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Publicly Available Published by De Gruyter (A) July 16, 2022

Gattungswesen

Zur Sozialität der menschlichen Lebensform

  • Thomas Khurana

Abstract

In which sense can human beings be conceived as social animals? To elucidate this question, the present paper (I) distinguishes the logical sociality of all living beings from the material sociality of social animals and the political sociality of self-conscious social animals. (II) The self-conscious political sociality that characterises the human genus-being requires a complex interplay of first and second person through which alone we can participate in our form of life and determine its content. (III) The human form of life thus constituted is characterised by a particularly open, and at the same time precarious, membership which involves specific forms of vulnerability and power. (IV) Against this background, forms of objective spirit are necessary which grant us a generalized recognition and relieve us from the contingency of each particular second-personal recognition, without abandoning the openness of the sociality of the human form of life. This double requirement has led to paradoxical institutions in modern society which strive to protect and ensure the sociality of the human form of life precisely by naturalising and individualising our access to it.

Dass Menschen soziale Tiere in einem eminenten Sinne sind, ist eine weithin geteilte Einsicht. Es scheint offensichtlich, dass das Leben von Menschen in außerordentlicher Weise von der sozialen Kooperation unter ihnen abhängt. Menschliche Lebewesen sind, wenn sie zur Welt kommen, nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen und zu erhalten; vielmehr sind sie auf die Sorge, Zuwendung und Erziehung ihrer Älteren angewiesen. Allein um ihre physischen Bedürfnisse zu befriedigen, unterhalten Menschen komplexe Systeme des Zusammenwirkens, die in zeitlicher wie räumlicher Hinsicht ausgesprochen weite Kreise ziehen. In der gegenwärtigen Gesellschaft kooperieren wir – wenn wir dieses Wort hier einmal provisorisch verwenden wollen – im globalen Umfang, und

unsere Kooperation und Kommunikation reicht dabei über unsere jeweilige eigene Lebenszeit weit hinaus. Indem ich tue, was ich gerade tue, stütze ich mich auf Arbeiten von Autor:innen, die seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden nicht mehr leben und verwende Medien, Geräte und Techniken, die in kooperativen Netzwerken unzähliger Menschen konstruiert und hergestellt wurden, die ich niemals benennen könnte. Die Formen unseres Zusammenwirkens sind dabei nicht ad hoc, sondern auf lange Sicht etabliert und erhalten sich auf eine solche Weise durch die Zeit hindurch, dass sie sich selbst da gegen Versuche ihrer Veränderung behaupten, wo sie das Leben ihrer Teilnehmer:innen beschädigen und deren Überleben gefährden. Unsere gegenwärtige Lebensform des „fossilen Kapitalismus“ scheint in diesem Sinne mit einem Beharrungsvermögen versehen, das die Chancen unseres biologischen Überlebens auf diesem Planeten infrage stellt. [1]

All dies ist, so scheint mir, nicht umstritten. Philosophisch kontrovers ist jedoch, wie ich im Folgenden zeigen will, die Frage, wie wir das Verhältnis von Sozialität und Lebensform im Falle des Menschen genauer verstehen müssen. Die gängige Weise, das Verhältnis zu bestimmen, besteht darin, die Sozialität des Menschen als eines der auszeichnenden Merkmale zu verstehen, die wir kraft der Tatsache besitzen, dass wir eben jener besonderen biologischen Spezies zugehören, der wir nun einmal zugehören: Menschen sind in diesem Sinne Tiere, die neben anderen Merkmalen – dass sie etwa federlose Zweifüßler sind – ein besonderes auszeichnendes Merkmal haben: dass sie „ultrasoziale“, „ultrakooperative“ Tiere sind [2]. In dieser Weise kann man uns mit anderen sozialen Tieren wie Wölfen oder Ameisen vergleichen, die sich in ihrer Selbsterhaltung auch ganz grundlegend auf soziale Strukturen der sozialen Kooperation stützen. Offensichtlich unterscheiden wir uns von diesen anderen sozialen Lebewesen aufgrund der Offenheit und der Komplexität der sozialen Systeme, in denen sich unsere Sozialität manifestiert: Unser soziales Verhalten scheint nicht im selben Maße instinktgesteuert und durch ein eng vorherbestimmtes Verhaltensrepertoire strukturiert zu sein wie das soziale Leben von Ameisen. Unsere Verbindung mit anderen ist nicht, wie etwa im Falle des Rudels der Wölfe, auf einen einzelnen zentralen sozialen Verbund beschränkt, der unser gesamtes soziales Leben bestimmt; unser soziales Leben impliziert vielmehr die Inklusion in unzählige, voneinander unterschiedene und ineinander verschachtelte, jeweils historisch sich wandelnde soziale Systeme. Die Form der Sozialität würde uns also von anderen sozialen Tieren unterscheiden, aber die Weise, in der diese Sozialität von uns prädiziert werden kann, wäre fundamental dieselbe wie bei anderen sozialen Tieren. Sozialität wäre einfach ein Merkmal der Art von Tier, das wir sind. Wir haben dieses Merkmal mithin als Individuen, und wir haben es kraft der Tatsache, dass wir eine bestimmte Spezies instantiieren.

