Zusammenfassung
Eneas ist Träger des alten Adelsethos, dessen Geltung durch die Liebe in Frage gestellt wird. Der Versuch, die Liebe in das traditionelle Herrscherethos zu integrieren, führt, vor allem bei Veldeke, zu Widersprüchen in der Darstellung des Helden. Sie verweisen sym-ptomatisch auf den Wandel des Heldenbildes in der Literatur der Zeit.
Abstract
Eneas is the bearer of the ancient ethos of nobility, the validity of which is called into question by love. The attempt to integrate love into the traditional ethos of domination leads, especially in Veldeke, to contradictions in the presentation of the hero. Such contradictions are symptomatic of the change in the image of the hero in the literature of the time.
Literature
Es ist anzunehmen, daß auch Veldeke als klerikal geschulter Autor die Aeneis Vergils kannte. Die Frage, ob und in welchem Ausmaß er bei der Bearbeitung des Roman d’Eneas auf das antike Epos zurückgegriffen hat, ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden, doch scheint dies allenfalls punktuell der Fall gewesen zu sein. Im wesentlichen folgt der deutsche Dichter seiner französischen Vorlage. Vgl. dazu zuletzt Maria Grazia Andreotti Saibene, Rapporti fra l’Eneide di Virgilio e l’Eneide di Heinrich von Veldeke (1973), sowie die Rezension dieser Arbeit durch Volker Mertens, Anz., 87 (1976), 110–114.
Hierfür plädieren von romanistischer Seite Omer Jordogne, “Le caractère des oeuvres ‘antiques’ dans la littérature française du XIIe et du XIIIe siècle,” in: L’humanisme medieval dans les littératures romanes du XIIe- au XIVe-siecle, hrsg. A. Fourrier (1964), S. 55–83, und Jacques Le Goff, “Ist der historische Roman im 12. Jahrhundert entstanden?” in Der altfranzösische höfische Roman, hrsg. Erich Köhler, WdF, 425 (1978), S. 39–49.
Während in der Germanistik die These, das “Sinnzentrum” des Eneasromans liege im Minnegeschehen, heute nicht mehr vertreten wird, hat sie in der Romanistik, für den Roman d’Eneas, gerade in letzter Zeit engagierte Verfechter gefunden, vgl. besonders Raymond J. Cormier, One Heart One Mind: The Rebirth of Virgil’s Hero in Medieval Erench Romance, Romance Monographs, 3, University of Mississippi (1977), außerdem Dirk Jürgen Blask, Geschehen und Geschick im altfranzösischen Eneas-Roman, Romanica et Comparatistica, 2 (1984) und Jean-Charles Huchet, Le roman medieval (1984). Ein interdisziplinärer Austausch über die verschiedenen, in der Romanistik und in der Germanistik entwickelten Deutungsansätze wäre dringend zu wünschen.
Die Auffassung, daß Eneas eine “Entwicklung” durchmache, findet sich vor allem in der romanistischen Forschung. Neben den Untersuchungen von Cormier und Blask vgl. dazu Reto R. Bezzola, Liehe und Abenteuer im höfischen Roman (1961), S. 81–85, und
Andreas Forrer, Spaltung und Doppelung: Momente eines literarischen Motives (1977), S. 32–36. Das Problem ist verknüpft mit der Frage nach dem bislang noch nicht überzeu gend nachgewiesenen Symbolsinn der Eneasromane, vgl. Hans Fromm, “Doppelweg,” Werk — Typ — Situation: Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur, H. Kuhn zum 60. Geburtstag, hrsg. I. Glier et al. (1969), S. 64–79.
Daniel Poirion, “De l’Enéide’ ä l’‘Eneas’: mythologie et moralisation,” CCM, 19 (1976), 213–229, spricht von Eneas als “le personnage-cle” (S. 215). Ähnlich auch Dieter Kartschoke, Heinrich von Veldeke, Eneasroman, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übers., RUB, 8303 (1986), S. 876.
