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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter April 1, 2022

mitgeteilt von Martin Walter und Jörg Hüttner

  • Martin Walter EMAIL logo and Jörg Hüttner EMAIL logo
From the journal Nietzsche-Studien

Nachlass 1880, 4[108], KSA 9.127, Z. 27–KSA 9.128, Z. 1:

Man beantwortet jetzt allgemein die Frage ob die russischen Nihilisten unmoralischer seien als die russischen Beamten zu Gunsten der Nihilisten.

Vgl. Nicolai Karlowitsch, Die Entwickelung des Nihilismus. Dritte stark vermehrte Auflage, Berlin 1880, S. 61 f.:

Aber in denjenigen Ressorts, wo der Wille der Regierung mit den Missbräuchen noch im Kampfe ist, erscheint der unbestechliche Beamte in Russland gewöhnlich keineswegs als der populärste. So wäre z. B. der Polizeibeamte, welcher am 13. (25.) März 1880 in Simferopol sich wegen circa 80 Amtsvergehen, den Acten nach innerhalb dreier Jahre begangen, zu verantworten hatte, nach der „alten Praxis“ jedenfalls verurtheilt worden – während die Geschworenen, welche doch aus der von ihm vielfach geschädigten Gesellschaft hervorgingen, ihn – freisprachen.

Vgl. Nicolai Karlowitsch, Die Entwickelung des Nihilismus. Dritte stark vermehrte Auflage, Berlin 1880, S. 128:

Hohe Beamte haben ehedem zu Zeiten die Unterhaltung mit einem Nihilisten sogar höchst spassig gefunden.[1]

Vgl. anonym, „Die Nihilisten“, in: Das Ausland. Ueberschau der neuesten Forschungen aus dem Gebiete der Natur-, Erd- und Völkerkunde 53, Stuttgart 1880, S. 755:

Die Beamten selbst ergötzten sich an solcher Lektüre und halfen unter der Hand an ihrer Verbreitung

Die anonyme Rezension könnte Nietzsches Aufmerksamkeit auf Nicolai Karlowitschs Die Entwickelung des Nihilismus gelenkt haben. Freilich kann dies nur unter der Prämisse angenommen werden, dass Nietzsche auch ein Leser der Zeitschrift Das Ausland war. Für die Lektüre hat Helmut Treiber Argumente entwickelt, auf die hiermit verwiesen ist.[2]

Im zitierten Notat befasst sich Nietzsche mit der Fragestellung, inwiefern Verbrechen und unsittliches Verhalten notwendige Komponenten eines gesellschaftlichen Fortschritts seien und ob nicht Verbrecher, Tyrannen, Nihilisten und ähnlich „schlechte Menschen“ durch ihre Taten und durch „sehr viel Muth und Originalität des Geistes“ ein notwendiges Umdenken und eine Änderung der sittlichen Normen in einer Gesellschaft herbeizuführen imstande wären. Unter diesem affirmativen Gesichtspunkt wäre der russische Nihilismus ein Beispiel für die positiv-konstruktive Umgestaltungstendenz politisch-gesellschaftlich überkommener Strukturen und daraus resultierender, radikaler Umbrüche.[3] Nietzsche zeigt sich überzeugt, dass diese „schlechten Menschen“ es sind, die die Geschichte stets verändert hätten. Das Anliegen, das er im Notat vorträgt, wird in der Entwickelung des Nihilismus durch folgende Passage reflektiert, vielleicht angeregt und unterstrichen: „Alles muss in der Idee der Revolution aufgehen; es muss jeden Zusammenhang mit der gebildeten Welt und der bürgerlichen Ordnung, mit der hergebrachten Moral zerreissen“ (32).

Dass der „russische Nihilismus“[4] ideengeschichtlich für Nietzsches Nihilismus-Begriff ein tragendes Element darstellt, ist in der Forschung allgemein etabliert. Diskutiert wurden als Quellen für jenen Nihilismus neben den bekannten russischen Literaten (Turgenev und Dostojewski) insbesondere Alexander Herzen[5] und das Referat des französischen Psychologen Paul Bourget über den russischen Nihilismus.[6]