Im Folgenden will ich zeigen, dass wir den Nexus von Sozialität und Lebensform anders verstehen müssen, wenn wir ein Verständnis der menschlichen Form des Lebens gewinnen wollen. Sozialität ist nicht allein ein Attribut der Spezies, die wir instantiieren, Sozialität charakterisiert vielmehr die Art und Weise, in der wir unserer Lebensform überhaupt zugehören: die Weise, in der wir überhaupt ein menschliches Leben haben und an ihm teilnehmen. [3] Sozialität kommt uns also nicht einfach qua Instantiierung einer gegebenen sozialen Spezies zu, sondern Sozialität bestimmt die Form, in der wir an unserer Lebensform partizipieren. Ob und inwiefern wir an einem menschlichen Leben teilhaben können, ob und inwiefern wir als Menschen existieren, ist selbst sozial vermittelt. Sozialität ist in diesem Sinne nicht ein Merkmal unseres tierischen Lebens unter anderen, sondern charakterisiert die ganze Art und Weise, in der wir Tier sind. Wenn die menschliche Lebensform von dieser Art ist, hat dies zwei weitreichende Konsequenzen: Es verleiht der menschlichen Lebensformen einen offeneren und zugleich prekäreren Charakter. Wenn ich der menschlichen Lebensform nur dank sozialer Inklusion zugehöre, dann scheint es nicht ausgeschlossen, dass Wesen von ganz anderer physischer Beschaffenheit als Verkörperung einer menschlichen Form des Lebens anerkannt werden können, in dem Maße, wie es diesen und uns gelingt, in soziale Beziehungen im selben Sinne inkludiert zu werden. Es ist daher nicht von vornherein ausgeschlossen, dass bestimmte Angehörige anderer biologischer Spezies oder Artefakte an der menschlichen Lebensform teilhaben können. Auf der anderen Seite scheint es zugleich möglich, dass Wesen, die über die erforderlichen Vermögen und die Bereitschaft verfügen, in humankonstitutive soziale Beziehungen einzutreten, auf eine Weise von diesen ausgeschlossen werden können, die sie ihrer Menschlichkeit beraubt, selbst dann, wenn sie sich selbst noch im Angesicht dieses Ausschlusses als Lebewesen zu erhalten vermögen.

Um zu untersuchen, welche Perspektiven diese Weise, die Sozialität unserer Lebensform zu fassen, erschließt, gehe ich in vier Schritten vor: Ich werde zunächst mit Bezug auf Michael Thompson die eigentümliche erstpersonale Form von Lebensformurteilen im Falle des Menschen herausstellen. Im zweiten Schritt werde ich im Rückgriff auf Hegel und Marx den erst- und zweitpersonalen Charakter genauer erläutern, mit dem wir Zugang zur menschlichen Lebensform gewinnen und diese artikulieren. Im dritten Schritt werde ich aus dieser Formbestimmung des menschlichen Lebens eine wesentliche Konsequenz ziehen: Wenn die Bestimmung des besonderen Charakters der menschlichen Lebensform richtig ist, so ergibt sich eine besondere Macht und Verletzlichkeit im menschlichen Leben, eine besondere Offenheit und Fragilität seiner Form. Im vierten Schritt werde ich auf dieser Grundlage einen kurzen Ausblick auf einige gesellschaftstheoretische Implikationen dieser Formbestimmung geben. Ich werde insbesondere ein Schlaglicht auf zwei Institutionen der modernen Gesellschaft werfen, die auf die besondere Verletzbarkeit des sozialen Lebens des Menschen reagieren und die Offenheit seiner Lebensform zu sichern suchen: die Institution der Menschenrechte und die individuellen Rechte der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Formen naturalisieren und individualisieren den Begriff des Menschen paradoxerweise, um die Zugänglichkeit und Offenheit seiner Sozialität zu sichern.

