Zusammenfassung
Die bestehende Praxis der Allokation postmortaler Organspenden ist in mehrfacher Hinsicht ethisch bedenklich. Vor dem Hintergrund einer Kritik dieser Praxis fragt der Artikel, wie eine moralisch akzeptablere Verteilungspraxis aussehen könnte. Dabei wird herausgestellt, dass es sich bei der Verteilungsproblematik um ein Gerechtigkeitsproblem handelt, das keine allgemein konsensfähige Lösung zuzulassen scheint. Dies wird anhand der Gerechtigkeitstheorie von Rawls erläutert, deren Mängel zum Projekt einer realistischen Theorie der Politik führen. Der politische Realismus macht deutlich, dass es einer Demokratisierung der Allokationspraxis bedarf. Der Artikel endet mit dem Plädoyer, Spenderorgane nach dem Zufallsprinzip zu allozieren.
Abstract
Definition of the problem
The current practice in allocating post-mortem organ donations is in many respects ethically problematic. After criticizing this practice, this article explores what a more morally acceptable practice could look like.
Arguments
The first point made is that the problem of allocation is a problem of justice, and that there does not seem to be a solution to this problem that would find general consensus. This point is discussed in the light of Rawls’ theory of justice, the weaknesses of which lead to the project to develop a realistic theory of politics. Political realism shows that it is necessary to democratize the practice of allocation.
Conclusion
The article concludes with an appeal for the random allocation of available donor organs.
Notes
Vermutlich verspräche auch eine Zunahme von Lebendspenden keine Abhilfe. Nennenswerte Fortschritte in der Xenotransplantation, der Entwicklung künstlicher Organe oder der Erzeugung von Organen aus Stammzellen sind derzeit aus rechtlichen und moralischen Gründen kaum zu erwarten.
Meldepflichtig sind laut § 1a des Gesetzes über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen und Geweben (Transplantationsgesetz (TPG)) Herz, Lunge, Niere, Leber, Bauchspeicheldrüse und Darm. Von lebenden Spendern entnommene Organe sind nicht meldepflichtig.
Lehnt auch das dritte Zentrum die Annahme ab, wird das Organ durch ein beschleunigtes Verfahren vermittelt, um dessen drohende Spendeuntauglichkeit abzuwenden.
Hierbei ist faktisch unklar und juristisch umstritten, ob die oberste Entscheidungskompetenz bei der Bundesärztekammer oder bei Eurotransplant liegt. Vgl. Bader ([4], S. 143–148).
Die Ausdrücke „Erfolgsaussicht“, „Dringlichkeit“ und „Chancengleichheit“ tauchen auch im TPG auf. Insofern lassen sich die Algorithmen bis hierher als Interpretationen des gesetzgeberischen Willens deuten und können als demokratisch legitimiert gelten. Auf Mängel der demokratischen Legitimation soll jedoch im weiteren Verlauf der Arbeit aufmerksam gemacht werden.
Während Organspenden in der BRD und den Niederlanden auf der Zustimmung des Spenders (oder seiner Angehörigen) beruhen, gilt in den übrigen Mitgliedsländern von Eurotransplant die Widerspruchsregelung. Dieser Faktor erklärt, weshalb die Spenderrate in Deutschland sehr gering ist. Trotz des Punktzuschlags für Patienten, die in Ländern mit höheren Spenderraten warten, werden mehr Organe nach Deutschland importiert als exportiert.
Auch eine Kombination der beiden pluralistischen Baupläne ist möglich. Auf einer kriterialen Hierarchieebene können mehrere Kriterien liegen, die relativ zueinander zu gewichten sind. Die derzeit verwendeten Allokationsalgorithmen entsprechen diesem kombinierten Bauplan, da die Dringlichkeit den übrigen Kriterien vorgeordnet ist.
In den Richtlinien der Bundesärztekammer wird die Bevorzugung von Kindern und Jugendlichen damit begründet, dass sie sich noch in der Wachstums- bzw. Entwicklungsphase befinden. Aber diese Begründung wirkt fadenscheinig und legt den Verdacht nahe, dass die Verfasser der Richtlinien sich enger an den Wortlaut des TPG anlehnen wollten, als es in der Sache angemessen ist.
Das in der bestehenden Praxis dominante Kriterium der Erfolgsaussicht wirft z. B. verfassungsrechtliche Bedenken auf (vgl. Dannecker/Streng [8]).
Was folgt, ist weder ein Plädoyer dafür, alle Allokationsprobleme durch Los zu entscheiden, noch eine Argumentation für die These, das Losverfahren sei die einzig demokratisch legitime Lösung von Allokationsfragen. Plädiert wird nur für die These, ein Losverfahren könne im Fall der Organallokation ein vernünftiges Verfahren sein.
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Interessenkonflikt
M. Iorio gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen und Tieren.
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Iorio, M. Organallokation, öffentliche Vernunft und Demokratie. Ethik Med 27, 287–300 (2015). https://doi.org/10.1007/s00481-014-0320-x
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