Das Aufkommen der nihilistischen Strömung im Russischen Reich als ein verbreitetes Gesellschaftsphänomen mit teilweise skurril anmutenden Auswüchsen dokumentiert Die Entwickelung des Nihilismus zur Genüge.[7] Wenn Nietzsche in diesem Kontext und Zeithorizont also schreibt,[8] „man beantwortet jetzt allgemein die Frage“, so wird er sich damit sehr wahrscheinlich auf die damals aktuelle Berichterstattung über den Nihilismus Russlands beziehen. Die Entwickelung des Nihilismus hatte in Jahresfrist drei Auflagen (1. Aufl. 1879, 2. Aufl. 1880) erzielt und war während der Abfassungszeit des Notats (August 1880) ein maßgebliches Werk über den Nihilismus schlechthin. Der Verfasser, der hier unter dem Pseudonym Nicolai Karlowitsch auftritt,[9] ist der gegenwärtig wenig rezipierte russisch-deutsche Schriftsteller Carl Nicolaus von Gerbel-Embach (1837–1927).[10] Ein Eintrag im Konversations-Lexikon weist ihn mehrfach als ausgesprochenen Kenner Russlands und Experten für die gesellschaftlichen Zustände im Zarenreich aus.[11]

Gerbel-Embachs polit-nihilistische Rekonstruktion ist auf der Grundlage von Berichterstattungen verschiedener russischer Zeitungen quellenreich beschrieben und vermittelt dem deutschsprachigen Publikum ein aktuelles Bild jener Umtriebe. Die zitierten Stellen beziehen sich lediglich auf das Verhältnis von Beamtenwesen und Nihilismus, da Nietzsche dies besonders thematisiert.[12] Sie treffen zwar nicht exakt seinen Vergleich zwischen der Amoralität oder Unsittlichkeit des Beamtenwesens und der noch größeren der Nihilisten. Doch spiegelt das erste Zitat aus der Entwickelung des Nihilismus Nietzsches Ansicht indirekt wider, insofern „unbestechliche Beamte in Russland gewöhnlich keineswegs als“ die populärsten galten.

Die Entwickelung des Nihilismus könnte eine mögliche Quelle für Nietzsches Philosophem des Nihilismus sein, daher sei hier mindestens für den Zeitzeugencharakter der Schrift mit Ausstrahlung auf Nietzsche optiert. Es kann wohl kaum eine inhaltsreichere Berichterstattung angegeben werden, in der Nietzsche alle möglichen Spielarten des „Russische[n] Nihilin“ (JGB 208, KSA 5.137) hätte entdecken können. In der Vorrede referiert Gerbel-Embach sogar eine englische Rezension seiner Studie mit dem Titel „Russian Nihilism“ (4). Aufgrund der damaligen Aktualität des russischen Nihilismus, die Nietzsche durch das Wort „jetzt“ überdeutlich anzeigt, gibt das Buch ein zeitdiagnostisches Kaleidoskop ab. Da es sich bei Gerbel-Embachs Bericht um ein Standardwerk handelte,[13] ist ohne weiteres vorstellbar, dass sich Nietzsche auf seine Inhalte bezieht. Ob besagte Inhalte aus eigener Lektüre oder aus Gesprächen im Umkreis gewonnen wurden, muss aufgrund von bisher fehlenden expliziten Nennungen freilich dahingestellt bleiben.

Literaturverzeichnis

Edie, James M. / Scanlan, James P. / Zeldin, Mary-Barbara (Hg.): Russian Philosophy, Bd. II: The Nihilists, the Populists, Critics of Religion and Culture, Chicago 1965Search in Google Scholar

Emden, Christian J.: “Nihilism, Pessimism, and the Conditions of Modernity”, in: Warren Breckman / Peter E. Gordon (Hg.), The Cambridge History of Modern European Thought, Cambridge 2019, Bd. I, 372–39710.1017/9781316160855.017Search in Google Scholar

Gillespie, Michael Allen: Nihilism Before Nietzsche, Chicago 1996Search in Google Scholar

Gottzmann, Carola L. / Hörner, Petra : Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Bd. I: A–G, Berlin 200710.1515/9783110912135Search in Google Scholar

Kuhn, Elisabeth: „Art. Nihilismus“, in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, 293–298Search in Google Scholar

Müller-Lauter, Wolfgang: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin 197110.1515/9783110829471Search in Google Scholar

Treiber, Hubert: „‚Das Ausland‘. Die ‚reichste und gediegenste Registratur‘ naturwissenschaftlich-philosophischer Titel in Nietzsches ‚idealer Bibliothek‘“, in: Nietzsche-Studien 25 (1996), 394–41210.1515/9783112421581-025Search in Google Scholar

Published Online: 2022-04-01
Published in Print: 2022-11-30

© 2022 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 5.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/nietzstu-2021-0053/html
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