1

Wie haben wir die Sozialität der menschlichen Lebensform zu verstehen? Ich nähere mich meiner Frage zunächst auf einem Umweg an, indem ich an Thompsons Analyse naturhistorischer Urteile erinnere, die eine basale Sozialität alles Lebendigen zu Tage fördert, die die Sozialität der menschlichen Lebensform jedoch nicht erschöpfen kann. In The Representation of Life greift er Hegels These, dass Leben eine logische Kategorie darstellt, auf, um einen bestimmten charakteristischen Typ von Urteilen zu spezifizieren, durch die wir lebendige Wesen begreifen. Er lehnt sich dabei an die Sprechweise von Tierfilmen an, die in der Charakterisierung der typischen Lebensweise einer Spezies Aussagen treffen wie die folgende: „‚When springtime comes and the snow begins to melt, the female bobcat gives birth to two to four cubs. The mother nurses them for several weeks.‘“ [4] Die generelle Form des Urteilstyps drückt Thompson so aus: „The S is (or has or does) F“ [5]. Obwohl sich die Aussage ihrer Oberflächengrammatik nach auf ein Einzelwesen bezieht, ist schnell klar, dass sie sich gerade nicht auf einen besonderen Rotluchs richtet, sondern gleichsam auf den Rotluchs überhaupt: Wir charakterisieren die Spezies oder die Lebensform des Rotluchses, nicht diesen oder jenen einzelnen Rotluchs, der im Tierfilm als Exemplifikation durchs Bild läuft. Wenn dies richtig ist, dann sollte man vielleicht, so könnte man denken, besser sagen: Alle Rotluchse oder die meisten Rotluchse oder manche Rotluchse bekommen nach der Schneeschmelze zwei bis vier Junge. Solche Aussagen würden sich aber auf eine Klasse oder eine Unterklasse von Individuen einer Spezies beziehen. Wie Thompson herausarbeitet, bezieht sich die Sprecher:in des Tierfilms aber weder auf ein einzelnes Individuum, das die betreffenden Merkmale hat, noch eine Gruppe von Individuen, die faktisch alle diese Merkmale teilen, sondern vielmehr auf die allgemeine Lebensform oder Spezies, die von allen Individuen der Spezies geteilt wird, gleichgültig, ob sie selbst im Einzelfall dieses Merkmal zeigen oder nicht. [6] Die Aussage kann daher richtig bleiben, selbst wenn aufgrund bestimmter Umstände in einem Jahr kein einziger Rotluchs zwei oder drei oder vier Junge bekommt. [7]

Naturhistorische Urteile dieser Art sind bemerkenswert, weil sie eine eigentümliche Form von Allgemeinheit ausdrücken, die Thompson nicht-fregeanische Allgemeinheit nennt und die einen besonderen normativen Charakter entfaltet. [8]

Die Form, in der die Norm, anhand derer wir konkrete Exemplare einer Spezies qualifizieren können, hier ausgedrückt wird, entspricht der Formulierung dessen, was Kant ein Ideal genannt hat: der „Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens“ [9]. Die Norm oder Idee wird hier durch die Vorstellung eines einzelnen Wesens, des Rotluchses überhaupt, vorgestellt. Ich kann daher einen bestimmten Rotluchs an dem Rotluchs überhaupt messen, von dem der Tierfilm spricht. Dabei besitzt diese Norm keinen statistischen Charakter, drückt also nicht einfach den Mittelwert der sinnlichen Erscheinungsweise des Rotluchses aus, etwas, das Kant die „Normalidee“[10] eines Rotluchses nennen würde, sondern drückt gleichsam eine Vernunftidee des Rotluchses aus, die jedem besonderen Rotluchs als solchem einwohnt, ohne dass je eine einzelne Anschauung dieser Idee adäquat sein könnte.