Vgl. etwa Helmut de Boor, Geschichte der deutschen Literatur, Bd. II, Die höfische Literatur: Vorbereitung, Blüte, Ausklang, 1170–1205, 10. Aufl. (1979), S. 42ff.
Vgl. bes. Daniel Rocher, “Veldeke und das Problem der ritterlichen Kultur,” Heinric van Veldeken, Symposion Gent 1970, hrsg. A.R. de Smet (1971), S. 151–159. —
Dietmar Wenzelburger, Motivation und Menschenbild in der Eneide Heinrichs von Veldeke als Ausdruck der geschichtlichen Kräfte ihrer Zeit, GAG, 135 (1974). — Hartmut Kokott, Literatur und Herrschaftsbewußtsein: Wertstrukturen der vor- und frühhöfischen Literatur, Europäische Hochschulschriften, I, Bd. 232. — Blask, bes. S. 191.
Zu verweisen ist hier vor allem auf Karl Heinz Borck, “Adel, Tugend und Geblüt: Thesen und Beobachtungen zur Vorstellung des Tugendadels in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts,” Beitr. T, 100 (1978), 423–457, und ders., “Lanzelets adel,” Fs. S. Grosse zum 60. Geb., hrsg. W. Besch et al, GAG, 423 (1984), S. 337–353. Vgl. außerdem René Pérennec, “Artusroman und Familie: Daz welsche buoch von Lanzelete,” AG, 11 (1979), 1–51, und ders., Kecherches sur le roman arthurien en vers en Allemagne aux XIIe-et XIIIe siècles, GAG, 393,1/II (1984).
Vgl. dazu die einschlägigen Aufsätze in dem Sammelband Wege zu Vergil: Drei Jahrzehnte Begegnungen in Dichtung und Wissenschaft, hrsg. H. Oppermann, WdF, 19 (1963), sowie Friedrich Klingner, Römische Geisteswelt, 5. verm. Aufl. (1965), und ders., Virgil: Bucolica — Georgica — Aeneis (1967).
Vgl. Hennig Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik (1980), S. 292–317. Brink mann rechnet jedoch offensichtlich mit einem Einfluß des integumentum-Modeih auf die Darstellungsform der Eneasromane, vgl. ders., “Wege der epischen Dichtung im Mittelal ter,” in: ASNSL, 200 (1964), 401–435, dort 428. — Beziehungen zwischen dem Roman d’Eneas und der Vergil-Rezeption in der Schule von Chartres erwägen auch Cormier und Poirion.
Philipp August Becker, Zur romanischen Literaturgeschichte (1967), S. 466–500. -
Reto R. Bezzola, Les origines et la formation de la litterature courtoise en occident (500–1200), 3e Partie, T.I (1963), S. 271 ff. —
Erich Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik, 2. erg. Aufl. (1970), S. 45f. —
Giovanna Angeli, L’“Eneas” e i primiromanzi volgari, Documenti de Filologia, 13 (1971).
Diese wurden vor allem durch den zunehmenden Einfluß des christlichen Denkens in Frage gestellt. Vgl. dazu auch die Studie von Walter Müller-Römheld, Formen und Bedeu tung genealogischen Denkens in der deutschen Dichtung bis um 1200, Diss. Frankfurt (1958).
Vgl. dazu allgemein Erich Köhler, “Zur Diskussion der Adelsfrage bei den Trobadors,” E.K., Trobadorlyrik und höfischer Roman, Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft (1962), S. 115–132.
vgl. Alfred Adler, “Eneas und Lavine: ‘Puer et puella senes,” Rf, 71 (1959), 73–91. Zustimmend zu dieser These äußert sich indes Blask, S. 68, Anm. 176.
Dieser Versuch ist auch im Zusammenhang mit den zeitgenössischen Bestrebungen der Kirche zu sehen, dem Konsens-Prinzip innerhalb der Ehe Geltung zu verschaffen, vgl. Joachim Bumke, Höfische Kultur, Bd. II (1986), S. 544ff.
