Im achten Kapitel des zweiten Teils von Goethes Wahlverwandtschaften entspinnt sich zwischen Charlotte und dem Gehülfen ein Gespräch, in dem eine der grundlegenden Problematiken des Romans verhandelt wird: Das Verhältnis der Figuren zur Zeit ist ein weitgehend gestörtes, sie verklären Vergangenes, flüchten vor dem Gegenwärtigen, kommen entweder zu spät oder zu früh. Die vielfach betriebene Fortsetzung von bereits Begonnenem erweist sich als unmöglich, zugleich schützt auch die Vorsorge gegen zukünftige Gefahren nicht gegen die destruktive Kraft verfehlter Anfänge, die unheimliche Insistenz diverser Vorgeschichten und die Tragik wiederkehrender Traumata. Nur wenige der zahlreichen angefangenen Projekte kommen im Laufe des Romans zum Abschluss, und wenn doch, dann ziehen sie aufgrund von Übereilung, Fehleinschätzungen und »Ungeduld« (W, 338) ungeahnte Konsequenzen nach sich.Footnote 1 Die »Neigungen der Zeit« (W, 453) erweisen sich gegenüber den Wünschen und Plänen der Figuren als überlegen, die rasch fortrückende Zeit verhindert die Rückkehr in einen »vorigen Zustand« (W, 454).Footnote 2 Die Erzählinstanz spitzt das Dilemma dieser »wunderliche[n] Menschen« (W, 281) zu:

Es gibt wenig Menschen, die sich mit dem Nächstvergangenen zu beschäftigen wissen. Entweder das Gegenwärtige hält uns mit Gewalt an sich, oder wir verlieren uns in die Vergangenheit und suchen das völlig Verlorene, wie es nur möglich sein will, wieder hervorzurufen und herzustellen. (W, 453)

Goethes Roman erzählt diese Verhältnislosigkeit zur Zeit, die mitunter tragische Divergenz von Lebenszeit und Weltzeit nicht nur anhand individueller Schicksale, sondern stilisiert sie zur fundamentalen Problematik seiner eigenen Gegenwart, die im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts am Übergang von einer absolutistischen Regierungsform zu einem modernen Verwaltungs- und Sozialstaat steht und mit weitreichenden Veränderungen konfrontiert ist.Footnote 3 Die zeitgenössische Kritik hat diese Darstellung eines Scheiterns und Dilettierens in Anbetracht dieser Umbrüche als »Verspottung der Zeit« wahrgenommen und den Roman als »Abdruck des Zeitgeistes« gelesen.Footnote 4 Karl Wilhelm Ferdinand Solger, einer der hellsichtigsten frühen Kommentatoren des Romans, behauptet sogar, in den Wahlverwandtschaften sei »alles was die Zeit Bedeutendes und Besonderes hat, enthalten, und nach einigen Jahrhunderten würde man sich hieraus ein vollkommenes Bild von unserm jetztigen täglichen Leben entwerfen können.«Footnote 5 Wie präzise und nahe an den jeweiligen Diskursen Goethe diese Überforderungen in einer »Zeit der Umwendung« (W, 453) dargestellt hat, ist für verschiedene wissensgeschichtliche Zusammenhänge von der Forschung ausführlich beschrieben worden.Footnote 6

Den Themenkomplexen der Archivierung, des Denkmalschutzes und der Restaurierung, in denen sich die temporale Problematik vornehmlich konzentriert, ist dagegen bisher nur wenig Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Diese Forschungslücke ist erstaunlich, tritt doch gerade an Eduards und Hauptmanns (Neu‑)Einrichtung eines Archivs, an der Neugestaltung des Friedhofs durch Charlotte sowie der Wiederherstellung der Kirche und Kapelle durch den Architekten das problematische Verhältnis zur Zeit hervor. Anhand dieser in der narrativen Struktur des Romans zentral positionierten Episoden werden zugleich der umfassende Dilettantismus der Figuren, der unbedingte Wille zur Ästhetisierung der Lebenswelt sowie Fragen der Erinnerung, der Wiederherstellung und Überlieferung sowie des Nachlebens besonders augenscheinlich. Die »Repositur für das Gegenwärtige« und das »Archiv für das Vergangene« (W, 296) werden von Eduard und dem Hauptmann zunächst falsch eingerichtet und die Dysfunktionalität der nur scheinbar »erfreulichen Ordnung« markiert den Beginn einer katastrophalen Wendung der Ereignisse, die »Richtung gegen das Unermeßliche« (W, 321). Ottilies unmittelbar aus diesem bürokratischen Unvermögen resultierende Abschrift eines Kaufvertrages sowie Eduards hyperbolische Reaktion darauf unterstreichen die Verkehrung archivarischer Prämissen ins Ästhetizistische. Im zweiten Teil des Romans sind es Charlottes Veränderung des Friedhofs in eine »heitere und würdige Ansicht« (W, 395) sowie die Verzierung und Ausschmückung der Sakralräume durch den Architekten, die von einem problematischen Verhältnis zur Vergangenheit zeugen, letztlich vom Missbrauch der Monumente zu individuellen Zwecken. Momentane ›Heiterkeit‹ und angenehme ›Erfreulichkeit‹ trösten die Figuren zwar über ihr Aus-der-Zeit-gefallen-Sein hinweg, vernichten aber zugleich eine alte, möglicherweise bewahrenswerte Ordnung.

Ich möchte mich im Folgenden auf eben diese Themenkomplexe konzentrieren und dabei die Archivtheorie und -praxis des späten 18. Jahrhunderts in Beziehung zu den Wahlverwandtschaften setzen. Goethes Auseinandersetzung mit Archivierungsdiskursen und -techniken, so die Ausgangsvermutung der folgenden Ausführungen, dient auf der einen Seite zur minutiösen Konturierung des verwaltungstechnischen Dilettierens von Eduard und dem Hauptmann sowie zur Ersetzung des Kanzlisten durch Ottilie. Auf der anderen Seite fließen archivologische und denkmalschützerische Diskurse in die Episoden der versetzten Grabsteine, der Planierung des Kirchenbodens und der Restauration der Sakralbauten mit ein. Neben grundlegenden sowie zeitgenössischen archviologischen Theorien (Le Moine, Zinkernagel, Oegg) soll insbesondere Philipp Ernst Spieß’ Von Archiven (1777) in der folgenden Relektüre der Wahlverwandtschaften als Orientierungspunkt dienen.Footnote 7 Spieß’ archivtheoretische und denkmalschützerische Handreichung versammelt nicht nur die Hauptanliegen des archivologischen Diskurses der Aufklärung, er nimmt zugleich Neuerungen im Archivwesen des 19. Jahrhunderts vorweg.

Die hier versuchte Beschreibung von Goethes Umgang mit der Archivtheorie der Aufklärung soll aber nicht nur eine bisher vernachlässigte Folie des Romans erhellen, sondern auch verdeutlichen, dass Goethes Interesse an der Theorie und Praxis von Archiven und die für das Spätwerk beschriebene »Archivpoetik« auch schon für die Zeit der Wahlverwandtschaften zu veranschlagen ist.Footnote 8 Die zentrale Bedeutung der Archivologie und der an diese angrenzenden Problemstellungen belegt, dass sich Goethe lange bevor er über das eigene dichterische und schriftstellerische Archiv nachdenkt, eingehend mit Diskursen der Archivtheorie und des Denkmalschutzes beschäftigt und diese in die Darstellung eines problematischen Verhältnisses zur Zeit übersetzt.Footnote 9 Ich möchte zunächst Spieß’ Leben und Werk sowie dessen herausragende Rolle für die Archivologie des späten 18. Jahrhunderts vorstellen, um davon ausgehend die Einrichtung des Archivs, die Abschrift des Vorwerksvertrags, die Friedhofsverschönerung sowie die Restauration der Kapelle aus einer neuen Perspektive zu betrachten.

I.

Philipp Ernst Spieß und die Theorie des Archivs

Der Pfarrersohn Philipp Ernst Spieß wird am 27. März 1734 im nordbayrischen Ettenstatt geboren. Nach einem nicht abgeschlossenen Studium der Rechtswissenschaft in Jena wird Spieß zunächst Leutnant und im Jahre 1769 schließlich zum obersten Archivar für das Geheime Hausarchiv der Hohenzollern auf der Plassenburg in Kulmbach ernannt. Im Laufe seiner Karriere steigt Spieß zum Regierungsrat zu Bayreuth auf und wird Mitglied der Bayrischen sowie Preussischen Akademie der Wissenschaften. Zum Aufbau und zur Errichtung von Archiven ist er unter anderem am Hof von Friedrich II. in Berlin und Kaiser Joseph II. in Wien tätig. Als Archivar hegt Spieß nicht nur ein Interesse daran, der Nachwelt ein brauchbares Archiv zu hinterlassen, sondern folgenden Generationen auch die eigene Persönlichkeit möglichst vollständig vor Augen zu stellen. Schon einige Jahre vor seinem Tod am 26. März 1794 in Bayreuth verfasst er eine ausführliche Beschreibung seines Lebens, die bei seiner Beerdigung vorgelesen werden soll. Die dort anwesenden zahlreichen Trauergäste hören damit diejenige Selbstbeschreibung, die der nachlassbewusste Spieß den Versammelten »gleichsam aus seinem Grabe noch zuruft«.Footnote 10

Spieß versteht sich als enthusiastischer Aufklärer, der seine archivarische Praxis einem seiner Ansicht nach weit verbreiteten Aberglauben entgegenstellt. In einem kurzen Text über die Überwindung des Aberglaubens beschreibt er sich als Vorarbeiter für künftige Generationen:

Welch Glück! Daß wir nun in aufgeklärtern Zeiten leben, und wie glücklich werden erst unsere Nachkommen seyn, wenn die Vernunft, diese einzige uns von allen andern Kreaturen unterscheidene göttliche Gabe, den Kerker des blinden Gehorsames und Glaubens, in welchem sie noch an vielen Orten gefangen gehalten wird, vollends frey verlassen darf? Vielleicht geschieht es noch in unsern Zeiten. Der Anfang ist gemacht.Footnote 11