Die Analyse wirft unzählige Fragen und Probleme auf, denen Thompson und seine Kritiker:innen ausführlich nachgegangen sind. Ich erwähne die Analyse hier zunächst nur, um auf zwei ganz allgemeine Punkte aufmerksam zu machen: Zum einen scheinen naturhistorische Urteile nahezulegen, dass wir alles das, was wir als lebendig und mithin als Exemplar einer Lebensform verstehen, intrinsisch auf eine Allgemeinheit beziehen, die von einer Klasse von Individuen geteilt wird. Etwas als lebendig zu verstehen, heißt, es auf seine Lebensform zu beziehen, die es mit anderen teilt und durch die allein es interpretiert, in seinen vitalen Vollzügen erklärt und normativ evaluiert werden kann. Das heißt aber, dass etwas als lebendig zu verstehen eine ganz basale Form von „Sozialität“ an dem Lebewesen aufweist: Am Lebewesen tritt seine allgemeine Lebensform oder Spezies hervor, die es wesentlich mit anderen Lebewesen derselben Spezies verbindet. Diese Sozialität ist zunächst ganz unabhängig von den konkreten Formen der im engeren Sinne sozialen Verhaltensweisen der spezifischen Art. Selbst eine Spezies von reinen Einzelgängern, die nicht einmal zur Fortpflanzung direkten Kontakt zu Artgenossen haben, wäre sozial in dem Sinne, dass wir das, was eines ihrer Exemplare ist, nur verstehen können, indem wir dieses Exemplar als Instanz einer Spezies begreifen, die dieses Exemplar mit anderen teilt. Man könnte diese Sozialität als die basale logische Sozialität des Lebendigen bezeichnen und von der materialen Sozialität von Lebewesen unterscheiden, deren Verhaltensweisen durch innerartliche Kooperation bestimmt sind.

Zweitens ist bemerkenswert, dass die Lebensformurteile, von denen Thompson ausgeht, in der dritten Person formuliert sind. Der Tierfilm, der die Lebensform des Rotluchses beschreibt, stammt nicht von einem Rotluchs. In den naturhistorischen Urteilen sprechen Menschen über andere Tierarten, die sie zu klassifizieren und bestimmen suchen, und aus dieser Beobachter:innenposition heraus messen sie ein Exemplar an seiner vermeintlichen Spezies. Für Thompson steht in seiner Inanspruchnahme von naturhistorischen Urteilen und ihrer speziellen Generalität und Normativität im Vordergrund, dass diese logische Form grundsätzlich auch auf den Menschen anzuwenden sei und so einen ethischen Naturalismus (etwa im Sinne von Philippa Foot [11] oder Rosalind Hursthouse [12]) erschließen könne. [13]

Nun scheint aber bemerkenswert, dass in Urteilen über die menschliche Lebensform das aussagende Subjekt und der Gegenstand der Aussage in bestimmter Hinsicht dasselbe ist. In diesen urteilen nicht Menschen über andere Spezies, sondern über ihre eigene Lebensform. In dem Aufsatz „Apprehending Human Form“ hebt Thompson diesen erstpersonalen Charakter von Spezifikationen der menschlichen Lebensform selbst hervor. Er hat dabei aber ein ganz eng begrenztes Interesse an diesem Umstand: Thompson interessiert sich für den erstpersonalen Charakter des Wissens über die menschliche Lebensform deshalb, weil dieser zeigen könne, dass Lebensformaussagen nicht notwendigerweise auf Beobachtungswissen basierten und empiristisch verstanden werden müssten. Vielmehr verfügten wir Menschen mindestens teilweise, so Thompson, über Wissen von unserer eigenen Lebensform durch Selbstwissen, das keinerlei Beobachtung erfordere. Was Thompson in diesem Zusammenhang hingegen nicht explizit erwägt, ist der weitergehende Gedanke, dass der erstpersonale Charakter der naturhistorischen Urteile des Menschen seiner Lebensform nicht äußerlich ist, sondern vielmehr auf einen eigenen, anders verfassten Typ von Lebensform verweisen könnte.

Sofern dies zutrifft, unterscheidet sich der Mensch aber von anderen Lebensformen, die er beurteilt, nicht allein im Gehalt der jeweiligen naturhistorischen Urteile, sondern vielmehr und wesentlich durch die erstpersonale Form, die die naturhistorischen Urteile in seinem eigenen Fall annehmen. Die Lebensform des Menschen ist eben jene Lebensform, die sich selbst in erster Person beurteilt. [14]

Das bedeutet, dass seine Lebensform so verstanden wird, dass sie jedem Wesen, das dieser Lebensform zugehört, in einem wie auch immer unvollkommenen Sinne selbstbewusst verfügbar sein muss und dass sich diese Lebensform wesentlich durch das Selbstbewusstsein ihrer Mitglieder verwirklicht. Es scheint nun ein die logische Form betreffender Unterschied zu sein, wenn derjenige, der urteilt, eben dadurch die Lebensform des Urteilenden selbst artikuliert. Eine Lebensform, die derart erstpersonal bestimmt wird, erhält einen besonderen Charakter. Umgekehrt bedeutet dies zugleich, dass die Urteile über unsere Lebensform dieser nicht äußerlich, sondern selbst ein Vollzug dieser Lebensform sind. Diese Urteile untergraben sich daher selbst durch performativen Selbstwiderspruch, wo sie etwas von uns behaupten, das nicht damit vereinbar ist, dass wir selbstbewusst Urteilende sind. (Abhängig davon, wie anspruchsvoll unsere Theorie des Urteilens ist, kann das mit sehr weiten Teilen des vermeinten Wissens über die Natur des Menschen in Spannung stehen).

Wir sind in diesem Sinne nicht einfach Lebewesen, sondern selbstbewusste Lebewesen; wir sind nicht einfach im materialen Sinne soziale Tiere, sondern selbstbewusste soziale Tiere, das heißt: auf selbstbewusste Weise und durch unser Selbstbewusstsein soziale Tiere. Wir können dies auch so ausdrücken, dass die Lebensform des Menschen nicht nur auf eine logische und eine materiale Weise sozial ist, sondern zudem auf eine politische Weise sozial ist. Der Mensch ist nicht allein ein „soziales Tier“, das zur Befriedigung seiner je eigenen Bedürfnisse kooperiert, sondern ein „politisches Tier“, das in sozialer Auseinandersetzung die Form des geteilten Lebens bestimmt. [15] Das bedeutet nicht, dass es einfach unserer willkürlichen und beliebigen Festlegung überlassen wäre, was unsere Lebensform und ihr materiale Sozialität ausmacht; aber es bedeutet, dass die Verwirklichung unserer Lebensform von ihrer bewussten Artikulation durch uns abhängig ist und dass die materiale Sozialität auf eine besondere Weise durch unsere politische Sozialität überdeterminiert ist. Alle an der materiellen Kooperation Beteiligten haben, gleich wie unterschiedlich ihre Rollen in der Kooperation, gleichen Anteil an der geteilten Lebensform, insofern sie Zugang zu ihr in der ersten Person haben. Unabhängig von den differenten materialen sozialen Rollen ist das soziale Verhältnis so durch eine fundamentale Gleichheit aller in ihrem Vermögen bestimmt, die geteilte Lebensform und also die Formen der materialen Kooperation zu artikulieren.

Das Lebensformwissen der Gattung ist vor diesem Hintergrund nicht nur erstpersonal, sondern in dieser Erstpersonalität selbst sozial. Das Wissen von unserer Lebensform ist nicht in der ersten Person Singular gehalten – ich sage nicht schlicht, wie oder wer ich bin – sondern in der ersten Person Plural – ich sage, was wir tun. Zu sagen, was wir tun, heißt dabei zugleich immer notwendig, dass ein Ich sagt, was wir tun. Indem ich auf das Wir ausgreife, muss ich dabei anerkennen, dass es andere gibt, die dies ebenso tun könnten und mithin den möglichen Konflikt mit einbeziehen, der sich zwischen uns ergibt.

Auch verschiedene Beobachter:innen anderer Spezies werden sich nicht immer darin einig sein, wie eine Lebensform jeweils zu charakterisieren ist, was etwa wesentlich zu ihr gehört und was zufällige Variation sein mag, und müssen darum ringen, sie richtig zu beschreiben. Im Falle der menschlichen Lebensform ringen wir dabei aber um unsere eigene Lebensform und ihre normative Charakterisierung, und dieses Ringen ist zugleich selbst wesentlicher Teil dieser Lebensform. Der Konflikt, der sich hier ergibt, ist daher existentiell und selbstbezüglich, fähig, sich auf sich selbst zurückzubeziehen und sich unabsehbar zu vertiefen. Er richtet sich darauf, wie wir uns selbst verstehen, und er bestimmt, in welchem Maße eine:r als eine:r von uns gelten darf oder nicht. Wir charakterisieren hier nicht von einem scheinbar neutralen Außenstandpunkt die Gesetze einer anderen Spezies, sondern bestimmen in diesen Urteilen uns selbst. Gerade wenn man ernst nimmt, dass Lebensformaussagen, wie Thompson klar gemacht hat, keine statistischen Aussagen darüber sind, was durchschnittlich der Fall ist, dann wird deutlich, dass kein einfacher Weg offensteht, um eine mögliche Uneinigkeit beizulegen, die sich zwischen uns dahingehend ergibt, was unsere Lebensform auszeichnet oder ob wir überhaupt dieselbe Lebensform teilen. Das, was und wie wir sind, lässt sich nur im Streit unter uns, das heißt in der zweitpersonalen Beziehung zwischen einem Ich und einem Du, die beide gleichermaßen ein Wir in Anspruch nehmen, austragen. Damit wird die logische Sozialität, die alles Lebendige teilt, wie die materiale Sozialität, die sozialen Tieren zukommt, die für ihren Erhalt auf Formen der Kooperation angewiesen sind, im Falle des Menschen selbst noch einmal sozial perspektiviert und reartikuliert.

2

Um sowohl die basale logische Sozialität alles Lebendigen als auch die selbstbewusste Aneignung und Vermittlung dieser Sozialität in der menschlichen Lebensform genauer nachzuvollziehen, ist es hilfreich, noch einmal zu Hegel selbst zurückzukehren. Dieser hatte zum einen den Umstand, das alles Lebendige innerlich auf seine allgemeine, mit anderen Wesen derselben Art geteilte Form bezogen ist, herausgearbeitet und zugleich den Menschen dadurch von anderen lebendigen Wesen unterschieden, dass er diese allgemeine Form auf selbstbewusste Weise bestimmt. Hegel bezeichnet diese allgemeine Form, auf die alles Lebendige innerlich, der Mensch aber selbstbewusst bezogen ist, zumeist als „Gattung“. [16] Auf die abstrakteste Formel gebracht, kann man den Unterschied von Leben und selbstbewusstem Leben, Tier und Mensch nach Hegel so bestimmen, dass das bloß lebendige Individuum zwar jeweils schon „an sich“ Gattung ist, es diese Gattung aber noch nicht „für sich“ ist. [17] Lebendiges Selbstbewusstsein – oder: der Mensch – hingegen ist an und für sich Gattung. Mit Marx’ treffendem Ausdruck könnte man auch sagen: Der Mensch besitzt nicht nur an sich Gattungscharakter, sondern ist für sich ein „Gattungswesen“. Ich will im Folgenden zunächst kurz resümieren, inwiefern alles Lebendige nach Hegel an sich Gattung ist, bevor ich die selbstbewusste Form menschlicher Sozialität näher beleuchte.

Im Unterschied zu Thompsons Beschreibung, in der die logische Sozialität alles Lebendigen allein durch die Form eines Urteils aus der Beobachterperspektive herausgearbeitet wird, gibt es bei Hegel die Ambition, dies gleichsam aus der Perspektive des Lebensprozesses selbst herauszustellen. Und im Unterschied zu Thompsons ausschließlicher Fokussierung auf die jeweilige Spezies deutet Hegel die Bezogenheit des Lebendigen auf seine jeweilige Spezies als Manifestation eines noch allgemeineren Gattungscharakters. Lebendige Individuen sind wesentlich in ihrem Lebensprozess auf die allgemeine Form des Lebens, die Hegel „Gattung“ nennt, bezogen. Das zeigt sich im Prozess der inneren Gliederung des Tiers (dem Prozess der Gestalt) ebenso wie im Prozess der Assimilation seiner Umwelt (Assimilationsprozess), in besonders exponierter Form aber im sogenannten Gattungsprozess: dort, wo das lebendige Subjekt in Beziehung zu einem anderen Subjekt der gleichen Spezies tritt und sich eben dadurch in einem neuen lebendigen Subjekt reproduziert.

Der Gattungsprozess im Lebendigen stellt sich nun jedoch in verschiedenen Weisen als beschränkt dar. [18] Auch wenn die positive Gattungsbeziehung, die sich dort ergibt, wo zwei Artgenossen Nachwuchs hervorbringen, „eine affirmative Beziehung der Einzelheit auf sich in [der Gattung]“ [19] darstellt, bleibt hier dennoch eine unauflösliche Spannung zwischen Individuen und Gattung bestehen, die ihr Verhältnis abstrakt macht: Die Individuen erhalten sich in der Reproduktion ihrer Gattung nicht selbst, sondern werden durch die Erfüllung ihrer biologischen Funktion als Individuen verzichtbar. Diese Gattung, die ein „geschlechtsloses Leben“ [20] sein müsste, gewinnt dabei selbst keine unabhängige Existenz als Gattung, sondern nur in einem weiteren lebendigen Individuum, das die Bestimmung hat „sich zu derselben natürlichen Individualität, der gleichen Differenz und Vergänglichkeit zu entwickeln“ [21]. Man kann zwar durch naturhistorische Urteile auf die Spezies oder Art verweisen, eine partikularisierte Gestalt der Allgemeinheit; diese existiert aber nur als ideale Abstraktion in unserem Urteil. Der Prozess der Gattung erweist sich mithin als ein schlecht unendlicher Progress: Die Gattung gewinnt nicht an und für sich und auf allgemeine Weise Gestalt, sondern realisiert sich nur in einer endlosen Kette von Individuen derselben Art, die sich durch das Geschlechtsverhältnis überschreiten und auf eine

Gattung verweisen, die dann aber jeweils wieder „herabfällt“ [22], um sich auf der Ebene neuer Individuen derselben Art zu realisieren. Der Rotluchs überhaupt – sei es im Sinne der abstrakten Allgemeinheit der Spezies oder gar im Sinne der flüssigen Allgemeinheit der Gattung – existiert als solcher in der Natur nicht, sondern erst in unserem Urteil. [23] Hegel drückt den Umstand auch so aus, dass das lebendige Wesen noch nicht für sich selbst die Gattung ist, sondern nur für uns.

Es zeichnet nun nach Hegel hingegen diejenigen selbstbewussten Wesen, die wir sind, aus, dass wir den Gattungscharakter anderer Lebewesen allererst als solchen begreifen und zugleich auch für uns selbst Gattung werden. In der Phänomenologie des Geistes beschreibt Hegel in diesem Sinne die Genese des Selbstbewusstseins aus dem Bewusstsein des Lebens: Da, wo der Gegenstand unseres Bewusstseins ein Lebendiges ist, begreifen wir, dass er Gegenstand unseres Bewusstseins in bestimmter Hinsicht ist, wie der Prozess seines Begreifens. Da, wo ich also den Rotluchs als lebendiges Wesen verstehe – etwas, das ich als Einzelnes nur durch naturhistorische Urteile über den Rotluchs überhaupt bestimmen kann –, dort begreife ich ein einzelnes Wesen als Hervorbringung und Reproduktion seiner Gattung und da begreife ich zugleich, dass der Gegenstand meiner Erkenntnis in bestimmter Hinsicht ist wie ich selbst. Wenn ich den reproduktiven Prozess eines Lebendigen verstehe und begreife, wie sich der Prozess des Lebens als Gattungsprozess realisiert, erkenne ich das Lebendige als „einfache Gattung“, die dies allerdings noch nicht für sich ist. Wir können sagen: Das Lebendige ist seine Gattung nur aus der Dritte-Person-Perspektive, noch nicht in der Erste-Person-Perspektive, aus der heraus wir für uns selbst Gattung sind. Die Einheit des Lebendigen ist der Phänomenologie des Geistes zufolge

die einfache Gattung, welche in der Bewegung des Lebens selbst nicht für sich als dies Einfache existiert –, sondern in diesem Resultate verweist das Leben auf ein Anderes, als es ist, nämlich auf das Bewußtsein, für welches es als diese Einheit oder als Gattung ist. Dies andere Leben aber, für welches die Gattung als solche und welches für sich selbst Gattung ist, [ist] das Selbstbewußtsein. [24]

Das Lebendige besitzt in diesem Sinne Gattungscharakter, entfaltet aber noch kein selbstbewusstes Verhältnis zu diesem Gattungscharakter. In seinem Gattungscharakter verweist es über sich selbst hinaus – auf „dies andere Leben“, als das man das Selbstbewusstsein verstehen muss. Dieses selbstbewusste Leben oder lebendige Selbstbewusstsein – das Leben des Menschen – zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm der Gattungscharakter des Lebendigen zu Bewusstsein kommt und dass dieses Wesen sich zugleich selbst als Gattung bewusst wird. Marx hat für dieses andere Leben den Titel des „Gattungswesens“ vorgeschlagen. Gattungswesen sind wir nach Marx, in genauer Entsprechung zur eben zitierten Stelle aus Hegels Phänomenologie, indem wir die Gattung der übrigen Dinge theoretisch und praktisch zum Gegenstand machen und uns dadurch zugleich zu uns selbst als gegenwärtiger, lebendiger Gattung verhalten. Marx schreibt:

Der Mensch ist ein Gattungswesen, nicht nur indem er praktisch und theoretisch die Gattung, sowohl seine eigne als die der übrigen Dinge, zu seinem Gegenstand macht, sondern – und dies ist nur ein andrer Ausdruck für dieselbe Sache –, sondern auch indem er sich zu sich selbst als der gegenwärtigen, lebendigen Gattung verhält, indem er sich zu sich als einem universellen, darum freien Wesen verhält. [25]

Der Mensch ist in diesem Sinne jenes Wesen, in dem die basale Sozialität des Lebendigen zu sich selbst kommt. Marx markiert dabei auf besonders deutliche Weise, dass das Gattungswesen gerade kein „Artwesen“ ist, wie die englische Übersetzung des Begriffs durch „species being“ fälschlicherweise nahelegt, also kein Wesen, das in den Grenzen seiner gegebenen biologischen Art gefangen ist, sondern Gattungswesen in dem Sinne, dass es den allgemeinen Charakter aller Spezies erkennt und im Ausgang von und im irreduziblen Rückbezug auf seine besondere Spezies eine Lebensform anderer Art konstituiert: die Lebensform eines Gattungswesens. [26] Als Gattungswesen kann sich der Mensch dabei nur verwirklichen, indem er sich auf eine besondere Weise auf seine sozialen Anderen bezieht. Der Andere fungiert als „Mittler“ zwischen mir und meiner Gattung; [27] nur in einem Anderen, auf den ich im Vollzug meines Lebens auf eine ganz bestimmte

Weise bezogen bin, vergegenständlicht sich meine Gattung und nur durch diese Bezogenheit auf einen anderen bin ich Gattungswesen. [28]

Wenn Hegel dies andere Leben, das Leben des Gattungswesens, als das Leben des „Selbstbewusstseins“ charakterisiert, dann könnten wir zunächst versucht sein anzunehmen, dass der Mensch paradoxerweise weniger sozial sein muss als die Tiere. Um sich als Gattung zu beweisen und zu reproduzieren, ist das Tier auf andere seiner Art angewiesen; es ist nie für sich die Gattung, sondern die verschiedenen Einzelnen sind dies nur in ihrer charakteristischen Gattungsbeziehung aufeinander. Das Selbstbewusstsein hingegen ist nach Hegel für sich selbst die Gattung und bedarf, so könnte man also annehmen, keines anderen, um Gattung zu sein.

Das ist nun aber gerade nicht Hegels Position. Statt die Sozialität als Angewiesensein auf andere Individuen im Schritt zum geistigen Wesen hinter sich zu lassen, will Hegel im Gegenteil zeigen, dass ein geistiges Wesen innerlich abhängig von seiner sozialen Bezogenheit auf andere ist. Dass das Selbstbewusstsein für sich selbst die Gattung ist, bedeutet also nicht, dass ein solipsistisches Ich die Gattung in sich selbst auflöst, sondern im Gegenteil, dass das Selbstbewusstsein intrinsisch und in jedem Moment seiner Existenz nur durch anderes Selbstbewusstsein da sein kann. Selbstbewusstsein ist, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes wiederholt festhält, nur für und durch anderes Selbstbewusstsein. [29]

In den Jenaer Systementwürfen formuliert Hegel den entsprechenden Gedanken so, dass der Mensch selbst die Bewegung des Anerkennens ist: „[E]r ist Anerkennen.“ [30] Der Mensch ist also nicht deshalb für sich die Gattung, weil er sich selbst genug wäre, weil er der einsame Beobachter der anderen Tiere wäre, der selbst von niemandem gesehen wird und ganz seiner eigenen ungreifbaren Autorität unterstünde. Er ist nicht der ebenso einsame wie ungreifbare Autor eines Tierfilms. Er ist vielmehr deshalb für sich selbst die Gattung, weil er nur in seiner Beziehung zu anderen Menschen als Individuum existiert.

Sich zu wissen, heißt mithin sich selbst als Teil und Verwirklichung dieser Gattung zu wissen. Selbstbewusstsein ist Gattungsbewusstsein. Das heißt dann aber umgekehrt auch: Keiner von uns ist für sich betrachtet ein Mensch. Er ist es nur als Anerkennung und in und durch die Anerkennung anderer. