Aufsatz Hegel zugute hält; denn mit scharfen Worten wendet er gegen die „Rechtsphilosophie“ nun ein, dass sie den riesigen Fehler begehe, diese gegebene, richtig erfasste Trennung von „bürgerlicher Gesellschaft“ und „Staat“ normativ zu befürworten, ja, mehr noch, sie sogar mit den Weihen einer höheren Vernunft zu versehen. Zwei Gründe sind es, die Marx davon überzeugt sein lassen, Hegel tue falsch daran, die Trennung von wirtschaftlicher Sphäre und politischem Staat gutzuheißen: Erstens werde damit die individuelle Daseinsvorsorge nicht mehr als eine Aufgabe der sozialen Gemeinschaft begriffen, zweitens sei damit der Mensch in einen „unpolitischen“, bedürftigen und einen höheren, gemeinwohlorientierten Teil zerrissen, was seiner Natur als durch und durch soziales Wesen zutiefst widerspreche. [5]

Liest man diese schroffen Einwände gegen Hegel, so drängt sich allerdings schnell der Verdacht auf, Marx habe die Rechtsphilosophie gar nicht oder nur sehr oberflächlich gelesen; denn in seinem Kapitel über die „bürgerliche Gesellschaft“ unternimmt Hegel doch offensichtlich alles Erdenkliche, um ein solches Zerreißen gerade zu verhindern, indem er innerhalb der ökonomischen Sphäre des Marktes selbst noch einmal die Orientierung an einem vernünftig Allgemeinen sicherzustellen versucht. Im Unterschied zu Marx, der diese Pointe scheinbar gar nicht verstanden hat, will Hegel die Differenz zwischen wirtschaftlicher Interessenverfolgung und politischem Handeln zwar beibehalten, aber den Abstand zwischen beiden Sphären doch durch eine ethische Zivilisierung der ersteren so weit wie eben möglich verringern; und nicht daran, ob ihm dies in allen Details gelungen ist, sondern daran, ob er mit dem Vorschlag einer Vergemeinschaftung des Marktes von innen heraus den richtigen Weg eingeschlagen hat, bemisst sich heute wohl der Wert seiner Ausführungen zur „bürgerlichen Gesellschaft“. Allerdings werden wir bei dem Versuch, Hegels Argumente für seine Auffassung des Marktes zu rekonstruieren, auch schnell feststellen, dass er von sich aus erhebliche Zweifel daran besitzt, ob sein Konzept wirklich trägt; immer wieder scheint er sich in seinem Text selber ins Wort zu fallen, um vor der Idee zu warnen, die neue Wirtschaftsform strebe wie von alleine nach sittlicher Ordnung und Kohärenz; und diese Zweifel, diese Bedenken, die Hegel ungewollt zwischen Adam Smith und Marx geraten lassen, sind vielleicht mehr noch als seine Ausführungen zum eigenen Programm das Interessanteste und Aufregendste, was sein nicht langer Text uns heute zu bieten hat.

Damit ist umrissen, was ich im Folgenden zu leisten versuchen werde. In einem ersten Schritt möchte ich die Argumente zusammentragen, die Hegel damals bewogen haben, alle wirtschaftlichen Tätigkeiten in einer gesonderten, vom politischen Handeln getrennten Sphäre der bloß privaten Interessenverfolgung zu platzieren, die er mit dem neu verwendeten Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“ bezeichnet hat; nach seiner Überzeugung gelingt es dieser Wirtschaftsform wie keiner anderen, die Begehrlichkeiten jedes einzelnen Subjekts gleichzeitig freizulassen und doch in ein stabiles Ordnungsgefüge zu integrieren (I). In einem zweiten Schritt will ich dann die Gründe skizzieren, die Hegel in einer Art von Gegenbewegung zum ersten Gedanken veranlasst haben, dieser „bürgerlich“ genannten Wirtschaftssphäre dann doch zusätzlich einige weitere Organe der ethischen Selbstkontrolle überzustülpen; hier wird sich dann zeigen, dass Hegel noch im Laufe seiner Ausführungen ständig wieder von Zweifeln eingeholt wird, ob das ins Auge gefasste Programm einer Versittlichung des Marktes unter den gegebenen Bedingungen überhaupt hinreichend realistisch ist (II). Im Ganzen, so sollte schließlich zu sehen sein, offenbart Hegels Versuch einer Neubestimmung der „bürgerlichen Gesellschaft“ mehr an konzeptueller Unentschiedenheit und innerem Zwiespalt, als man es von dem großen Systematiker hätte erwarten dürfen.

1

Der erste Teil des dreigliedrigen Kapitels über die „bürgerliche Gesellschaft“ ist bekanntlich der Darstellung des „Systems der Bedürfnisse“ gewidmet. Bereits die Frage, warum Hegel diesen Titel zur Bezeichnung der neuen, hoch arbeitsteilig verfassten Marktwirtschaft herangezogen hat, ist gar nicht leicht zu beantworten; kürzer und schlagender wäre es sicherlich gewesen, einfach vom „Markt“ oder von der „Marktwirtschaft“ zu reden, zudem hätten derartige Begriffe der unübersehbaren Anlehnung an Smith viel deutlicher Ausdruck verliehen. [6] Dass Hegel stattdessen vom „System der Bedürfnisse“ spricht und damit eine gänzlich unorthodoxe Kategorie heranzieht, mag daher Gründe haben, die bereits einen ersten Hinweis darauf geben, was er der Marktwirtschaft zunächst einmal gegenüber anderen Wirtschaftsformen zugutehält. Einer der Vorzüge, die diese neue Produktionsweise aus Hegels Sicht besitzt, muss angesichts des Titels, den er für sie wählt, damit zu tun haben, was sie mit den menschlichen Bedürfnissen anstellt, indem sie sie in eine gewisse Ordnung, eben in ein „System“ bringt. Und tatsächlich werden wir im Folgenden sehen, dass sich fast alles, was Hegel an Gutem und Lobendem über die Marktwirtschaft zu sagen hat, aus den Formierungszwängen ergibt, die sie den Bedürfnissen des aus der Familie entlassenen Privatsubjekts auferlegt.

Allerdings beginnt Hegel sein Kapitel über die „bürgerliche Gesellschaft“ in der kurzen Einleitung, die er seiner Darstellung des „Systems der Bedürfnisse“ vorausschickt, zunächst so, als wolle er das Gegenteil des soeben Behaupteten andeuten. Dort heißt es im § 182 dem Sinn gemäß, [7] dass in dem neuen Wirtschaftssystem die „konkrete Person“ zu ihrem Recht gelange, weil es ihr darin fortan erlaubt sei, sich in ihrem „besonderen Zweck“, der aus einem „Ganzen von Bedürfnissen“ bestehe, zu verwirklichen; und einige Paragraphen weiter scheint Hegel diesen Gedanken noch unterstreichen zu wollen, wenn er sagt, der Unterschied der ökonomischen Verfassung der „bürgerlichen Gesellschaft“ zu älteren Wirtschaftsordnungen bestehe maßgeblich darin, dass sich hier die „unendliche(n) Persönlichkeit des Einzelnen“ frei entfalten könne, womit dem neuzeitlichen Prinzip der „subjektiven Freiheit“ endlich Rechnung getragen würde (§ 185). Unwillkürlich glaubt man sich bei solchen Formulierungen natürlich an Adam Smith erinnert, der in The Wealth of Nations festgestellt hatte, die enorme Produktivität der arbeitsteilig verfassten Marktwirtschaft verdanke sich vor allem dem Umstand, dass jeder Beteiligte aus purem Eigennutz heraus handele; der Begriff der „self-love“, mit dem Smith ebenfalls das Motiv bezeichnet, das die wirtschaftliche Tätigkeit des Einzelnen in der neuen Wirtschaftsform antreibt, [8] scheint auf den ersten Blick exakt dem zu gleichen, was Hegel meint, wenn er mit Blick auf die „bürgerliche Gesellschaft“ behauptet, hier fände fortan das Subjekt mit seinen nur ihm eigenen Bedürfnissen im wirtschaftlichen Handeln ungezwungen Raum zur Selbstentfaltung. Nach einer solchen Lesart wäre die „konkrete Person“, von der bei Hegel mit Bezug auf die Beteiligten an den wirtschaftlichen Tausch- und Arbeitsprozessen die Rede ist, mit dem „Selbst“ identisch, das Smith vor Augen hat, wenn er von den neuen, nur noch selbstinteressiert handelnden Wirtschaftsbürgern spricht.

Aber dies ist weit gefehlt. Im Unterschied zu Smith glaubt Hegel nicht, dass der Bürger in der Rolle des „Bourgeois“ einfach nur aus rohem Selbstinteresse heraus handelt; vielmehr geht er davon aus, dass die individuelle Orientierung am Eigennutz unter dem formierenden Druck des Marktes selbst bereits eine Prägung erfährt, die sie in Richtung einer stärkeren Berücksichtigung des Allgemeinwohls lenkt. Die Differenz zwischen Smith und Hegel ist an diesem Punkt zwar nur geringfügig, aber im Ganzen doch entscheidend: Während der britische Philosoph annimmt, es sei das Wunderwerk des Marktes, durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage das eigennützige Streben der wirtschaftenden Subjekte derart aufeinander abzustimmen, dass alle einen ökonomischen Vorteil davontragen, schreibt Hegel demselben Wunderwerk zunächst vor allem eine erzieherische Funktion zu; für ihn ist der Markt nicht einfach nur ein Mechanismus der Koordinierung interessegeleiteten Handelns, sondern auch und zuvörderst eine Instanz der Sozialisation, die diese Interessen selbst verwandelt und sie in ein System sich wechselseitig ergänzender Bedürfnisse umformt. [9] In dem Schritt, den Hegel damit über Smith hinausgeht, liegt der wesentliche Grund für die Wertschätzung, die er der Marktwirtschaft zunächst einmal entgegenbringt.

Schon in dem bereits kurz erwähnten Vorspann, in dem Hegel in wenigen Paragraphen vorausschauend erklärt, dass in der neuen Wirtschaftsform endlich die „konkrete Person“ in ihrer Besonderheit ein Existenzrecht erhalten wird, macht er auch deutlich, warum diese Besonderheit nicht einfach nur im je individuell erwogenen Eigennutz bestehen kann; über das hinaus, was wir schon kennengelernt haben, sagt er dort nämlich zugleich, das ökonomisch handelnde Individuum sei in der Verwirklichung seiner „selbstsüchtige[n] Zweck[e]“ derart auf ein „System allseitiger Abhängigkeit“ angewiesen, dass es sie überhaupt nur mittels dessen „geltend mach[en] und befriedig[en]“ könne (§§ 182/183). Gewiss, hier ist nicht – wie auch sonst keinmal in der „Rechtsphilosophie“ – ausdrücklich vom „Markt“ die Rede, aber mit dem „System allseitiger Abhängigkeit“ ist nichts anderes gemeint als jener Ort des Zusammentreffens von Angebot und Nachfrage, von dem Smith glaubte, er werde erforderlich, sobald die einsetzende Arbeitsteilung die Menschen zwinge, ihre individuell produzierten Güter untereinander auszutauschen; was Hegel also meint, wenn er davon spricht, die selbstsüchtigen Zwecke der Subjekte könnten nur „mittels“ eines „Systems der allseitigen Abhängigkeit“ befriedigt werden, lautet in die Sprache von Smith zurückübersetzt, dass sie ihre je besonderen Bedürfnisse erst den verallgemeinernden Zwängen des Marktes angepasst haben müssen, bevor sie diese tatsächlich verwirklichen können. Die erzieherischen Effekte, die mit einer solchen Anpassung für die privaten, aus der Familie entlassenen Personen verknüpft sind, erläutert Hegel in seinem Kapitel über „Das System der Bedürfnisse“; es unterteilt diese sozialisatorischen Wirkungen des Marktes nach den zwei Seiten einerseits des Konsumenten, andererseits des Produzenten hin.