Spieß ist eine zentrale Figur der sich im 18. Jahrhundert formierenden Archivwissenschaft und gilt zusammen mit seinem Kulmbacher Dienstherren Alexander Markgraf zu Bayreuth als Vordenker des Denkmalschutzes. Er publiziert ausführlich über seine Arbeit im Archiv und verfasst mehrere seinerzeit einflussreiche Werke zu Fragen der Heraldik, der Diplomatik, der Paläographie und der Sphragistik. In zwei Bänden erscheinen seine Archivarischen Nebenarbeiten und Nachrichten vermischten Inhalts mit Urkunden (1763-65), die neben Ratschlägen und Verbesserungsvorschlägen zur Archivführung auch eine kommentierte Sammlung seltener Urkunden enthalten. Spieß’ vielgelesene Handreichung Von Archiven (1777) steht am Anfang der »Verwissenschaftlichung«Footnote 12 der Archivkunde und versteht sich primär als Gebrauchsanweisung und Sammlung von »nützlichen [...] Vorschlägen«Footnote 13 für Archivare. Als Abhandlung zur »Einrichtung und Erhaltung eines Archivs« (A, 4) enthält der Text die Essenz von Spieß’ umfassenden Wissen und langjähriger praktischer Erfahrung im Umgang mit Akten, Urkunden und Dokumenten sowie weitreichende archivtheoretische Neuerungen. Während die Archivwissenschaft seit der Mitte des 18. Jahrhunderts immer wieder versucht, eine universale Archivsystematik zu erstellen, entwickelt Spieß in theoretischer Hinsicht schon früh neue Perspektiven. Auch wenn er pertinenten Systematiken nicht ablehnend gegenübersteht, vertritt er doch die Ansicht, dass bei der (Neu‑)Errichtung eines Archivs die vorgefundene, gewachsene Ordnung der bisherigen Bestände leitend sein sollte. Eine gründliche Bestandserfassung hat für ihn stets eine höhere Priorität als die häufig nur schwer zu verwirklichenden Systematisierungsanstrengungen. Spieß, so der Archivtheoretiker Adolf Brenneke, versucht dabei stets, den Beständen »abzulauschen, wie sie geordnet werden müssen, was sie in sich selbst für eine Ordnung tragen.«Footnote 14 Die Forschung hat Spieß’ induktives Vorgehen daher auch als theoretische Grundlage des sich erst viel später durchsetzenden Provenienzprinzips charakterisiert.Footnote 15Von Archiven lässt sich daher als Kompendium archivologischen Wissens verstehen, ein für Jahrzehnte gültiges Handbuch, das auch zur Zeit der Entstehung der Wahlverwandtschaften nicht an Relevanz und Verbindlichkeit verloren hat.

Ein Archiv dient für Spieß und die Archivologen der Aufklärung grundsätzlich dazu, gesellschaftliche, soziale und juristische Ordnung über die Zeiten hinweg zu sichern, es vermittelt zwischen Gegenwart und Vergangenheit.Footnote 16 Verwahrt und prozessiert werden im Archiv wichtige »Urkunden und Acten« (A, 6) und es steht für Spieß im verwaltungstechnischen Zentrum eines funktionierenden Staates, eine Vorstellung, die sich beispielsweise auch bei Karl Friedrich Bernhard Zinkernagel finden lässt.Footnote 17 Spieß selbst schreibt:

Die Ruhe eines Staates hanget sehr von diesem Kleinod, als der Brustwehr wider alle Ansprüche widrig gesinnter Nachbarn, ab. Ja es ist nur allzu gewiß, daß ein Land unglücklich zu schäzen ist, in welchem nicht auf beständige Ordnung der Archive und Registraturen gesehen wird. (A, 5)

Der »wörtliche Inhalt« der im Archiv gelagerten Bestände steht »blosse[m] Witz und Erfindungs=Krafft« gegenüber (A, 6), die »reichhaltigen Quellen« (A, 5) der Archivbestände garantieren historische Wahrheit und gesellschaftliche Verbindlichkeit:

Der größte Theorist muß mit aller zu Hülf genommenen Sophisterey gegen ein einziges die Sache beweisendes ächtes Document doch endlich unterliegen, und diß ist es eigentlich, was die sorgfältige und ordentliche Verwahrung der Urkunden und Acten nöthig machet, weil sonst der minder wizige oder schwächere Theil gegen den wizigern oder stärkern oft in einer gerechten Sache zu kurz kommen würde. (A, 6)

Archive sind für Spieß neben ihrer verwaltungstechnischen und machtpolitischen Relevanz auch Orte, an denen die historiographische Erforschung der Vergangenheit ihren Ausgang nehmen kann.Footnote 18 Er versteht sie nicht nur als »blosse Apotheke« (A, 63), aus der sich jeder nimmt, was er gerade benötigt, sondern als »gemeinnüzigen Schatz« (A, 37), der zur historiographischen Überlieferungsbildung beiträgt. Immer wieder rückt Spieß seine archivarische Praxis in enge Nachbarschaft zur Geschichtsschreibung.Footnote 19 Das Klassifizieren, Ordnen und Selegieren von historischem Material in Archiven ist für ihn im besonderen Maße dazu privilegiert, »mehr Licht und Aufklärung nach und nach in die Geschichte«Footnote 20 zu bringen. Das unermüdliche Zusammentragen von diplomatischen Beweisen zielt in Spieß’ eigenen Schriften auf die Herstellung von historiographischer Faktizität. Die Bereinigung chronologischer Fehler und systematischer Ungereimtheiten bildet die Grundlage, auf der ›objektive‹ Geschichtsschreibung möglich werden soll: »Eine Urkunde hat allezeit mehr Glauben als ein Schriftsteller« (A, 42), schreibt Spieß in programmatischer Hinsicht in Von Archiven. Doch nicht nur die Ordnung, Aufbereitung und Systematisierung von Dokumenten ist Spieß wichtig. Im Umgang mit Akten und Urkunden gehe es stets auch darum, bisher unbekannte Querverbindungen herzustellen und diese schriftlich festzuhalten:

Will sich ein Archivar vom archivalischen Pöbel (daß ich so sage) unterscheiden, so ist ihm anzurathen, daß er ia gleich beym Anfang der Einrichtung eines Archivs den Bedacht darauf nehme, sich merkwürdige in Urkunden verkommende Stellen, welche zur Erläuterung der Rechte, Sitten und Gewohnheiten, der Geschichte, der Genealogie, der Diplomatick, der Münzkunde, der Erdbeschreibung u.s.w. dienlich seyn können, zu sammlen, und andre dergleichen nüzliche und merkwürdige Beobachtungen fleißig aufzuzeichnen. (A, 37)

Minutiöse Quellendokumentation sowie der Authentizitätsnachweis von Schriftstücken sind für Spieß von zentraler Bedeutung, nur so lasse sich die Gefahr des bloß Erfundenen, des Fiktiven abwenden. Spieß vergleicht brauchbare Geschichtsbücher daher mit Rechnungsbelegen: »So wenig eine Rechnung ohne Belege gültig ist, so wenig kann es ein Geschichtsbuch ohne Beweise seyn. Die diplomatischen Beweise sind aber die besten.«Footnote 21 Für Spieß ist die Arbeit im Archiv zudem mit dem Ankauf und der Entdeckung von bisher unbekannten, über staatliche und rechtliche Kontexte hinausgehenden Dokumenten verbunden, gebe es doch für aufmerksame Archivare »gar viele Gelegenheit, etwas neues zu entdecken, mache Irrthümer auszurotten, vieles zu ergänzen, und andre dergleichen nüzliche Dinge vorzunehmen« (A, 31).Footnote 22

Neben diesen Beiträgen zum Archivwesen finden sich bei Spieß frühe Überlegungen zu Fragen des Denkmalschutzes. Zusammen mit Alexander Markgraf von Bayreuth setzt sich Spieß (schon vor der Revolution und dem daraus resultierenden Vandalismus) für die Erhaltung, Dokumentation und Inventarisierung von Baudenkmälern ein:

Daß zum Nuzen der Archive und besonders zum Behuf der Landes=Historie und Genealogie manches vornehmen Geschlechts in iedem Land auch auf die Erhaltung alter Denkmahle gesehen werden sollte, ist eine Sache, die iedermann in die Augen leuchten wird. (A, 51 f.)

Spieß’ Ausführungen in Von Archiven nehmen daher viele Aspekte vorweg, die Alexander in seinem Landesväterlichem Schreiben aus dem Jahr 1780 anprangert und die der »Erhaltung der Monumente« dienen sollten. Kein bauliches Relikt dürfe mehr durch »Zerschlagung, Abhauung, Durchlöcherung, Übertünchung«Footnote 23 zu Schaden kommen. Vielmehr sollten die »Ueberbleibsel von alten Schlössern und Gemäuern« ausführlich dokumentiert sowie darin sich befindende »Monumente an Wappen und Inschriften« ins Archiv integriert werden. Insbesondere die Dislozierung von Kunst- und Sakralgegenständen sowie deren Verschwinden in privaten Sammlungen sollte damit unterbunden werden. Die Erhaltung historischer Substanz geschieht dabei mit Blick auf die Nachwelt. Die von Spieß und Alexander propagierten Maßnahmen zielen darauf, dass man zu bewahrende Gebäude

ehe sie durch ihre totale Destruktion, und darauf erfolgende Verödigung der Nachwelt gänzlich aus den Augen kommen, vorher abzeichnet, Protokolle über deren Lage und Beschaffenheit verführet, und sodann durch die Aufbewahrung in Unserm oftgedachten geheimen Archiv zu Plassenburg der Vergessenheit entrissen werden mögen.Footnote 24

Die Einrichtung und Instandhaltung eines Archivs sowie die Erhaltung und ›Wiederherstellung‹ sakraler Gebäude spielen auch in Goethes Wahlverwandtschaften eine wichtige Rolle. Diese eng miteinander verbundenen Themenkomplexe speisen sich, so die Ausgangsvermutung, aus einem intensiven Dialog mit den archivtheoretischen Positionen, die Goethe letztlich dazu benutzt, um den umfassenden Dilettantismus sowie das problematische Verhältnis der Figuren zur Zeit zu konturieren.

II.

Archiv und Repertorium

Die am Anfang der Wahlverwandtschaften von Eduard und Charlotte herbeigeredete und im dritten Kapitel tatsächlich eintretende Ankunft des stellenlosen Hauptmanns führt zu einer Vielzahl von neuen Projekten, Plänen und Vorhaben. Dem Trio geht es zum einen um die Bestandsaufnahme des bereits Vorhandenen und schon Begonnenen sowie um »vorsorgliche Anstalten« (W, 298), durch die alles »Schädliche, alles Tödliche« (W, 298) beseitigt werden soll.Footnote 25 Eduard verspricht sich von der Anwesenheit und den Fähigkeiten des Hauptmanns »nur Vorteil und Annehmlichkeit« (W, 274). Für ihn repräsentiert dieser einen mittlerweile rar gewordenen Universalisten – einen Vermesser, Verwalter und Techniker, der nicht wie die spezialisierten »Studierten aus der Stadt und von den Akademien« (W, 274) Systeme und Ordnungsmuster lediglich appliziert, sondern eine »unmittelbare Einsicht in die Sache« besitzt. Wie Eduard seiner Ehefrau ausführlich darlegt, liegt der Antrieb des Hauptmanns darin, das »Vielfache, was er an sich ausgebildet hat, zu Andrer Nutzen täglich und stündlich zu gebrauchen« (W, 273). Nachdem der Hauptmann, jener »tätige Mann« (W, 296), zunächst Eduards und Charlottes »neue Schöpfung« (W, 290) ausgemessen hat und eine »topographische Karte« (W, 296) daraus hervorgeht, schlägt er vor, zusätzlich eine »Gutsbeschreibung« anzufertigen, woraus sich »nachher Pachtanschläge und anderes schon entwickeln werden« (W, 296). Dieses Vorhaben passt zu Charlottes Plänen und ihrem Versuch, aus einem »alten Rittergut ein betriebswirtschaftlich geführtes Unternehmen zu machen«.Footnote 26 Zugleich aber verdecken die neuen, vom Hauptmann und Eduard vorangetriebenen Projekte Charlottes Fokussierung auf Vergangenes und ihr eher sentimentales Anliegen, ältere Reisetagebücher in Ordnung zu bringen. Ihr Vorschlag, aus diesen »unschätzbaren aber verworrenen Heften und Blättern ein für uns und andre erfreuliches Ganzes zusammenzustellen« (W, 276), wird im Aktionismus des Trios schlicht vergessen.