Vgl. bes. die Beobachtungen von Josef Quint, “Der ‘Roman d’Eneas’ und Veldekes ‘Eneit’ als frühhöfische Umgestaltungen der ‘Aeneis’ in der ‘Renaissance’ des 12. Jahrhunderts,” ZfdPh, 73 (1954), 241–267.
Marie-Luise Dittrich, Die ‘Eneide’ Heinrichs von Veldeke, 1. Teil: Quellenkritischer Vergleich mit dem Roman d’Eneas und Vergils Aeneis (1966), und dies., “‘gote’ und ‘got’ in Heinrichs von Veldeke Eneide”, in: ZfdA, 90 (1960/61), 85–122, 198–240, 274–302.
Zu verweisen ist vor allem auf die Kritik von Werner Schröder, “Veldekes ‘Eneit’ in typologischer Sicht,” in: W.S., Veldeke-Studien, Beih. zur ZfdPh, 1 (1969), 60–103.
Alfred Ebenbauer, “Antike Stoffe,” Epische Stoffe des Mittelalters, hrsg. V. Mertens und U. Müller (1984), S. 247–289, dort S. 256.
Das Motiv des Verzeihens durch Dido hat der Dichter des Roman d’Eneas einge führt. Ihr Tod ist deshalb “Presque une mort chretienne” genannt worden, vgl. Albert Pauphilet, Le Legs du Moyen Age (1950), S. 91–106.
Mit dieser Feststellung soll die Leistung des Dichters des Roman d’Eneas in keiner Weise herabgesetzt werden. Denn ihm kommt das Verdienst zu, die entscheidenden Voraussetzungen für eine derartige Stilisierung Didos überhaupt erst geschaffen zu haben, vgl. David J. Shirt, “The Dido Episode in ‘Eneas’: The Reshaping of Tragedy and its Stylistic Consequences,” in: Medium Aevum, 51 (1982), 3–17. Daß es in der Absicht des französischen Dichters gelegen hat, mit Dido “a XH-century precursor of Phedre, Manon and Emma Bovary” (ebd., S. 15) zu schaffen, muß indes bezweifelt werden.
Hartmann von Aue, Erec, hrsg. A. Leitzmann, fortgeführt L. Wolff, 6. Aufl. bes. v. Chr. Cormeau u. K. Gärtner, ATB, 39 (1985), V. 7552ff. — Vgl. auch Chretien de Troyes, Erec und Enide, übers, u. eingel. I. Kasten, KTRM, 17 (1979), V. 5337ff.
Nicht auszuschließen ist, daß für Hartmann die Beziehung zwischen Dido und Eneas durch die Öffentlichkeit den Charakter eines förmlichen Ehebündnisses erhalten hat (vgl. Veldeke, 64, 37ff. und 65, 37ff.). Zweifeln daran, daß der Dichter bei der Abfassung seines Erec den Eneasroman Veldekes schon kannte, begegnet mit überzeugenden Argumenten Dieter Kartschoke, “Eneas — Erec — Tristrant: Zur relativen Chronologie der frühen deutschen Versromane,” Philologische Untersuchungen, gewidmet E. Stutz, hrsg. A. Ebenbauer, Philologica Germanica, 7 (1984), S. 212–222.
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Der vorliegende Aufsatz beruht auf einem Vortrag, der in verschiedenen Fassungen an den Universitäten Zürich und Bamberg gehalten wurde. Der Vortrag wurde für den Druck gekürzt und durch Hinweise auf die Forschungsliteratur ergänzt.
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Kasten, I. Herrschaft und Liebe Zur Rolle und Darstellung des ‘Helden’ im Roman d’Eneas und in Veldekes Eneasroman. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 62, 227–245 (1988). https://doi.org/10.1007/BF03375991
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DOI: https://doi.org/10.1007/BF03375991