Der Grund, aus dem heraus Hegel glaubt, er müsse zwei Seiten an der erzieherischen Funktion des Marktes unterscheiden, ergibt sich schlicht daraus, dass er den Wirtschaftsbürger sowohl in der Rolle des Verkäufers als auch des Käufers eines Produkts sieht; in der ersten Rolle ist er für ihn – etwas fragwürdig, wie wir noch sehen werden – „Produzent“, in der zweiten Rolle „Konsument“ einer Ware; und je nachdem nun, ob das Subjekt ein Mittel zur Bedürfnisbefriedung am Markt erwirbt oder es dafür produziert, erfährt es Hegel zufolge etwas anderes, aber in beiden Fällen ihm bislang Unbekanntes über sich und die soziale Welt (§ 189). Der Übersichtlichkeit halber will ich an diesen beiden Wegen, auf denen der Marktteilnehmer zu einem Wandel in seinen Einstellungen und damit zu einer Neuformierung seiner Bedürfnisse gezwungen wird, nur jeweils zwei erzieherische Wirkungen unterscheiden, obwohl sich bei genauester Lektüre wohl noch mehr davon in den dichtgedrängten Ausführungen von Hegel finden lassen. [10]

Wenden wir uns zunächst der Rolle des Konsumenten zu, so glaubt Hegel erstens, dieser werde dadurch, dass er zu erwägen hat, welche Güter er am Markt zu erwerben wünscht, zu einer reflexiven Bestimmung und Differenzierung seiner eigenen Bedürfnisse angehalten; er muss nicht nur lernen, für sich selbst zu entscheiden, was er aus dem jeweiligen Angebot tatsächlich begehrt, muss nicht nur lernen, dem Gewünschten die Form der „Verständlichkeit“ (§ 187) zu geben, um es anderen gegenüber überhaupt artikulieren zu können, sondern muss schließlich auch lernen, seine Begehrlichkeiten nach Prioritäten zu ordnen, um bei beschränkten Mitteln Präferenzen beim Kauf bilden zu können. Dieser Prozess der „Vergeistigung“ und „Vervielfältigung“ der Bedürfnisse, den Hegel durch die Teilnahme an der Konsumsphäre in Gang gesetzt sieht, wird nach seiner Überzeugung noch dadurch weiter angetrieben, dass er dem Spiel von „Nachahmung“ und sozialer Distinktion unterliegt: Beim Erwerb von Gütern will man es einerseits allen Marktteilnehmern gleichtun und deren Vorlieben möglichst genau imitieren, andererseits aber auch wieder, so heißt es in unerkennbarer Anlehnung an Rousseau, [11] sich durch „Auszeichnung geltend“ machen und also durch einen besonders erlesenen Geschmack hervortun (§ 193). Das Hin- und Hergerissensein zwischen der Neigung, die anderen nachzuahmen, und dem Wunsch, sich von ihnen doch zu unterscheiden, macht den Konsumenten, so wie Hegel es sieht, mit der ganzen Spannweite seiner Gefühlswelt vertraut. Im Ganzen verlangt daher die Rolle eines Konsumenten dem einzelnen Individuum ab, sich immer tiefer in sich „hineinzubilden“, weil man am Gütermarkt zu lernen hat, „gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens“ (§ 187) anzukämpfen, um seinen Bedürfnissen eine vernünftig geordnete und allgemeine, jedem verständliche Form geben zu können.

Schlägt Hegel schon mit dieser ersten These einen ungewöhnlichen Weg ein, werden darin doch am modernen Konsumverhalten nicht die schädlichen, sondern die erzieherischen Wirkungen hervorgekehrt, so ist seine zweite These bezüglich der Erfahrungen, die der Konsument zu machen hat, noch um einiges erstaunlicher. Gleich im ersten Paragraphen des Unterkapitels, das sich mit dem Erwerb von Gütern beschäftigt, behauptet Hegel nämlich, dass der Markt dem Kunden abverlangt, im anderen Subjekt nicht mehr den Repräsentanten einer spezifischen Rolle oder einer besonderen Kultur zu erblicken, sondern nur den „Menschen“ als solchen: „[A]uf dem Standpunkt der Bedürfnisse […] ist es [hier: das Gegenüber] das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt; es ist also erst hier und eigentlich auch nur hier vom Menschen in diesem Sinn die Rede“ (§ 190, Hervorh. im Orig.). Wie schon in der ersten These, so scheint Hegel auch hier eine zu seiner Zeit bereits gängige Vorstellung einfach nur umdrehen zu wollen: Anstatt die Konsumsphäre, wie damals weit verbreitet, als einen Ort zu beschreiben, an dem vor allem Ungleichheit erfahren wird, weil die Konsumenten über unterschiedliche Kaufkraft verfügen, stellt er sie als eine Stätte dar, an der uns zunächst und vor allem etwas allen Menschen Gemeinsames und Verbindendes zugänglich wird. Das Argument für diese überraschende These muss lauten, dass uns die Einstellung, die wir anderen gegenüber einnehmen müssen, sobald wir mit ihnen am Markt Güter austauschen, darüber belehrt, wie sehr sie uns aller kulturellen und sozialen Unterschiede zum Trotz darin gleichen, auch nur begierige, um die Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse besorgte Lebewesen zu sein [12] –wobei es in diesem Zusammenhang hilfreich sein mag, sich klarzumachen, dass zu Hegels Lebzeiten die Kaufentscheidungen des durchschnittlichen Konsumenten vor allem lebenswichtige Güter betrafen. Auf jeden Fall scheint Hegel anzunehmen, dass es unter den verschiedenen sozialen Lebensbereichen nur die Konsumsphäre ist, die die Gesellschaftsmitglieder in einer Weise vereint, die ihnen die Gleichheit ihrer natürlichen Beschaffenheit als bedürftige Wesen vor Augen führt: Die Familie kann zu dieser Einsicht nicht verhelfen, weil hier die Veranschaulichung unserer Kreatürlichkeit an den engen Kreis der Familienmitglieder und Anverwandten gebunden bleibt, und die staatsbürgerliche Sphäre kann diese Einsicht nicht vermitteln, weil sich hier die Subjekte unter strikter Absehung von ihren natürlichen Belangen und Begehrlichkeiten begegnen, so dass sie ihrer gemeinsamen Bedürftigkeit gar nicht mehr ansichtig werden können.

Schreibt Hegel also der Konsumtion von Waren zwei vergesellschaftende Funktionen zu, so tut er dasselbe nun auch, wie erwähnt, mit Blick auf die Produktion von Verkaufsgütern. In den wenigen Paragraphen, die er diesem Thema in seiner Rechtsphilosophie widmet, bleibt allerdings stärker als im ersten Fall offen, ob die erzieherischen Effekte tatsächlich dem Markt oder nicht vielmehr der Tätigkeit der Arbeit als solcher entspringen sollen. Einige der hier angeführten Bildungsmomente scheinen eher mit dem Vollzug des Arbeitens überhaupt zu tun zu haben, wie etwa die Gewöhnung an eine dauerhafte Beschäftigung und die damit einhergehende Selbstdisziplinierung; andere wiederum ergeben sich für Hegel offensichtlich erst dann, wenn die Tätigkeit auf die Produktion von verkäuflichen Gütern gerichtet ist und damit die Vorausberechnung einer ökonomischen Nachfrage verlangt. Ist es das Letztere, also die warenproduzierende Tätigkeit, so sind es erneut mindestens zwei positive Wirkungen, die Hegel dem Markt zugute hält: Der Produzent von marktgängigen Gütern muss erstens die technischen Fertigkeiten und Kenntnisse erlernen, die erforderlich sind, um einen Gegenstand so zu bearbeiten und zu formen, dass er in seiner endgültigen Gestalt bereits bestehende Bedürfnisse anspricht und damit auf dem Markt eine hinreichend große Nachfrage erzeugt. Der Mechanismus, mit dem der Markt hier erzieherisch wirksam ist, besteht für Hegel mithin darin, dass dem Arbeitenden die Fähigkeit abverlangt wird, seine Tätigkeit nicht nur an „der Natur des Materials“, sondern „vornehmlich“ an „der Willkür anderer“ auszurichten (§ 200); denn Güter für einen anonymen Markt anstatt für den unmittelbaren Bedarf konkreter Anderer zu erzeugen erfordert, sich in die potenziellen Bedürfnisse verschiedenster Marktteilnehmer hineinversetzen zu können, weil es ja am Ende deren Nachfrage sein wird, an der sich die Verkäuflichkeit des fertigen Produkts bemisst. Es ist dieser Zwang, die zukünftigen Begehrlichkeiten unbekannter Anderer zu antizipieren, der Hegel zufolge den Produzenten dazu anhält, sich gedanklich in ein geordnetes „System der Bedürfnisse“ hineinzuversetzen und sich ihm in seiner Tätigkeit zu fügen. Damit aber nicht genug, glaubt Hegel noch einen zweiten Mechanismus ausmachen zu können, durch den der Markt zur Brechung der „subjektive(n) Selbstsucht“ des Produzenten beiträgt und ihm die Perspektive eines verallgemeinerten Anderen aufnötigt: Je weiter nämlich der wirtschaftliche Wettbewerb die Arbeitsteilung vorantreibt, desto stärker muss der Arbeitende lernen, sich auf nur eine Tätigkeit im Netzwerk der sich komplementär ergänzenden Verrichtungen zu konzentrieren, um derart seinen individuellen „Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen“ (§ 199) zu leisten. Das Argument, das Hegel hier heranzieht, um die erzieherische Wirkung des Marktes zu belegen, lautet also, dass die wachsende Arbeitsteilung dem Produzenten abverlangt, seine Begabungen und Fähigkeiten so zu bündeln und zu konzentrieren, dass sie in ein gesellschaftliches Schema aufeinander abgestimmter Tätigkeiten passen.

Damit haben wir die vier Gründe kennengelernt, die Hegel bis hierher davon überzeugt sein lassen, der Markt formiere aus eigener erzieherischer Kraft die Einstellungen und Bedürfnisse seiner Teilnehmer so, dass sie sich in ein wohlgeordnetes System einfügen; nicht mit purer Selbstsucht, nicht mit jenem Egoismus, den Smith „self-love“ nannte, sind die Subjekte nach seiner Überzeugung in der neuen Wirtschaftsordnung ausgestattet, sondern mit sozial förderlichen, wohlmeinenden Interessen, zu deren Formierung der Markt mit Hilfe seiner pädagogischen Instrumente selbst Sorge getragen hat. Ziehen wir also ein vorläufiges Resümee, so scheint Hegel vor allem deswegen für den Markt eingenommen zu sein, weil diesem das einzigartige Kunststück gelingt, die individuellen Begehrlichkeiten gleichzeitig freizulassen und doch in ein gesellschaftlich stimmiges Gefüge einzupassen; herrschen in anderen Wirtschaftssystemen entweder nur ordnender Zwang oder wildwuchernde Privatinteressen, so vermag ihm zufolge allein die Marktwirtschaft, beides miteinander zu versöhnen und in Eintracht bestehen zu lassen. Aber warum macht er sich dann im dritten Abschnitt seines Kapitels überhaupt daran, diesem scheinbar gut funktionierendem „System der Bedürfnisse“ zusätzliche Erziehungseinrichtungen und Kontrollinstanzen überzustülpen? Warum bedarf es ergänzend einer Gewerbeaufsicht und der Korporationen, wenn der Markt doch aus eigener Kraft das private Wirtschaften schon hinreichend zu vergesellschaften weiß? Was wir bislang kennengelernt haben, kann offenbar nicht die ganze Wahrheit der hegelschen Sicht des Marktes sein; aber die Gründe, die er hat, diese Sicht nachträglich zu korrigieren, verraten mehr an theoretischer Unentschlossenheit und innerem Zwiespalt, als man es vom Systematiker Hegel gewohnt ist.

2

Dass Hegel sich im dritten Teil seiner Darstellung der „bürgerlichen Gesellschaft“ überhaupt dazu veranlasst sieht, dem Markt einige weitere kontrollierende oder erzieherische Institutionen aufzuerlegen, hängt zunächst damit zusammen, dass er dem reibungslosen Funktionieren des von ihm selbst dargelegten „Systems der Bedürfnisse“ nicht ganz traut. Würde dieses die ihm zugedachte Aufgabe wie vorgesehen erfüllen und darin zusätzlich von der administrativen „Rechtspflege“ unterstützt, die Hegel anschließend vorstellt (§§ 209–229), so gäbe es aus einer Sicht wohl kaum die Gefahr von dauerhaften Friktionen innerhalb der neuen Wirtschaftsordnung: Die Marktteilnehmer würden sich in ihren vielfältigen Transaktionen weitgehend auf die Verfolgung von Interessen beschränken, die in das von ihnen allen zwangsläufig stets mitgedachte Schema wechselseitiger Abhängigkeiten passen, ihre produktiven Tätigkeiten und ihre konsumtiven Aktivitäten wären dank dieses weisen Mechanismus hinreichend aufeinander abgestimmt, und wo der Mechanismus doch einmal versagen würde und Armut oder Not hervorbrächte, hielte sie das Rechtssystem dazu an, die natürliche Bedürftigkeit aller im Auge zu behalten und ein „Notrecht“ walten zu lassen (§ 127). [13] Aber bereits während seiner Darlegung des „Systems der Bedürfnisse“ gibt Hegel immer wieder zu erkennen, dass er selbst Zweifel hat, ob das ganze schöne Wunderwerk tatsächlich so ungehindert und spielerisch funktioniert, wie er es gerade dabei ist auszumalen. So heißt es in § 185, ein wenig unerwartet nach allem, was wir bislang gehört haben, „die bürgerliche Gesellschaft biet[e] in“ all ihren Gegensätzen „das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinsamen physischen und sittlichen Verderbens“; und in § 195 ist zu lesen, wiederum überraschend vor dem Hintergrund des ansonsten hier demonstrierten Optimismus, „die Besonderheit der Zwecke“ bliebe in der bürgerlichen Gesellschaft doch „der zugrunde liegende Inhalt“, weswegen „die unbestimmte Vervielfältigung und Spezifizierung der Bedürfnisse, Mittel und Genüsse […] keine Grenze“ habe und daher leicht „in eine ebenso unendliche Vermehrung der Abhängigkeit und Not“ umschlagen könne. Solche Stellen geben deutlich zu erkennen, dass Hegels „System der Bedürfnisse“ auch und immer wieder ein Dokument der inneren Zerrissenheit seines Autors ist: Einerseits möchte er gerne glauben, der Markt besitze genügend erzieherische Kraft, um die „individuelle Selbstsucht“ zu zähmen und in ein Gehäuse miteinander harmonisierender Interessen zu integrieren, andererseits aber ahnt er gleichzeitig auch, dass die privaten Begehrlichkeiten jederzeit wieder überhand nehmen und das ihnen auferlegte Korsett durchbrechen können.

Aber, wohlgemerkt: An keiner Stelle ist in diesem Kontext schon von irgendwelchen systemischen Krisen des Marktes die Rede, weder von Tendenzen zur Überproduktion noch von einer ständigen Gefahr der Unterbeschäftigung; das einzige, was Hegel bis hierher Anlass zur Beunruhigung gibt, sind psychologische Eventualitäten, wie sie sich dann ergeben können, wenn die individuellen Bedürfnisse doch einmal die gewohnte Haftung an das Allgemeininteresse verlieren und daher wild in alle erdenklichen Richtungen zu wuchern beginnen. Erst einige Dutzend Paragraphen später hat sich Hegels Bild des Marktes plötzlich erheblich verdüstert; denn nun, mit dem Übergang zur „Polizey“ und zu den „Korporationen“, sind aus den psychologischen Zufällen des ersten Kapitels mit einem Male die autochthonen Ursachen für ein stets wiederkehrendes Versagen des Marktes geworden. Woher dieser unerwartete Einstellungswandel bei Hegel resultiert, ist genauso wenig auszumachen wie die Gründe dafür, dass er das „System der Bedürfnisse“ entgegen dem affirmativen Ton der Präsentation dann doch mit Zweifeln übersät; nicht nur dieser erste Abschnitt des Kapitels über die „bürgerliche Gesellschaft“, sondern auch das Verhältnis, in dem die drei Kapitel zueinander stehen, verraten einen Zwiespalt und eine Unentschiedenheit in der Urteilsfindung, die für Hegel gänzlich untypisch sind; ihn, der ansonsten mit seiner Meinung nicht lang zurückhält und schnell zu einem festen Urteil über die verwickelsten Sachverhalte gelangt, scheint angesichts des Marktes der Mut zur beherzten Stellungnahme verlassen zu haben. Auf jeden Fall finden sich erst, sobald Hegel zur Behandlung von „Polizey“ und „Korporationen“ übergeht, zum ersten Mal überhaupt Hinweise darauf, dass er das „System der Bedürfnisse“ nicht nur gelegentlich, sondern strukturell in Gefahr sieht, in seiner ordnungsstiftenden Kraft zu versagen.

Schon mit dem ersten Satz des neuen Kapitels wird all das, was zuvor über die erzieherische Leistung des Marktes behauptet wurde, plötzlich ins Konditionale versetzt: Das „System der Bedürfnisse“, so heißt es dort, schaffe nur die Möglichkeit, „die Subsistenz und das Wohl jedes Einzelnen“ zu sichern, deren Verwirklichung hänge aber wesentlich davon ab, dass die „Zufälligkeiten“ der individuellen „Willkür“ und der „natürlichen Besonderheit“ tatsächlich „aufgehoben seien“ (§ 230). Der Satz mag anfänglich noch ganz harmlos klingen, wird scheinbar doch nur daran erinnert, dass die privaten Strebungen gelegentlich die ihnen vom Markt auferlegten Fesseln sprengen können und daher Zweifel an dessen durchgreifender Macht angebracht seien; aber je weiter Hegel nun in seinen Ausführungen fortfährt, desto deutlicher wird auch, dass er den Begriff der „Möglichkeit“ hier gar nicht mehr im zeitlichen Sinn des gelegentlichen oder zufälligen Vorkommens verwendet, sondern im logischen Sinn des mangelhaften Zustands einer bloßen Potenzialität, die zu ihrer Verwirklichung erst eines Hinzutretenden bedarf. Der Unterschied, der damit angezeigt wird, ist erheblich, denn er gibt zu erkennen, dass sich Hegels Einschätzung des Marktes oder des „Systems der Bedürfnisse“ zwischen dem ersten und dem dritten Abschnitt drastisch gewandelt hat: Hieß es am Anfang noch, das Ordnungsgefüge des Markte sei gegen gelegentliche Entgleisungen nicht gefeit, weil sich die individuelle Selbstsucht immer wieder einmal Bahn brechen könne, so heißt es jetzt, der Markt biete nur die pure Möglichkeit eines solchen Ordnungsgefüges, da er doch zu dessen Realisierung erst noch der Beihilfe ihm äußerlicher Kräfte benötige. Mit diesem Wandel im Bild des Marktes hat sich gleichzeitig auch verändert, was Hegel zum Hervortreten der privaten Selbstsucht zu sagen hat: Diese verschafft sich nun nicht mehr nur „gelegentlich“ oder „zufällig“ Geltung, sondern wird zum bösartigen Keim einer ganzen Tendenz, ja sogar zur gesetzmäßigen Erscheinung, die den Markt dauerhaft in Krisen versetzt – im Grunde genommen ist damit inzwischen aus dem Markt, der ursprüngliche eine ordnungsstiftende Macht sein sollte, eine Quelle der permanenten Unordnung geworden. So kommt es dann, dass Hegel im dritten Abschnitt seines Kapitels über die „bürgerliche Gesellschaft“ mit einem Mal wie selbstverständlich davon spricht, zwei weitere erzieherische Einrichtungen seien nötig, um den Markt zu der sittlichen Ordnung zu verhelfen, die er von alleine nicht zustande bringt. Erstaunlich an dieser Wendung ist aber nicht nur, dass es im „System der Bedürfnisse“ noch so klang, als sei der Markt keiner weiteren regulierenden oder besänftigenden Instrumente bedürftig; genauso erstaunlich ist es vielmehr, dass Hegel jetzt für genau die beiden gleichen Sphären des Konsums und der Produktion, denen er zuvor noch mit kleinen Abstrichen ihre Funktionsfähigkeit bescheinigt hat, glaubt zeigen zu können, sie litten unter endemisch verursachten, stets wiederkehrenden Missständen, die der Kur und Therapie bedürften.

Um das Endemische an diesen Missständen erklären zu können, muss Hegel sich im Folgenden weitgehend derselben psychologischen Sprache bedienen, die er zuvor schon zur Beschreibung der gelegentlichen Ausbrüche aus der vom Markt geschaffenen Ordnung verwendet hatte; täte er dies nämlich nicht, so könnte leicht der Eindruck entstehen, er redete gar nicht mehr von demselben Gegenstand, wenn er nun behauptet, der Markt besitze eine strukturelle Anfälligkeit für Krisen und Verwerfungen. Das hat für die Erklärung, die Hegel liefern möchte, zur Folge, dass er all dieses Versagen des Marktes letztlich auf eine dauerhafte, nicht mehr nur zufällige Verselbstständigung der privaten Selbstsucht gegenüber dem sie einrahmenden Ordnungsgefüge zurückführen muss; und tatsächlich versucht er dies nun auch hintereinander erst wieder für den Sektor des gesellschaftlichen Konsums, dann für den der gesellschaftlichen Produktion zu tun.

An der Sphäre des Konsums, die die „Mittel“ zur „Befriedigung“ der sich differenzierenden Bedürfnisse der Bevölkerung herbeischafft und in Umlauf versetzt (§ 235), hebt Hegel zunächst hervor, dass die „verschiedenen Interessen der Konsumenten und Produzenten“ hier deswegen schnell „in Kollision miteinander“ geraten können, weil das „Interesse“ sich gerne „blind in den selbstsüchtigen Zweck vertieft“ (§ 236); wo im „System der Bedürfnisse“ noch eine relativ stabile Harmonie zwischen den individuellen Käufern und den privaten Produzenten zu herrschen schien, weil der Markt die Beteiligten dazu anhielt, wechselseitig die Erwartungen des jeweils anderen zu berücksichtigen, walten nun nur noch Disharmonie und Unordnung, da beide Seiten dazu neigen, sich auf ihre je eigenen Ziele zu versteifen – die Konsumenten entwickeln luxurierende Bedürfnisse, die der Produzent nicht antizipieren konnte, dieser wiederum erzeugt im Interesse am schnellen Gewinn Güter, für die keinerlei Nachfrage besteht. Genügt diese Entzweiung beider Interessengruppen schon, um „gefährliche[] Zuckungen“ (§ 236) innerhalb der Konsumsphäre hervorzurufen, so tritt nach Hegels Überzeugung erschwerend hinzu, dass die individuelle Verfügung über die erforderliche Kaufkraft von den kaum zu kontrollierenden „Bedingungen der Geschicklichkeit, Gesundheit, [des] Kapital[s]“ (§ 237) abhängig ist; je nachdem, wie viel davon der Konsument oder die Konsumentin besitzt, werden sie aus der Masse der für den Markt verfertigten Waren höchst unterschiedliche Mengen erwerben können, so dass sich hier schnell eine empörende Ungleichheit in der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern breit machen kann. An dieser Stelle, also zunächst noch in seiner Behandlung der Konsumsphäre, kommt Hegel nun zum ersten Mal auf den „Pöbel“ zu sprechen, mit dem sein Bild des Marktes endgültig jede verheißungsvolle Färbung verliert und sich ins Tiefschwarze verkehrt: Nähme aufgrund von „zufällige[n], physische[n] und in den äußeren Verhältnissen […] liegende[n] Umstände[n]“ (§ 241), so heißt es zunächst, in einer sozialen Gruppe die Unterversorgung mit lebenswichtigen Gütern so stark zu, dass sich unter ihren Mitgliedern aufgrund der bitteren Not zugleich sittliche Verwahrlosung und Rechtlosigkeit breitmache (§ 244), so müsse von der Existenz eines „Pöbels“ gesprochen werden. Hegel räumt aber nicht nur sofort ein, dass die niederen Gesinnungen dieser Armutsschicht einem „Gefühl“ des erlittenen „Unrechts“ entspringen (§ 241), sondern gibt auch zu erkennen, dass er nicht glaubt, die Ursachen für deren Lage allein in der Konsumsphäre ausfindig machen zu können. Nicht zufällige Schwankungen in der Versorgung mit subsistenzsichernden Gütern, nicht „äußere“ Vorkommnisse wie Erkrankung und Ungeschicklichkeit, so deutet er an, können dafür verantwortlich sein, dass eine „große Masse“ dauerhaft „unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise“ herabgedrückt wird (§ 244); vielmehr ist es der dauerhafte Entzug der „natürlichen Erwerbsmittel“, also das unverdiente Versetzen in langfristige Arbeitslosigkeit, so heißt es in Paragraph 241, die verursachen, dass eine soziale Gruppe dem Schicksal von Armut und sittlichem Verfall ausgeliefert wird. Noch während er dabei ist, der „Polizey“ die Aufgabe einer Gewerbeaufsicht zuzuweisen, die Missstimmungen und Zusammenstöße zwischen Produzenten und Konsumenten verhindern soll, muss Hegel daher auf das strukturelle Versagen des kapitalistischen Arbeitsmarktes zu sprechen kommen.

Auch für diese zweite endemische Krise des Marktes unternimmt Hegel allerdings zunächst wieder den Versuch, eine nur psychologische Erklärung beizubringen; man kann ihn förmlich dabei beobachten, wie er händeringend darum bemüht ist, die regelmäßige Erzeugung einer Schicht pauperisierter Arbeitsloser erneut auf das Überhandnehmen privategoistischer, selbstsüchtiger Motive zurückzuführen. So spricht er noch in Paragraph 237, also kurz, bevor er zum ersten Mal den „Pöbel“ erwähnt, davon, dass die „Möglichkeit der Teilnahme an dem allgemeinen Vermögen“ von der „subjektiven Seite“ her durch „Zufälligkeiten“ bedroht ist; und damit kann hier doch umgekehrt wieder nur gemeint sein, dass die individuelle Teilhabe an dem gemeinschaftlich erzeugten Wohlstand von der Bereitschaft jedes Einzelnen abhängt, sich dem im „System der Bedürfnisse“ dargelegten Schema wechselseitiger Abhängigkeiten zu fügen und daraus nicht durch das Kaprizieren auf nur selbstsüchtige Zwecke auszubrechen. Dementsprechend heißt es dann auch einige Paragraphen später, die Anhäufung des Reichtums in nur wenige Hände und damit die Schlechterstellung der restlichen Bevölkerung verdanke sich primär dem Antrieb, aus der wachsenden Nachfrage nach sich immer weiter differenzierenden Gütern „Gewinn zu ziehen“ und mithin eine günstige Gelegenheit für nur egoistische Ziele zu nutzen (§ 243). Allerdings kommt Hegel in demselben Paragraphen, in dem er dieses Motiv der Profitgier erwähnt, auch schon auf eine Ursache der sozialen Deklassierung und Verelendung zu sprechen, die beim besten Willen nicht mehr in psychologischen oder mentalen Begriffen wiederzugeben ist; als den zweiten, die individuelle Selbstsucht ergänzenden Beweggrund für den Prozess, der den Arbeitsmarkt aus den Fugen geraten lässt, nennt Hegel hier nämlich die zunehmende „Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit“, durch die die große Masse der Bevölkerung ihren täglichen Lebensunterhalt verdient (§ 243). Auf die fortschreitende Mechanisierung der Arbeit hatte Hegel schon in seinem „System der Bedürfnisse“ kurz einmal verwiesen, dort aber mit dem optimistisch klingenden Zusatz versehen, dadurch könne „der Mensch“ „am Ende“ von der Arbeit „wegtreten und an seine Stelle die Maschine eintreten lassen“ (§ 198); hier aber, in dem neuen Kontext, bezieht er sich auf denselben Prozess nur noch negativ, indem er ihn als die wesentliche Ursache dafür benennt, dass ein immer größer werdende Anteil der arbeitenden Bevölkerung bald arbeitslos werden könne und damit der Gefahr der Verelendung ausgesetzt wäre.

Wie, als sei mit dieser Bemerkung der Bann des Psychologismus gebrochen, schaltet Hegel in seiner Diagnose ab jetzt von einer mentalistischen auf eine nahezu systemtheoretische Terminologie um: Die Tendenz zur Erzeugung von Armut und Verwahrlosung, die er dem Markt bescheinigt, wird nicht länger als Ausfluss einer Verselbstständigung privategoistischer Zwecke, sondern als Ergebnis eines inneren Widerspruchs der neuen, auf Kapitalgewinn beruhenden Wirtschaftsordnung beschrieben. Auf der einen Seite, so lesen wir im zentralen Paragraphen 245, versetzt die fortschreitende Mechanisierung der Produktionsabläufe immer mehr Erwerbstätige in dauernde Arbeitslosigkeit und damit in elendeste Not, auf der anderen Seite aber erzwingt derselbe Prozess gleichzeitig eine Drosselung der Produktion und damit einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit, weil aufgrund der gewachsenen Armut die Nachfrage immer geringer zu werden droht. Für diesen Teufelskreis zwischen Unterkonsumtion und Überproduktion findet Hegel am Ende desselben Paragraphen eine schlagende, wenn auch große Ratlosigkeit verratende Formulierung: „Es kommt hierin zum Vorschein, dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern“ (§ 245, Hervorh. im Orig.).

Alles, was diesem frappierenden Satz in den anschließenden Paragraphen folgt, ist dann eigentlich nur noch Makulatur. Man kennt hinlänglich die Stellen, an denen Hegel darüber sinniert, ob nicht der Gefahr der Überproduktion durch die koloniale Eroberung überseeischer Märkte abzuhelfen sei (§ 248); man weiß auch, dass er in dem letzten Abschnitt seines Kapitels zur „bürgerlichen Gesellschaft“ die Einrichtung von „Korporationen“ empfiehlt, die der Gefahr begegnen sollen, dass die schrumpfende Arbeiterschaft selbst noch von Prozessen des wachsenden Verschleißes, der zunehmenden Isolation und der sozialen Degradierung erfasst wird (§§ 251–256). Aber nichts vermögen all diese Mittel der Abwehr von weiteren Schäden an den Grundfesten der „bürgerlichen Gesellschaft“ gegen die Wucht des Widerspruchs auszurichten, den Hegel zuvor so lapidar behauptet hatte: dass diese nämlich nie reich genug sein würde, um der von ihr selbst erzeugten Not der verarmten Massen je Herr werden zu können. Gewiss, diese Behauptung beruht auf empirischen und theoretischen Prämissen, die Hegel entweder gar nicht ausreichend belegen kann oder die er selbst gar nicht hinreichend durchschaut: So operiert er mit einem Arbeitsbegriff, der so ausschließlich auf das Verfertigen eines Produkts und damit auf herstellende Tätigkeiten festgelegt ist, [14] dass er die Beschäftigungsalternativen erst gar nicht in Rechnung stellt, die der industriellen „Reservearmee“ (Marx) im Bereich der Dienstleistungsverrichtungen zur Verfügung stehen; schon zu seiner Zeit überstieg dieser Sektor fast überall in Beschäftigungszahlen bei weitem den der Industriearbeit, ohne dass Hegel davon Notiz nimmt und daher mit seiner Prognose einer wachsenden, nicht aufhaltbaren Unterbeschäftigung offensichtlich falsch liegt. Aber unabhängig davon, welchen empirischen Wert man seiner düsteren Voraussage nun beimisst, für ihn gilt auf jeden Fall, dass von einer voranschreitenden und mit marktwirtschaftlichen Mitteln nicht stillzustellenden Tendenz zur permanenten Unterbeschäftigung auszugehen ist; und dieses Portrait des Marktes ist so abgrundtief negativ, so durch und durch pessimistisch, dass darin die positiven Züge des von ihm ursprünglich gezeichneten Bildes gar nicht wiederzuerkennen sind. Zwischen dem „System der Bedürfnisse“ und dem Markt, wie er ihn im letzten Abschnitt seines Kapitels darstellt, klafft eine Kluft, die viel zu tief ist, als dass sie sich durch irgendeine Hilfskonstruktion noch überbrücken ließe; ganz gleich, ob man das anfänglich skizzierte Ordnungsgefüge nun als ein bloßes Potenzial oder als einen noch unfertigen Rahmen versteht, der anschließend behauptete Widerspruch in dem neuen Wirtschaftssystem ist so stark, dass er jenes System in jedem Fall sprengen würde. Der Markt ist für Hegel scheinbar beides zugleich, bloßer Schein und tatsächliches Erscheinen von Sittlichkeit.

Verhält es sich so, ist Hegels Kapitel über die „bürgerliche Gesellschaft“ aber nicht das, was es zu sein vorgibt. Es ist nicht die Darstellung einer bis ins Äußerste gespannten Sphäre der Sittlichkeit, nicht die Beschreibung einer Wirtschaftsordnung, die zwar permanent unter schmerzlichen Zerreißproben leidet, aber dann doch ein wohlgeordnetes Handlungssystem zustande bringt; vielmehr ist es das Dokument der Austragung eines inneren Zwiespalts, der den Autor der Rechtsphilosophie zu keiner klaren Meinung darüber kommen lässt, ob er dieses neue Element in der sozialen Wirklichkeit nun gutheißen oder verwerfen soll. Hegel prescht in seinem Text zunächst vor, indem er die vielen erzieherischen Tugenden des Marktes vollmundig lobt, fällt sich aber dann selbst dadurch ins Wort, dass er demselben Markt einen unlösbaren Widerspruch vorhält; er will von Smith nicht lassen, den er im Lob des Marktes sogar noch überbietet, und greift zugleich auf Marx vor, mit dem er die Einsicht in das notwendige Scheitern des kapitalistischen Wirtschaftssystems teilt. Vielleicht ist ja Hegels Kapitel über die „bürgerliche Gesellschaft“ nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Unentschiedenheit zu so großer, langanhaltender Wirkmächtigkeit gelangt; der Zwiespalt, den es austrägt und vorführt, ist exakt derselbe, den viele seiner Leserinnen und Leser noch heute plagt.

Literatur

Hegel, G. W. F. (1979a), Grundlinien der Philosophie des Rechts (= Werke 7), Frankfurt am Main.Search in Google Scholar

Hegel, G. W. F. (1979b), Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse, in: ders., Werke 4, Frankfurt am Main, 204–274.Search in Google Scholar

Heisenberg, T. (2018), Hegel on the value of the market economy, in: European Journal of Philosophy 26, 1283–1296.10.1111/ejop.12336Search in Google Scholar

Herzog, L. (2013), Inventing the Market. Smith, Hegel, and Political Theory, Oxford.10.1093/acprof:oso/9780199674176.001.0001Search in Google Scholar

Honneth, A. (2012), „Arbeit“. Kurzgeschichte eines modernen Begriffs, in: Lenz, S., u. Hasenfratz, M. (Hg.), Capitalism unbound. Ökonomie, Ökologie, Kultur, Frankfurt am Main, 147–167.Search in Google Scholar

Kant, I. (1797), Die Metaphysik der Sitten, Königsberg.Search in Google Scholar

Marx, K. (1970), Zur Judenfrage, in: ders. u. Engels, F., Marx-Engels-Werke 11, Berlin, 347–377.Search in Google Scholar

Neuhouser, F. (2012), Pathologien der Selbstliebe. Freiheit und Anerkennung bei Rousseau, übers. v. Heilbronn, C., Berlin.Search in Google Scholar

Pinkard, T. (2017), Ethical Form in the External State: Bourgeois, Citizens and Capital, in: Crisis & Critique 4.1, 293–330.Search in Google Scholar

Riedel, M. (1962), Hegels „bürgerliche Gesellschaft“ und das Problem ihres geschichtlichen Ursprungs, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 48, 539–566.Search in Google Scholar

Rousseau, J.-J. (1984), Diskurs über die Ungleichheit [1755], neu hg., übers. u. komm. v. Meier, H., Paderborn.Search in Google Scholar

Smith, A. (2005), Untersuchungen über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, übers. v. Streissler, M., Tübingen.Search in Google Scholar

Published Online: 2022-11-20
Published in Print: 2022-11-25

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 23.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/dzph-2022-0050/html
Scroll to top button