Teil der Inventarisierung und Instandsetzung des Guts ist auch die (Neu‑)Einrichtung eines Archivs.Footnote 27 Ein solches ist seit der Mitte des 18. Jahrhunderts für viele adlige Landbesitzer ein wichtiges herrschaftspolitisches Machtinstrument, um Rechtstreitigkeiten gegenüber Obrigkeiten zu vereiteln und zugleich Pachtverträge mit Untergebenen aufrechtzuerhalten.Footnote 28 Eine gründliche Aktenführung scheint auch notwendig, hält doch der wohlhabende Baron Eduard die Landbevölkerung und ihre Meinungen für »konfus und nicht ehrlich« (W, 274) und möchte mit diesen Menschen eigentlich gar nichts zu tun haben (vgl. W, 316). Schon vor dem Beginn von Eduards und des Hauptmanns Inventarisierungs- und Archivierungsprojekt kommt die Erzählinstanz auf die jeweilige charakterliche Eignung der beiden Freunde zu solcher Arbeit zu sprechen. Während der Hauptmann scheinbar unermüdlich jedem Tag seinen »augenblicklichen Zweck« abzugewinnen vermag und somit am Abend immer »etwas getan war« (W, 296), besitzt Eduard einen grundsätzlichen Hang zur Nachlässigkeit sowie die Neigung, Geschäftliches und Privates zu vermischen. Der Hauptmann weiß um diese Gefahren, die bei der bevorstehenden Einrichtung des Archivs hinderlich werden könnten. Er ermahnt Eduard daher von nun »alles was eigentlich Geschäft ist vom Leben« zu trennen:

Eduard fühlte in diesen Vorschlägen einen leisen Vorwurf. Zwar von Natur nicht unordentlich, konnte er doch niemals dazu kommen, seine Papiere nach Fächern abzuteilen. Das was er mit andern abzutun hatte, was bloß von ihm selbst abhing, es war nicht geschieden; so wie er auch Geschäfte und Beschäftigung, Unterhaltung und Zerstreuung nicht genugsam von einander absonderte. (W, 296)

Eduard wiederum vertraut bei der Einrichtung des Archivs und der Ordnung der Dokumente auf den Fleiß sowie die Gründlichkeit des Hauptmanns, der für ihn wie ein »zweites Ich die Sonderung bewirkte, in die das eine Ich [Eduard] nicht immer sich spalten mag.« (W, 296) An der von Eduard wahrgenommenen Professionalität des Hauptmanns bestehen aber berechtigte Zweifel.Footnote 29 Schon bei dem Versuch, die Gegend mit einer »Magnetnadel« (W, 290) zu kartieren, wird deutlich, dass es dem Hauptmann nicht immer um Genauigkeit bestellt ist. Die Kartierung des Guts nimmt er lediglich als »leichtes heiteres Geschäft«, das zwar nicht die »größte Genauigkeit gewährt«, ihm »für den Anfang erfreulich« (W, 290) aber ausreichend erscheint.Footnote 30

Die ausführliche Beschreibung der charakterlichen Eignung der beiden Hauptfiguren ist an dieser Stelle der Wahlverwandtschaften wichtig, da die Archivologie des 18. Jahrhunderts großen Wert auf diejenigen Eigenschaften legt, die erfolgreiche Archivare auszeichnen. Diese müssen einen »natürlichen Hang und Trieb zu archivalischen Arbeiten« aufweisen und zugleich Wissen im Bereich der »Rechte, der Universal= und Teutschen Reichs=Historie, der Geographie, Wappen= und Münz=Kunde und überhaupt aller Hülfswissenschaften der Geschichte« (A, 8) besitzen. Zudem sollten die Archivare, so Spieß, »[i]m Fleiß nicht zu ermüden, mit dem Geist der Ordnung, einem guten Gedächtnis und einer scharffen Beurtheilungskrafft, mit ohnverbrüchlicher Treue und Verschwiegenheit« (A, 9) begabt sein. Ist auch nur eine dieser Eigenschaften nicht vorhanden, »so leidet das Archiv immer darunter.« (A, 9) Auch in Pierre-Camille Le Moines Abhandlung Practische Anweisung zur Diplomatik und zu einer guten Einrichtung der Archive (1776), die Goethe noch im November 1819 konsultiert, gilt »erprobte Rechtschaffenheit, eine genau Verschwiegenheit« sowie der »Eifer zur Arbeit, eine große Liebe zur Ordnung, zur Genauigkeit, und Entwicklung« als Voraussetzung für gute Archivarbeit.Footnote 31

Dass keine der angeführten Eigenschaften auf den unordentlichen Eduard und den nur scheinbar gründlichen Hauptmann zutreffen, ist evident. Beide tragen Züge des Dilettanten und als solche, so lässt sich Goethes und Schillers Schema aus dem Jahr 1799 entnehmen, begnügen sie sich mit Halbheiten, sie scheuen »das Gründliche« und verwechseln »Kunst mit dem Stoff.«Footnote 32 Ihnen fehlt der notwendige Ernst, treiben sie doch »alles als ein Spiel, als Zeitvertreib«,Footnote 33 und wie so viele andere Projekte, die über den Anfang nicht hinauskommen, wird auch das Archiv von dilettantischen Halbheiten unterminiert.

Trotzdem machen sich die beiden Dilettanten an die Arbeit und errichten in einem Seitenflügel des Schlosses ein Archiv. Das Vorhaben beginnt allerdings nicht von Neuem, vielmehr wird die »genugsame Vorarbeit« (W, 296), der schon vorhandene Papier- und Aktenbestand in eine neue Systematik überführt:

Sie errichteten auf dem Flügel des Hauptmanns eine Repositur für das Gegenwärtige, ein Archiv für das Vergangene; schafften alle Dokumente, Papiere, Nachrichten, aus verschiedenen Behältnissen, Kammern, Schränken und Kisten herbei, und auf das geschwindeste war der Wust in eine erfreuliche Ordnung gebracht, lag rubriziert in bezeichneten Fächern. Was man wünschte ward vollständiger gefunden als man gehofft hatte. (W, 296 f.)Footnote 34

›Erfreulichkeit‹ ist für die Dilettanten auch in diesem Projekt – wie schon in Hinblick auf die Reisetagebücher und der Kartierung des Guts – eine zentrale Kategorie. Wo die eigene Lebenswelt vornehmlich als »so bequem, so artig, so gemütlich, so heimlich« (W, 276) gestaltet und wahrgenommen wird, stehen Gründlichkeit und Genauigkeit hintenan.Footnote 35

Hilfe erhalten Eduard und der Hauptmann von einem »alten Schreiber«, mit dem Eduard »bisher immer unzufrieden gewesen war« (W, 297), dessen Motivation nun zur Verwunderung Eduards aber von Neuem erwacht zu sein scheint. Der Angestellte stürzt sich in Arbeit und kommt »den Tag über, ja einen Teil der Nacht, nicht vom Pulte« (W, 297):

Ich kenne ihn nicht mehr, sagte Eduard zu seinem Freund, wie tätig und brauchbar der Mensch ist. Das macht, versetzte der Hauptmann, wir tragen ihm nichts Neues auf, als bis er das Alte nach seiner Bequemlichkeit vollendet hat, und so leistet er, wie du siehst, sehr viel; sobald man ihn stört, vermag er gar nichts. (W, 297)

Auch Eduards latente Unzufriedenheit mit dem Schreiber widerspricht explizit den Vorschlägen, die Spieß und die Archivologie der Zeit in Bezug auf einen produktiven Umgang mit Archivangestellten macht. Diese sollten grundsätzlich mit Respekt behandelt und vor allem »gut belohnt« (A, 15) werden, denn, so Spieß, es lässt sich

ohnehin nichts beschwerlichers und mühseeligers als die Einrichtung eines Archivs denken, als welche überdiß noch mit dem Verlußt der Gesundheit sehr genau verknüpft ist. Die Seele verliert dadurch tägliche scharfe Anstrengung nach und nach ihre Kräffte, das tiefe Nachdenken und Beurtheilen macht hypochondrisch, der Körper wird durch die dumpfige, kühle und ungesunde Luft in den Gewölbern, die man doch nicht vermeiden kan, vederbt. [...] wie viel Staub muß die Brust einnehmen? Nicht zu gedenken des Verlußts der Augen, welchem man ausgesezt ist, und dergleichen mehr […]. (A, 15 f.)

Von den Gefahren der Archivarbeit für die körperliche und psychische Gesundheit scheinen Eduard und der Hauptmann nichts zu ahnen. Von anerkennender Belohnung kann in Anbetracht Eduards Unzufriedenheit mit dem Angestellten nicht die Rede sein. Die von Spieß angemahnte »ungesunde Luft« macht sich breit, wird doch seit Ottilies Ankunft auf dem Schluss nur noch selten gelüftet, und auch ihre augentröstende Wirkung scheint sie in Bezug auf die im Archiv arbeitenden Personen nicht zu entfalten.Footnote 36

Noch ein weiteres Problem drängt sich auf. Das Archiv ist mit nur einem Schreiber und zwei gänzlich unerfahrenen Neulingen unterbesetzt: »Ein Secretär, ein Registrator, ein Kanzlist und Copist sind kaum hinreichend, das Werk mit Macht durchzusetzen.« (A, 12) Für Spieß ist es gänzlich unrealistisch, dass eine »einzige Person« (A, 7) im Stande sein könnte, ein Archiv aufrechtzuerhalten. Selbst die »beste und brauchbarste« Person würde sich durch die Fülle an Aufgaben nach kurzer Zeit »halb zu todt arbeiten« (A, 8).Footnote 37 Von diesen mehr als dürftigen Voraussetzungen und problematischen Bedingungen lassen sich Eduard und der Hauptmann aber keineswegs beirren. Auf Kosten der Genauigkeit und Gründlichkeit wird »auf das geschwindeste« eine neue Ordnung etabliert.Footnote 38 Sie selbst glauben das übereilte Archivprojekt auf einem guten Weg, besuchen nach getaner Arbeit Charlotte und diskutieren über weitere Möglichkeiten, »den Wohlstand, die Vorteile und das Behagen der bürgerlichen Gesellschaft« (W, 297) zu steigern.Footnote 39

Doch die »erfreuliche Ordnung«, in die der »Wust« (W, 297) so schnell gebracht wurde, ist nur eine scheinbare. Der Arbeitseifer Eduards, des Hauptmanns und des Angestellten lässt nach und insbesondere Ottilies Ankunft führt zu einer Vernachlässigung des Archivs. Durch Eduards rasant wachsende Neigung zu Ottilie sowie Charlottes und Hauptmanns »gemeinsame[r] Beschäftigung« (W, 320) im Gartenbauwesen gerät die Arbeit im Archiv aus dem Blick. Die fehlende Kontinuität macht die eilig geschaffene und nicht unmittelbar wieder einsichtige Ordnung schnell wieder zunichte. Die sich entwickelnden Liebesbeziehungen kosten Zeit, die andernorts fehlt:

Bei solchen Verhältnissen waren manche Geschäfte, welche die beiden Freunde zusammen früher vorgenommen, gewissermaßen in Stocken geraten, so daß sie es für nötig fanden sich wieder eine Übersicht zu verschaffen, einige Aufsätze zu entwerfen, Briefe zu schreiben. (W, 320 f.)

Bei der Wiederaufnahme der Archivarbeit finden Eduard und der Hauptmann zudem den »alten Kopisten müßig« (W, 321). Ein untätiger Kopist stellt ein fundamentales Problem dar, ist doch gerade seine Arbeit für reibungslose Arbeitsabläufe im Archiv unentbehrlich:

Der Copist hat ohnehin alle Hände voll zu thun, […] er ist auch deswegen unentbehrlich, weil bey einer dem Kanzlist zustossenden Krankheit das Copiren meist eingestellt werden müßte, und im Fall der Kanzlist mit Todt abgienge, viele Zeit verstreichen würde, bis der neue nur lesen lernte. (A, 14)

Eduard und der Hauptmann gehen zwar noch einmal selbst »an die Arbeit«, aus Ärger über die Untätigkeit des Angestellten geben sie diesem aber neue Arbeiten auf, »ohne zu bemerken, daß sie ihm manches aufbürdeten, was sie sonst selbst zu verrichten gewohnt waren.« (W, 321) Neben dieser fragwürdigen Delegierung zeigt sich zudem, dass Eduard und dem Hauptmann auch die eigenen Schreibarbeiten nicht gelingen – ihr »Konzipieren und Umschreiben« (W, 321) führt zu nichts. Der daraus resultierende Arbeitsabbruch macht deutlich, dass das Projekt von Anfang an auf falschen Prämissen beruht. Archiv und Repositorium, so die praktische Vorgabe der Archivtheorie der Zeit, wie man sie beispielsweise bei Josef Anton Oegg findet, sollten stets in einer solchen Verfassung sein,

welche nicht nur allein nach der vollendeten Einrichtung keine weitere mechanische Veränderung nach sich ziehet; sondern auch zur Beseitigung jeder durch die künftige Benutzung des Archivs zu befürchtenden neuen Unordnung die möglichste und sicherste Verkehrungen enthalten.Footnote 40

Dass Eduard und der Hauptmann sich schon nach kurzer Zeit eine erneute »Übersicht« (W, 321) verschaffen müssen, zeigt die dilettantische Einrichtung des Archivs. Eine sorgfältige Strukturierung der Bestände, die zumindest chronologische Ordnung von Akten, Urkunden und Dokumenten, in einer »Zeitfolge […] zusammengereihet«,Footnote 41 wurde nicht zustande gebracht. Die einsichtige Überführung der alten Bestände in eine Ordnung, die nicht nur momentan »erfreulich« (W, 297) wirkt, haben Eduard und der Hauptmann nicht vermocht. Kurz: Die Etablierung einer beispielsweise von Le Moine geforderten »fortdauernde[n] objective[n] Verfassung« des Archivs, welche für etwaig nachfolgende »Archivsubjecte leicht übersehen, [zu] fassen, - und [zu] benutzen«Footnote 42 ist, ist fehlgeschlagen.Footnote 43

Zieht man insbesondere Spieß’ Ausführungen in Von Archiven heran, so liegt das Scheitern der Archivdilettanten bereits in der überhasteten Überführung eines bestehenden Systems in eine neue, dysfunktionale Ordnung begründet. Das »geschwindeste« (W, 297) Herauslösen aller »Dokumente, Papiere und Nachrichten« aus ihrer eigentlichen Ordnung ist eine grobe Fahrlässigkeit, vor der Spieß explizit warnt:

Noch einer Vorsicht muß ich gedenken, welche darinn besteht, daß man in währender Einrichtung eines Archivs ia alles in der alten Ordnung und an dem Ort, wie es das alte Repertorium angiebt, lasse, und das Archiv nur blos auf dem Papier in eine neue Ordnung bringe. Man kann wohl Urkunden, die nicht zusammengehören, von einander abtheilen, aber sie müssen doch in der nemlichen Küste, Schublade oder Schachtel bleiben, in welcher man sie angetroffen hat, damit in währender Einrichtung alles nach Anweisung des alten Repertoriums im Nothfall gefunden werden könne, und das Archiv, wenn Gott allenfalls dieienige Personen, welche die Einrichtung desselben über sich haben, unversehens von der Welt hinweg nähme, nicht in eine noch grössere Verwirrung gerathe und unbrauchbarer werde, als des vorhero gewesen ist. (A, 67 f.)

Eduard und der Hauptmann haben durch ihre Übereilung und Ahnungslosigkeit das Archiv gänzlich unbrauchbar gemacht: Die alte Systematik ist zerstört und zugleich keine neue funktionierende etabliert. Von jenem fundamentalen und primären Zweck von Archiven, der Ausrichtung auf »künftigen Gebrauch«,Footnote 44 wie sie bereits Johann Stephan Pütter fordert, kann nicht mehr die Rede sein. Goethes minutiöse Darstellung charakterlicher Ungeeignetheit, die Übereilung und Vernachlässigung auf Kosten der Gründlichkeit sowie der zweifelhafte Umgang mit dem Archivpersonal zeigt nicht nur, wie nah an den archivarischen Diskursen er seine »Verspottung« der Gegenwart konzipiert hat, sie markiert auch einen wichtigen Wendepunkt innerhalb der Logik der Ereignisse. Als Eduard in Anbetracht dieses archivarischen Unvermögens nach der Zeit fragt, wird deutlich, dass diese keine Rolle mehr spielt:

Da zeigte sich denn, daß der Hauptmann vergessen hatte seine chronometrische Sekunden-Uhr aufzuziehen, das erstemal seit vielen Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnden, daß die Zeit anfange ihnen gleichgültig zu werden. (W, 321)

Wo Zeit ihre Relevanz zu verlieren scheint, treten auch die Ordnungsbestrebungen in Bezug auf das Gegenwärtige und das Vergangene, die Vorsorge für die Zukunft in den Hintergrund.Footnote 45 Das für die Arbeit am Archiv konstitutive Bewusstsein einer Differenzierung zwischen den Zeiten, die Ordnung des Gegenwärtigen und Vergangenen für die künftige »Nachwelt« (A, 48), geht an dieser Stelle unwiederbringlich verloren. Die »reinste Folge« (W, 296), die der Hauptmann als Maxime für das Geschäftliche im Allgemeinen ausgerufen hat und die in temporaler Hinsicht auch für basale Arbeiten an Archiv und Repositorium gilt, ließ sich nicht verwirklichen. Die Vergleichgültigung der Zeit und die temporale Orientierungslosigkeit inszeniert Goethe als den Anfang der sich als tragisch erweisenden Neigungen, Leidenschaften und »Ahndung[en]« (W, 358), die nun zu gären beginnen und schließlich »schäumend über den Rand« (W, 321) treten. Mit dem Nachlassen von »Geschäftigkeit« im siebten Kapitel des ersten Teils schlägt der Roman jene »Richtung gegen das Unermeßliche« (W, 321) ein, die den Figuren zum Verhängnis wird.

III.

Abschreiben und Kopieren

Die Vernachlässigung des Archivierungsprojekts hat unmittelbare Konsequenzen, die sich im krankheitsbedingten Ausfall des alten Schreibers und der von Ottilie verrichteten Kopiertätigkeiten niederschlagen. Spieß warnt in Von Archiven immer wieder eindrücklich vor den fatalen Auswirkungen, die der Ausfall von Angestellten für das Archiv haben kann. Sollten Schreiber, Kopisten oder Kanzlisten »krank werden« oder »Gott einen oder den andern gar von der Welt« (A, 10) nehmen, würde der Verwaltungsablauf massiv gestört, das ganze Projekt könnte zum Stillstand kommen. Eben dieser Fall tritt in den Wahlverwandtschaften im neunten Kapitel des ersten Teils ein. In dem Moment, als der ohnehin nicht sonderlich geschätzte »alte[] Kanzellist« auch noch »recht krank« (W, 336) wird, bietet sich der Pensionszögling Ottilie an, um für Eduard die zweite Abschrift des Vorwerksverkaufsvertrages vorzunehmen. Ottilie übernimmt damit eine Aufgabe, die eigentlich den Archivkanzlisten vorbehalten ist, sind diese doch zuständig für die sogenannte Mundirung von Konzepten. Ein Kanzlist – so Karl Friedrich Bernhard Zinkernagel in seinem Handbuch für angehende Archivare und Registratoren (1800) – »fertigt die ihm angewiesenen Extrakte aus Urkunden und Akten, desgleichen die Exzerpten oder Kollektaneen, die der Archivar zu machen für gut findet und hilft im übrigen dem Registrator.«Footnote 46 Charlottes Drohung: »Damit wirst du nicht fertig«, mindert Ottilies Eifer nicht, die »mit einiger Hast« (W, 336) die Kopieraufgabe übernimmt. Ottilies Übereilung wiederholt Charlottes »Hast« (W, 286), mit der im zweiten Kapitel der Brief an den Hauptmann verfasst wurde, sowie die allzu geschwinde Einrichtung des Archivs. Charlottes Bedenken scheinen aber an sich nicht unbegründet, fruchtet ihre Unterweisung Ottilies im Schreiben doch wenig (vgl. W, 312). Zudem erfährt die Leser:innenschaft bereits im dritten Kapitel durch die Beilage des Gehülfen von Klagen über Ottilies schlechte »Handschrift« und ihre »Unfähigkeit die Regeln der Grammatik zu fassen.« Der Gehülfe, der sich mit dieser Beschwerde eingehender auseinandersetzt, schreibt:

[E]s ist wahr, sie schreibt langsam und steif wenn man so will, doch nicht zaghaft und ungestalt. Was ich ihr von der französischen Sprache, die zwar mein Fach nicht ist, schrittweise mitteilte, begriff sie leicht. Freilich ist es wunderbar, sie weiß vieles und recht gut, nur wenn man sie fragt, scheint sie nichts zu wissen. (W, 295)

Ottilie besitzt außer ihrem Fleiß und ihrer Dienstbeflissenheit keine der Fähigkeiten, die für diese Schreibaufgabe nötig wären. Spieß gemahnt eindringlich daran, dass für die Arbeiten des Kanzlisten und des Kopisten

ia keiner angenommen werde, woferne er nicht eine vortrefliche Hand schreibe und es in der lateinischen Sprache wenigstens so weit gebracht habe, daß er eine Urkunde, die er abschreibt, ins Teutsche übersezen, folglich nicht allein lesen oder schreiben, sondern auch das, was er liest und schreibt, verstehen könne. (A, 15)Footnote 47

Während des Besuchs des Grafen und der Baronesse arbeitet Ottilie dennoch unermüdlich an der Abschrift, sie zieht sich »unter dem Vorwande häuslicher Beschäftigungen zurück, eigentlich aber setzte sie sich wieder zur Abschrift« (W, 345). Doch Ottilies liebesdienstliche Abschrift verkehrt in ihrer ausschließlichen Ausrichtung auf Eduard die Maxime einer gleichmäßigen und deutlichen Handschrift, die im Falle eines zu kopierenden Kanzleischriftstücks »nicht allein für die gegenwärtige Welt, sondern auch für die Zukunft und gleichsam für die Ewigkeit«Footnote 48 geschrieben werden muss, so Le Moine. Ottilies »Hast« steht der für Kanzleiarbeiten notwendigen »Pedanterie« entgegen, die Goethe selbst im Zuge einer Reformierung des Kanzleiwesens als notwendig herausgestellt hat.Footnote 49 Goethe spricht sich in einem Votum gegen die zeitersparende Reform des Kanzleistils aus. In der vermeintlichen Beschleunigung der Verfahren sieht er keinen Vorteil: »Ordnung kann ohne eine proportionirte Geschwindigkeit nicht bestehen, Eile ist die Feindin der Ordnung so gut als Zögern.«Footnote 50

Als Ottilie schließlich – »glänzend von Liebenswürdigkeit« – Eduard ihre Abschrift vorlegt, sieht dieser darin kein zu kollationierendes Schriftstück, sondern einen Beweis ihrer Liebe zu ihm:

Die ersten Blätter waren mit der größten Sorgfalt, mit einer zarten weiblichen Hand geschrieben; dann schienen sich die Züge zu verändern, leichter und freier zu werden: aber wie erstaunt war er, als die letzten Seiten mit den Augen überlief! Um Gotteswillen! rief er aus, was ist das? Das ist meine Hand! Er sah Ottilien an und wieder auf die Blätter; besonders der Schluss war ganz als wenn er ihn selbst geschrieben hätte. (W, 355)

Für Eduard ist die Welt augenblicklich »umgewendet« (W, 356). Er betrachtet die Abschrift nicht als zu archivierendes Gebrauchsdokument für die Nachwelt, sondern als Beweis für die Wahrhaftigkeit seiner Gefühle zu Ottilie.Footnote 51 Ottilies dilettantisch kopierte Akte ist nicht vornehmlich ein bindender Vertrag, sondern ein Liebesbeweis und damit von den Grundsätzen der Diplomatik und der Archivologie völlig enthoben.Footnote 52 Die Kopie des Vertrags, im Moment des phantasmagorischen Beischlafs von Eduard und Charlotte erstellt, sichert nicht Rechtmäßigkeit, sondern ist die »schönste Versicherung« hochgradig subjektiver Wünsche – »Ottilie du liebst mich!« (W, 355), ruft Eduard in Anbetracht der Akte aus, die an diesem Zeitpunkt keinen Eingang in ein ohnehin verwaistes Archiv mehr findet. Und auch von Gründlichkeit kann in der sich auf jeder Seite wandelnden Schrift nicht die Rede sein: schreibt Ottilie am Anfang des Dokuments in »kindlich schüchterner Hand« (W, 359), gleicht sie ihre Schrift am Ende gänzlich der Eduards an. In Absehung von der eigentlichen Natur des Schriftstücks steigert er sich in die absolute Gegenwart seiner Liebe hinein – Ottilies »Gegenwart verschlingt ihm alles« (W, 360):

Die Abschrift des Dokuments küßt er tausendmal, den Anfang von Ottilies kindlich schüchterner Hand; das Ende wagt er kaum zu küssen, weil er seine eigene Hand zu sehen glaubt. O daß es ein andres Dokument wäre! sagt er sich im Stillen; und doch ist es ihm auch so schon die schönste Versicherung, daß sein höchster Wunsch erfüllt sei. Bleibt es ja doch in seinen Händen, und wird er es nicht immerfort an sein Herz drücken, obgleich entstellt durch die Unterschrift eines Dritten! (W, 359)

Eduards Fetischisierung der Abschrift geht weit über die für Archivare wie Spieß, Le Moine und Zinkernagel leitende Wörtlichkeit der Dokumente hinaus, tendiert zu jener »Sophisterey« (A, 6), die von den Verwaltungs‑, Achivierungs- und Überlieferungsprozessen des Archivs ferngehalten werden sollen. Ottilies Kopie ist gänzlich der Vorgängigkeit des Archivs und der Repositur enthoben, sie gewinnt ihren Wert nicht wegen des Inhalts, sondern durch Eduards phantasmagorische Aufladung ähnlich erscheinender Handschriften. Die Abschrift avanciert damit zum privaten Andachtsobjekt, das die vom Hauptmann geforderte Trennung von Geschäft und Leben unterläuft. Deutet sich der bürokratische Dilettantismus in Eduards und Hauptmanns verunglücktem Archivprojekt schon an, verkehrt Ottilies Abschrift nun gänzlich die Prämissen einer sorgsamen Aktenführung und Archivpraxis.

IV.

Versetzungen und Verschönerungen

Durch ihre Beschäftigung mit der Erhaltung, Bewahrung und Wiederherstellung von Dokumenten und Artefakten berührt die Archivologie des späten 18. Jahrhunderts auch Fragen des Denkmalschutzes, für die Goethe selbst schon früh Interesse hegt und die vor allem im zweiten Teil der Wahlverwandtschaften großen Raum einnehmen.Footnote 53 Die Projekte Charlottes und die des Architekten scheinen dabei denkmalschützerischen Prämissen entgegenzuarbeiten, kümmern sie sich doch wenig um historische und antiquarische Zusammenhänge. Die Grabsteine des Dorffriedhofes werden versetzt und neu angeordnet, die Kirche restauriert und eine Kapelle neu bemalt. In Von Archiven beschreibt Spieß eindringlich ein solches Verhalten und beklagt alarmierende Zustände: Durch »Verkauffung«, »Unverstand« und ein »irreligiose[s] Wesen« (A, 54) würden etliche Monumente, Bauwerke und Kirchen zerstört sowie wertvolle Kunstgegenstände zerstreut, was die archivarische und denkmalpflegerische Arbeit an der »Landes=Historie und Genealogie« (A, 51) erheblich erschwere. Er hält es daher für nötig, diesem »Unwesen« entgegenzuwirken und durch »öffentliche Befehle dergleichen unsinnige Verwüstung alter Denkmahle auf das schärfste zu verbieten« (A, 54).Footnote 54 Spieß bezeichnet die Dislozierung und Zerstörung von erhaltenswerter Substanz als »barbarisch« (A, 52). Eine Einschätzung, die auch Goethe teilt, der sich schon vor der Italienreise mit der Frage des Denkmalschutzes beschäftigt. Bereits 1782 kommt Goethe in einem Brief an den Grafen von der Lippe in Wien auf den »traurigen Zustand« vieler »in Verfall geratener Gottes-Häuser« und die Notwendigkeit einer »landesväterlichen Vorsorge« zu sprechen.Footnote 55 Die »Wiederherstellung« und Erhaltung alter Bausubstanz ist Goethe fortan ein besonderes Anliegen, das sich in den 1810er Jahren durch den Austausch mit Sulpiz Boisserée intensiviert und in einer Reihe von Texten niederschlägt.Footnote 56 Doch nicht nur sakrale Bauwerke seien, so wiederum Spieß, von den Folgen eines mangelnden historischen Bewusstseins betroffen, auch auf die Erhaltung von alten Schlössern werde meist wenig Wert gelegt, sodass

ein Liebhaber der vatterländlichen Geschichte offt mit aller Mühe kaum den Plaz mehr ausfindig machen kan, worauf solche gestanden sind. Um die Steine wäre es in solchen Fällen gar nicht zu thun, wenn nur nicht zugleich Wappen, Figuren und Auffschrifften damit verlohren giengen. (A, 53)

Spieß rät daher dazu, »ein Schloß, eine Kirche, Kapelle und andere dergleichen öffentliche Gebäude« (A, 54) zumindest dokumentarisch festzuhalten. Er fordert, »alle merkwürdigen Denkmale eines Landes durch eine in der Zeichenzunft geübte Person aufnehmen und abzeichnen zu lassen, wobei aber die Gegenwart eines Archivars ohnentbehrlich wäre.« (A, 55)

Spieß’ Idee einer genauen Abzeichnung von Monumenten und Gebäuden, die in einer »Sammlung« (A, 55) aufbewahrt werden sollten, findet auch in den Wahlverwandtschaften Widerhall. Die Figur des Architekten hat es sich zur Aufgabe gemacht, Nachbildungen, Kunstwerke und Gegenstände des Altertums zusammenzutragen.Footnote 57 Er besitzt mehrere »tragbare«, »reinliche« und »[p]utzhafte« (W, 401) Sammlungen: eine mit »verschiedenen Nachbildungen und Entwürfen von alten Grabmonumenten, Gefäßen und andern dahin sich nähernden Dingen« (W, 401), eine andere Sammlung »von Waffen und Gerätschaften«, die aus den »Grabhügeln der nordischen Völker« entwendet wurden, sowie ein »größeres Portfeuille«, das »umrißne Figuren« und »Entwürfe zu Monumenten« enthält (W, 398). Die eklektizistische und auf Wirkung hin angelegte Sammlung des Architekten besitzt Ähnlichkeit mit dem »Kästchen eines Modehändlers« (W, 401). Eben solche Privatsammlungen sind Spieß ein besonderer Dorn im Auge. In einem drastischen Vergleich bezeichnet er die »Privat=Sammler« mit »Raubthieren«, die »alles wegtragen, was in ihren Sammlungen abgängig ist, und so manchen Registratur=Fascikul defect machen« (A, 30). Die sachgerechte »Erhaltung alter Denkmale« (A, 52) hat sich für Spieß daher gegen privates Sammeln durchzusetzen und erfolgt primär zum »Andenken an die Nachwelt« (A, 54).

Reflexionen und Spekulationen über die Nachwelt sind auch in den Wahlverwandtschaften wichtig: so beispielsweise im Streit zwischen dem Rechtsgelehrten und Charlotte am Anfang des zweiten Buchs, vor allem aber in der Problematisierung eines Lebens »nach dem Tode« (W, 397) in Ottilies Tagebuch, wo diese an vielen Stellen ihr eigenes Märtyrerinnentum vorwegnehmend »über das Leben hinausdenkt« (W, 403). Bereits in der Rede des Maurers, in der dieser seine Arbeit charakterisiert, kommt der Begriff der »Nachwelt« (W, 332 f.) zweimal vor:

Deswegen machen wir diesen Grundstein zugleich zum Denkstein. Hier in diese unterschiedlichen gehauenen Vertiefungen soll verschiedenes eingesenkt werden, zum Zeugnis für eine entfernte Nachwelt. […] Auch hier ist noch mancher Platz, wenn irgend ein Gast und Zuschauer etwas der Nachwelt zu übergeben Belieben trüge. (W, 332 f.)

Auch der in dieser Szene im Zentrum stehende Grundstein ist für den Historiker Spieß von besonderer Bedeutung.Footnote 58 Was die Anwesenden des Richtfestes »allerlei Merkwürdiges« in den Grundstein hineinlegen – Ottilies goldene Kette samt Bildnis des Vaters, Knöpfe, Riechfläschchen sowie »Münzen verschiedener Art, in diesem Jahre geprägt« (W, 333) –, ist dem Maurer ein Symbol für die »Vergänglichkeit der menschlichen Dinge« (W, 333), für Spieß sind diese Besitztümer von historischem und archivarischem Interesse. Die Möglichkeit, »daß dieser festversiegelte Deckel wieder aufgehoben werden könnte, welche nicht andres geschehen dürfte, als wenn das alles wieder zerstört wäre« (W, 333), markiert für Spieß zugleich den Moment, an dem sich der Nachwelt Geschichte selbst offenbart:

Was an Münzen, Urnen und andern Antiquitäten im Land z. E. bei Abreissung alter Gebäude in Grund=Steinen, auf dem Feld oder anderswo gefunden und ausgegraben wird, davon muß der Archivar ohnumgängliche Wissenschafft erhalten. (A, 55)Footnote 59

Ein solch fahrlässiger Umgang mit sakralen Gebäuden und Denkmalen scheint bereits vor der Revolution weit verbreitet gewesen zu sein. Spieß spitzt in Von Archiven dieses zerstörerische Verhalten in Bezug auf antiquarische Ordnungszusammenhänge in einem Beispiel zu:

Man wird manche neue Kirche finden, in welcher nichts mehr von denen in der alten Kirche befindlich gewesenen Grab=Monumenten zu sehen ist. Fragt man nach der Ursache, so wird es heissen: sie sind theils bey dem Einreissen der alten Kirche verwüstet und zerbrochen, theils aus übertriebener Sparsamkeit in eine andre Form umgearbeitet und zu Quaterstücken gebraucht, theils aber auch umgewendet und der Fußboden der Kirche damit beleget oder gepflastert worden. Ja es ist mir eine vor nicht gar langen Jahren reparirte Kirche bekannt, in welcher der Pfarrer nicht nur alle vor= neben= und hinter dem Altar gelegene Grabsteine von den Maurern ganz mit Kalch überwerffen und dem Erdboden gleich hat machen lassen, damit die Communicanten nach seiner Meinung desto bequemlicher vor dem Altar stehen und um denselben herumgehen konnten, sondern es erstreckte sich sein Hang zu Symmetrie so weit, daß er mit denen in den Wänden der Kirche eingemauerten Grab=Steinen auf gleiche Art verfahren, und wenn etwann noch etwas von einer Figur über die Wand hervorragte, alles abhauen oder abspizen und der Wand gleich machen ließ. (A, 53)

Von einem solchem Fall – von Gleichmachungen, der ästhetisierenden Anordnung von Grabmonumenten sowie den Planierungen in sakralen Räumen – ist auch in Goethes Roman die Rede. Insbesondere die Versetzung von Grabsteinen, die in Spieß’ Beispiel aus »Sparsamkeit« sowie aus »Hang zur Symmetrie« veranlasst wurde, spielt in den Wahlverwandtschaften eine wichtige Rolle.Footnote 60 Sie wird bereits im zweiten Kapitel des ersten Teils angedeutet und führt am Beginn des zweiten Teils zu jenem »Vorfall«, der »verschiedenen Dingen einen Anstoß« gibt, die »sonst vielleicht lange geruht hätten« (W, 395). Gemeint ist damit die intensive Auseinandersetzung mit der Problematik des Todes und des Nachlebens sowie der letzten Ruhestätte, die Ottilie in ihrem ersten Tagebucheintrag anspricht und mit der der Roman endet (vgl. W, 403, 529). Die Versetzung der Grabsteine und die Ästhetisierung des Friedhofs haben zudem die Restauration der Kapelle zur Folge, verdeutlichen ein geschichtsvergessenes Verhältnis zur Vergangenheit sowie die Missachtung historischer Zusammenhänge zugunsten subjektiver Zwecke. Ich möchte zunächst auf Charlottes ästhetizistischen Eingriff in eine bestehende sakrale Ordnung eingehen und daran anschließend die Projekte des Architekten in den Blick rücken.Footnote 61

Bereits im zweiten Kapitel der Wahlverwandtschaften, im Zuge des ersten verstörenden Auftritts von Mittler, erfährt die Leser:innenschaft, dass Charlotte sich schon vor der Arbeit an der Mooshütte um Verschönerungsprojekte bemüht hat. Nach dem gemeinsam gefassten Beschluss, Ottilie und den Hauptmann zu sich zu holen, gehen Eduard und Charlotte von den »neuen Anlagen« aus zurück ins Schloss. Sie schlagen den Weg über den Kirchhof ein, den Eduard ansonsten vermeidet:

Aber wie verwundert war er, als er fand, daß Charlotte auch hier für das Gefühl gesorgt habe. Mit möglichster Schonung der alten Denkmäler hatte sie alles so zu vergleichen und zu ordnen gewußt, daß es ein angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gerne verweilte. (W, 283)

Aus einem unebenen Friedhof ist durch Charlottes Eingriffe ein ästhetischer, ein gartenähnlicher Raum geworden, der die »Einbildungskraft« affiziert.Footnote 62 So wie Charlotte den Innenraum der Mooshütte mit künstlichen Blumen »auf das lustigste ausgeschmückt« (W, 288) hat, so verfährt sie auch mit den Grabsteinen des Dorffriedhofs:

Auch dem ältesten Stein hatte sie seine Ehre gegönnt. Den Jahren nach waren sie an der Mauer aufgerichtet, eingefügt oder sonst angebracht; der hohe Sockel der Kirche selbst war damit vermannigfaltigt und geziert. Eduard fühlte sich sonderbar überrascht, wie er durch die kleine Pforte herein trat; er drückte Charlotte die Hand und im Auge stand ihm eine Träne. (W, 283)

Am Beginn des zweiten Teils des Romans kommt die Erzählinstanz erneut auf Charlottes Projekt zurück, das jenseits von ästhetischen auch eine juristische und sepulkrale Dimension impliziert. Nicht alle teilen Charlottes Ausschmückungsenthusiasmus. Ein »benachbarter Edelmann« hat daher einen »jungen Rechtsgelehrten« geschickt, um mit Charlotte und dem Architekten über die Friedhofsveränderung zu sprechen. Ausgehend von diesem denkwürdigen »Vorfall« erinnert die Erzählinstanz retardierend an Charlottes Veränderung, um zugleich einige Aspekte zu spezifizieren. Sämtliche Monumente wurden »von ihrer Stelle gerückt« und haben

an der Mauer, an dem Sockel der Kirche Platz gefunden. Der übrige Raum war geebnet. Außer einem breiten Wege, der zur Kirche führte, war das übrige alles mit verschiedenen Arten Klee besät, der auf das schönste grünte und blühte. (W, 395)

Diese Ästhetisierung eines gemeinschaftlichen Raums nach den Prämissen des eigenen Geschmacks produziert zwar eine »heitere und würdige Ansicht«, doch sie provoziert auch die Gemeindemitglieder, die sich in ihren Memorialpraktiken und -gewohnheiten erheblich gestört fühlen. Die Gemeinde moniert daher,

daß man die Bezeichnung der Stelle wo ihre Vorfahren ruhten, aufgehoben und das Andenken dadurch gleichsam ausgelöscht: denn die wohlerhaltenen Monumente zeigten zwar an, wer begraben sei, aber nicht wo er begraben sei, und auf das Wo komme es eigentlich an, wie Viele behaupteten. (W, 395)

Durch Charlottes Veränderung verärgert, beschließt die »benachbarte Familie«, ihre der Kirche vermachte »kleine Stiftung« zu »widerrufen«, sei doch die »Bedingung unter welcher dieses bisher geschehen, einseitig aufgehoben und auf alle Vorstellungen und Widerreden nicht geachtet worden.« (W, 396) Der Rechtsgelehrte versucht diesen Schritt zu erklären und führt an, dass es grundsätzlich darum gehe, den »Ort« zu bezeichnen, an dem eine Person begraben sei, auf das Monument selbst komme es gar nicht an, vielmehr um das »darunter Enthaltene, das daneben der Erde Vertraute« (W, 396) Durch die Versetzung der Grabsteine seien die »Glieder der Familie« unwiederbringlich verletzt und die »tröstliche Hoffnung« verloren, den »Geliebten ein Totenopfer zu bringen« und »dereinst unmittelbar neben ihnen zu ruhen« (W, 397). Der Familie ist damit die Möglichkeit genommen, eine Beziehung zu den Toten aufrechtzuerhalten, über den Tod hinaus verbunden zu bleiben.Footnote 63 Charlotte und der Architekt lassen sich von diesen Argumenten nicht beirren, sie halten weiterhin an der Richtigkeit ihrer Umgestaltung fest. Charlotte sieht auch in dem Widerruf der Stiftung kein Problem, sie plant, die Kirche aus eigener Kasse zu »entschädigen« (W, 397), um ihr Projekt nicht zu gefährden. Am Ende werden es »ansehnliche Stiftungen« (W, 529) sein, die die Kirche von Charlotte erhält. Dem Architekten gegenüber begründet Charlotte ihre Entscheidung mit dem Wunsch nach einer »endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigstens nach dem Tode« (W, 397). Dies lässt sich zum einen als Reaktion auf den hyperbolischen »Eigensinn« (W, 498) Eduards verstehen,Footnote 64 zum anderen aber im Zusammenhang mit tiefgreifenden Veränderungen innerhalb des Memorial- und Sepulkralwesens um 1800, die sich teils mit denkmalschützerischen und antiquarischen Bestrebungen überschneiden.Footnote 65 Charlottes ästhetische Umgestaltung des Friedhofs steht für eine, wie Uwe W. Dörk gezeigt hat, aufklärerische Agenda, der es nicht nur um die »topographische Absonderung der Toten«, sondern um eine grundsätzliche »Separation der Toten von den Lebenden«Footnote 66 bestellt ist. Die »Arbitrarisierung, Ästhetisierung und Rationalisierung«Footnote 67 des Totengedenkens, wie sie in Charlottes Projekt exemplarisch deutlich wird, zielt auf die Abschaffung eines über Jahrhunderte praktizierten Totenkultes, letztlich auf die Überwindung der Gegenwärtigkeit des Todes und der Toten innerhalb des gesellschaftlichen Lebens.Footnote 68 Charlotte, die bereits im ersten Teil des Romans den Wunsch äußert, die »Toten ruhen zu lassen« (W, 342), möchte ihr eigenes Leben von deren insistierendem Nachleben grundsätzlich befreien. Für sie gilt es vornehmlich, die Toten zu vergessen, deuten diese doch lediglich auf etwas »Entferntes, Abgeschiedenes« (W, 399) hin und stören so das Glück der Gegenwart.

Charlottes Umgestaltungen des Friedhofs ersetzen den Einbezug der Toten in gesellschaftliche Zusammenhänge durch eine subjektive, auf das »Bild eines Menschen« (W, 399) fixierte Form des Andenkens, was nicht nur juristische Probleme mit sich führt (in Charlottes ›moderner‹ Vorstellung besitzen die Toten keinerlei rechtlichen Status), sondern auch denkmalschützerische Problematiken berührt.Footnote 69 Die versetzten Monumente werden durch Charlottes Projekt zwar als solche bewahrt – was das Vorhaben vordergründig mit denkmalschützerischen Prämissen kompatibel macht –, doch der eigentliche historische Kontext der Monumente, ihr Standort und Zusammenhang innerhalb eines Ensembles geht dabei verloren. Charlottes Zerstörung eines solchen Kontextes missachtet nicht nur überlieferte sepulkrale Praktiken und zeigt sich taub gegenüber juristischen Fragen (das Gespräch mit dem Rechtgelehrten endet ohne Einigung), eine solche Zerstörung arbeitet auch demjenigen »Liebhaber der vatterländischen Geschichte« entgegen, der »kaum den Plaz mehr ausfindig machen kann, worauf« (A, 54) historische Denkmäler gestanden haben.Footnote 70 Durch einen gegenwartsfixierten Ästhetizismus wird die historische Substanz den »Augen der wißbegierigen und forschenden Nachwelt ganz und gar entzogen« (A, 53). Die Umstrukturierung des Friedhofs sorgt, so wird schon in der Reaktion Eduards darauf deutlich, vornehmlich »fürs Gefühl«, sie zielt auf das Angenehme und verwischt dabei sorglos die Spuren und Schönheit einer alten Ordnung. Wie schon in der (Neu‑)Errichtung des Archivs scheint auch in der Friedhofs-Episode entscheidend zu sein, dass eine vorhandene Ordnung fahrlässig zugunsten einer heiteren Erfreulichkeit zerstört wird. Ohne Rücksicht auf historische Zusammenhänge wird ein Raum geschaffen, der lediglich der »Sinnlichkeit schmeichelt« und dem ein genießerisches Kunstverständnis zugrunde liegt.Footnote 71 Die Versetzung der Grabsteine ist Resultat einer gelangweilten und zugleich rastlosen Adelsgemeinschaft, die ihre Lebenswelt »recht schön« gestaltet und ihren umfassenden Dilettantismus als »neue Schöpfung« (W, 271) verkennt.

V.

Erhalten und Restaurieren

Ein solch problematischer Umgang mit historischer Substanz und baulichen Relikten findet sich in den Projekten des Architekten noch gesteigert. Dieser tritt zum ersten Mal im 14. Kapitel des ersten Teils »als ehemaliger Zögling des Hauptmanns« (W, 365) auf und füllt zu Beginn des zweiten Teils »als bisher kaum Bemerkter« (W, 394) den Platz der abwesenden männlichen Hauptfiguren. Der Architekt ist umtriebig und für die »Anordnung und Ausführung so manches Unternehmens« zuständig.Footnote 72 Er arbeitet im Gegensatz zu den Abwesenden, so die Erzählinstanz, »genau, verständig und tätig«, vor allem auf Ottilie und Charlotte nimmt er »günstige[n] Einfluß« (W, 394). Er interessiert sich für Fragen des Denkmalschutzes und der Memorialkultur und sammelt »Entwürfe zu Monumenten aller Art« (W, 398).Footnote 73 Im Gespräch mit Charlotte über die Ästhetik der Denkmale fordert er »gut gedachte, gut ausgeführte Monumente« (W, 398) und beklagt das fehlende Bewusstsein »lebende Formen zu erhalten« (W, 398). Durch das grundlegende Einverständnis mit Charlotte kann der Architekt die »Verzierung und Erheiterung« (W, 400) des Friedhofs auch auf die gotische Kirche ausdehnen:Footnote 74

Die Kirche stand seit mehreren Jahrhunderten, nach deutscher Art und Kunst, in guten Maßen errichtet und auf eine glückliche Weise verziert. Man konnte wohl nachkommen, daß der Baumeister eines benachbarten Klosters mit Einsicht und Neigung sich auch an diesem kleineren Gebäude bewährt, und es wirkte noch immer ernst und angenehm auf den Betrachter, obgleich die innere neue Einrichtung zum protestantischen Gottesdienste ihm etwas von seiner Ruhe und Majestät genommen hatte. (W, 400)Footnote 75

Die Kirche scheint somit bereits vor der Neugestaltung des Architekten bearbeitet worden sein, die gegenwärtige protestantische »Einrichtung« verdeckt ihren ursprünglichen Zustand. Mithilfe von Arbeitern und eigenem »Handgeschick« (W, 400) plant der Architekt das »Äußere sowohl als das Innere im altertümlichen Sinne herzustellen und mit dem davor liegenden Auferstehungsfelde zur Übereinstimmung zu bringen« (W, 400).Footnote 76 Insbesondere die Kapelle von noch »geistreichern und leichteren Maßen, von noch gefälligern und fleißigern Zieraten« (W, 400) nimmt die Aufmerksamkeit des Architekten gefangen – sie soll als »Denkmal voriger Zeiten und ihres Geschmacks« (W, 400) wirken. Das Vorhaben der Architekten erscheint als zwiespältig, plant er doch zum einen, die Kapelle »wieder herzustellen« (W, 400), zum anderen soll sie »nach seiner Neigung« verziert und »malerisches Talent« an ihr geübt werden.Footnote 77 Bereits an dieser Stelle wird ein gewichtiger Widerspruch in dem Restaurierungsvorhaben deutlich: das Gebäude wird nach dem historischen Geschmack bemalt, zugleich aber dient es als Projektionsfläche für die eigenen »Neigung« des Architekten.

Diese Widersprüchlichkeit gilt auch für die Sammlung des Architekten, die er den beiden Frauen jeden Abend zeigt und die die »Einbildungskraft« des Trios »gegen die ältere Zeit hin« (W, 401) richtet.Footnote 78 Die Ausmalung und Verzierung der Kirche/Kapelle sowie die Beschäftigung mit den gesammelten altertümlichen Gegenständen, Drucken und Entwürfen enthebt die Figuren ihrer eigenen Gegenwart, zu der sie kein Verhältnis mehr finden. So stellt Charlotte fest, »wie schwer es sei, die Gegenwart recht zu ehren.« (W, 399). Die Beschäftigung mit den historischen Gegenständen hat tröstenden Charakter, sie gleicht einer Flucht vor der Gegenwart in eine Form der Ewigkeit und idyllischen Zeitlosigkeit, die die Erzählinstanz auf ironische Weise kommentiert: »[S]o musste man sich beinahe selbst fragen: ob man denn wirklich in der neueren Zeit lebe, ob es nicht ein Traum sei, daß man nunmehr in ganz andern Sitten, Gewohnheiten, Lebensweisen und Überzeugungen verweile.« (W, 401) Die »heitere Sammlung« des Architekten ist, wie so viele Vorhaben in den Wahlverwandtschaften, auf eine sentimentale »Wirkung« hin angelegt, und nach der eingehenden Betrachtung von »umrißne[n] Figuren« (W, 401), die einen »Zug vom himmlischen Leben« (W, 402) andeuten, nutzt der Architekt die Gelegenheit, den bisher geheim gehaltenen Plan einer Restaurierung der Kapelle zur Sprache zu bringen:

Wer hätte nun widerstehen können als der Architekt sich erbot, nach dem Anlaß dieser Urbilder, die Räume zwischen den Spitzbogen der Kapelle auszumalen und dadurch sein Andenken entschieden an einem Orte zu stiften, wo es ihm so gut gegangen war. Er erklärte sich hierüber mit einiger Wehmut: denn er konnte nach der Lage der Sache wohl einsehen, daß sein Aufenthalt in so vollkommener Gesellschaft nicht immer dauern könne, ja vielleicht bald abgebrochen werden müsse. (W, 402)

Mit Erhaltung und Wiederherstellung hat die sich anschließende Ausmalung der Kapelle aber wenig zu tun. Es ist wie auch Charlottes Friedhofsveränderung ein ästhetizistisches Projekt, das an dem eigenen »Andenken« mehr Interesse findet als an der Wiederherstellung historischer Zusammenhänge. Ottilie ist das »widersprechend[e]« (W, 404) Verhalten des Architekten nicht entgangen. Die Sammlung des Architekten zeige, so Ottilie in ihrem Tagebuch, dass die »Vorsorge« des Menschen für ein Leben nach dem Tod nutzlos sei, würden die Vorkehrungen doch von eben solchen Sammlern wieder zerstört. Der Wunsch nach einer nachlebenden Kontinuität des eigenen Daseins ist nur schwerlich zu erfüllen. Die Zeit, wie so vieles andere auch in den Wahlverwandtschaften, lässt sich ihr »Recht« (W, 404) nicht nehmen und nagt zuerst am Menschen und dann an seinen Denkmalen.Footnote 79 Die lediglich scheinbar restaurativen Absichten des Architekten werden durch seinen zerstörerischen Umgang mit Denkmalen selbst durchkreuzt und Ottilie hält fest: »Der Architekt gesteht, selbst solche Grabhügel der Vorfahren geöffnet zu haben und fährt dennoch fort sich mit Denkmälern für die Nachkommen zu beschäftigen.« (W, 404) Ottilies Eindruck von den zweifelhaften Absichten des Architekten wird direkt im Anschluss von der Erzählinstanz aufgegriffen, die die Pläne des Architekten, den sakralen Raum »geschmackvoll auszuzieren« (W, 405), als dilettantisch kategorisiert:

Es ist eine so angenehme Empfindung sich mit etwas zu beschäftigen, was man nur halb kann, daß Niemand den Dilettanten schelten sollte, wenn er sich mit einer Kunst abgibt, die er nie lernen wird, noch den Künstler tadeln dürfte, wenn er über die Grenze seiner Kunst hinaus, in einem benachbarten Felde sich zu ergehen Lust hat. Mit so billigen Gesinnungen betrachten wir die Anstalten des Architekten zum Ausmalen der Kapelle. (W, 404 f.)

Ottilie und Charlotte gehen dem Architekten bei seinem Projekt zur Hand. Ottilie malt ein »faltenreiches Gewand« (W, 405) und ihr Einfluss auf den verliebten Architekten führt zu Engelgesichtern, die ihrer selbst gleichen, »so daß es schien als wenn Ottilie selbst aus den himmlischen Räumen heruntersähe« (W, 406). Nachdem die Arbeiten an dem »azurnen Himmel« (W, 406) des Gewölbes beendet sind, wird auch der anfängliche Plan verworfen, die Wände »einfach« zu belassen. Dieser Minimalismus wird verdrängt von ornamentalen »Blumen und Fruchtgehängen« (W, 407), auch hier scheint sich wie bereits im ersten Teil Charlottes florale Dekorationskunst durchzusetzen. Die Ausbesserung des »ungleichen Fußboden[s]« übernimmt der Architekt selbst, und Charlottes Einschätzung, dieser werde »etwas Angenehmes« zu Stande bringen, zeigt die ästhetizistische Tendenz, die das Restaurierungsprojekt an diesem Punkt bereits genommen hat. Als Ottilie alleine das Gebäude besichtigt, ist sie von der Wirkung schließlich überwältigt.Footnote 80 Ihre vom Architekten orchestrierte gegenwartsflüchtige Empfindung ironisiert Goethe als romantisches »Kunstgefühl«, welches, einem »himmlischen Lichtstrahl« gleich, durch »das mannigfach-geschliffene Glas der Sinnlichkeit unter verschiedenen Zonen sich in tausenderley verschiedene Farben bricht.«Footnote 81 Wie der junge Goethe den Straßburger Münster so erlebt auch Ottilie das gotische Bauwerk in der »Abenddämmerung«:Footnote 82

Ottilie freute sich der bekannten ihr als ein unbekanntes Ganze entgegentretenden Teile. Sie stand, ging hin und wieder, sah und besah; endlich setzte sie sich auf einen der Stühle und es schien ihr, indem sie auf und umherblickte, als wenn sie wäre und nicht wäre, als wenn sie sich empfände und nicht empfände, als wenn dies alles vor ihr, sie vor sich selbst verschwinden sollte, und nur als die Sonne das bisher sehr lebhaft beschienene Fenster verließ, erwachte Ottilie vor sich selbst und eilte nach dem Schlosse. (W, 408)

Dieser ›wiederhergestellte‹ Sakralraum, so macht die Erzählinstanz klar, hat mit einer historischen Restauration nichts zu tun, er ist lediglich »Künstler-Grille« und »gemeinsame Grabstätte« (W, 408). Das Projekt des Architekten hat mit denkmalpflegenden und -schützerischen Absichten wenig gemein. Die Kapelle ist ein von subjektiven und wirkungsästhetischen Zwecken überformter Raum, an dem »malerisches Talent« geübt und das zur Stiftung des eigenen »Andenkens« (W, 402) missbraucht wird. Die Ausschmückungen und Verzierungen des Architekten, Charlottes und Ottilies intendieren in ihrer Planlosigkeit lediglich eine heiter-angenehme Wirkung. Der Architekt unternimmt damit eben jene Form der ›Restauration‹, die Goethe zusammen mit Meyer in Bezug auf Gemälde bereits in den Propyläen aufs Schärfste verurteilt. Goethe warnt vor dem Trugschluss, den Kunstwerken etwas »hinzuzudenken«, eben dadurch entstünden »falsche und ungeschickte Restaurationen, die durch ihre Gegenwart dem Sinn imponieren«.Footnote 83 Der imponierende Zug im Projekt des Architekten ist unverkennbar. Es ist die ›Übertünchung‹ von älterer Kunst durch die eigenen, subjektiven Zwecke, die einen Zugang zu den Werken versperrt. Dabei ist, so Meyer, »tiefe Kunstkenntniß, Vorsicht und Mäßigung«Footnote 84 nötig, um ein Kunstwerk zu restaurieren:

Alle Kunstwerke gehören als solche der gesammten gebildeten Menschheit an und der Besitz derselben ist mit der Pflicht verbunden Sorge für ihre Erhaltung zu tragen. Wer diese Pflicht vernachlässigt, wer mittelbar oder unmittelbar zum Schaden oder zum Ruin derselben beyträgt, ladet den Vorwurf der Barbarey auf sich und die Verachtung aller gebildeten Menschen jetziger und künftiger Zeiten wird seine Strafe sein.Footnote 85

Die Sammlung des Architekten und seine ahistorische Übermalung der Bausubstanz stehen symptomatisch für ein bloßes Sich-historisch-Fühlen, das Goethe in seinen späteren Texten zur Architektur anklagen wird. In den Wahlverwandtschaften ironisiert er anhand der Wirkung der Kapelle auf Ottilie eine bloß sentimentale Rezeption gotischer Architektur, die von »solchen Eindrücken übermannt und hingerissen« wird und die Errichtung von Gebäuden zur Folge hat, in denen sich die Erbauer »gleichsam urväterlich in solchen Umgebungen empfinden«. Was in der geschichtslos-ästhetizistischen Vorstellung und Umgestaltung von baulichen Relikten verwischt wird, ist für Goethe das »Geschichtliche«, der spezifisch historische Kontext und ästhetische Eigenwert der Gebäude.Footnote 86 Es ist daher auch fast zynisch zu nennen, dass der eben solche Tendenzen verkörpernde Architekt in einem Gespräch mit dem Bräutigam Lucianes und nach der Betrachtung der Kapelle von eben diesem »Geschichtliche[n]« (W, 423) spricht.

Nachdem sich der Architekt mit der Vollendung seines Werks verabschiedet und vom Gehülfen ersetzt wird, kehrt er zur Beerdigung Ottilies noch einmal in die Kapelle zurück, die durch die »sinkende Nacht« in ein »schwebendes Licht« getaucht ist. Den weinenden Architekten, der »sich im Schmerz ganz aufzulösen scheint« (W, 526), täuscht lediglich die Trauer über die geliebte Ottilie über den Kitsch der restaurierten Kapelle hinweg, »deren fromm verzierte Wände, bei so mildem Schimmer, altertümlicher und ahndungsvoller, als er je hätte glauben können« (W, 525), erscheinen.

VI.

Das Recht des Gedichteten

Das Restaurierungsprojekt des Architekten, den archivarischen Dilettantismus Eduards und des Hauptmanns sowie den ahistorischen Ästhetizismus Charlottes inszeniert Goethe in den Wahlverwandtschaften als Ausdruck einer tiefgreifenden Verunsicherung. Die umfassend scheiternden verwaltungstechnischen, ästhetischen und restaurativen Projekte stehen symptomatisch für eine sattelzeitliche Orientierungslosigkeit in Bezug auf historisch-antiquarische Strukturen und Ordnungszusammenhänge. Die symbolische Darstellung sozialer »Verhältnisse« (W, 979) und ihrer Konflikte in Goethes zeitgenössischstem Roman erzählt von einer Lebenswelt, in der, so Solger, keine »feste und bestimmte Gestalt der Ideen« mehr zu finden ist, an die sich anknüpfen lässt.Footnote 87 Der thematische Kern der Wahlverwandtschaften liegt im Abgesang auf eine in Auflösung begriffene Landadelsgesellschaft, die keinen Zugang zum Vergangenen mehr findet, ohne sie zu verklären, und der zugleich auch jegliche Vorstellung einer Zukunft jenseits der eigenen Wünsche fehlt. Insbesondere die Frage des Archivs sowie der Umgestaltung bzw. Wiederherstellung von historischen Ordnungszusammenhängen erlaubt es Goethe, dieses unsichere Verhältnis seiner eigenen Gegenwart zur Zeit zuzuspitzen.

Archivologische und denkmalschützerische Diskurse spielen dabei, so sollte deutlich geworden sein, eine zentrale Rolle. In den Wahlverwandtschaften, die am Beginn der vor allem die 1810er und 1820er Jahre bestimmenden Phase der Selbsthistorisierung und -archivierung stehen, verarbeitet Goethe archivarisches Wissen (und Unwissen) sowie zeitgenössische Fragen der Erhaltung und Restaurierung von Architektur. Er übersetzt Fragen moderner Archivtheorie und die darin verhandelten Archivtechniken und -diskurse in eine narrative Dynamik, für die Fragen des Anschlusses, des Nachlebens und der Restauration des Vergangenen leitend sind.Footnote 88 Die für Goethes Spätwerk so kennzeichnende »Fiktionalisierung des Archivischen«Footnote 89 erstreckt sich somit in werkgeschichtlicher Hinsicht nicht nur auf den zweiten Teil des Faust und die Wanderjahre, sondern auch auf das dafür geplante und zum Roman gewordene Novellenexperiment der Wahlverwandtschaften. Das Archiv, seine Theorie und seine Praktiken dienen nicht nur der Organisation der eigenen ›Existenz‹ (E. R. Curtius), sondern werden zu einer literarisierbaren Ressource, aus der sich wichtige Episoden und die zentrale Thematik des Romans speisen.

In seinen eigenen Aussagen über den Roman, dessen Produktion und möglicher Rezeption wird zugleich deutlich, dass Goethe an der grundlegenden Differenz zwischen Archiv und Literatur, zwischen der Archivierung historischer Tatsachen und dichterischer Imagination festhält.Footnote 90 Das Panorama einer gesellschaftlichen und verwaltungstechnischen Umbruchszeit, das er in den Wahlverwandtschaften darstellt, grenzt er scharf gegenüber der historiographischen Tatsächlichkeitslogik der Archivologie ab. Hat für Spieß eine jede »Urkunde mehr Glauben als ein Schriftsteller« (A, 42), so scheint Goethe seine Poetologie des Romans dem Archiv entgegenzustellen. Der Autor Goethe inszeniert die ›Wahrheit‹ des Romans als eine genuin literarische, als eine, trotz aller Wirklichkeitssättigung, genuin darstellerische Leistung, die über die historische Wahrheit (des Archivs) hinausgeht. In der Theorie und Praxis des Archivs mag literarisches Material zu finden sein, die in der Form des Romans dargestellte historische Wirklichkeit übersteigt für Goethe aber bloße Registrierung, Speicherung und Verzeichnung der Verhältnisse. Der »durchsichtige und undurchsichtige Schleyer« (W, 980), den Goethe durch geschickte Über- und Umschreibung seiner Quellen und Referenzen legt, ist Teil einer Poetik der Anspielung und Andeutung, mit der das abgebrochene Gespräch mit alten Bekannten von Neuem aufgenommen werden soll. Der mit mehr oder weniger bekannten Anekdoten, Beispielen und Wissensbeständen gesättigte Roman wird für Goethe zum Mittel, sich mit seinen »auswärtigen Freunden wieder einmal vollständig zu unterhalten. Ich hoffe Sie sollen meine Art und Weise darin finden. Ich habe viel hineingelegt, manches hinein versteckt. Möge auch Ihnen dieß offenbare Geheimniß zur Freude gereichen« (W, 979), gesteht Goethe seinem treuen Leser Zelter. Den Prämissen der (Selbst‑)Archivierung auf nahezu hyperbolische Weise entgegenarbeitend, hat Goethe die Vorarbeiten und Studien zu diesem »offenbare[n] Geheimnis« daher auch vernichtet – das Hineingelegte und Verstecke sollte zwar mitgelesen werden, aber nicht das selbstständige »Factum« verdecken, als das die Wahlverwandtschaften vor der Einbildungskraft zeitgenössischer und künftiger Leserschaft zu stehen haben. Im Dialog und in Abgrenzung zum Archiv erzählt der Roman Geschichte nochmal einmal anders: »Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene.« (W, 982), schreibt Goethe am 31.12.1809 an Karl Friedrich von Reinhard.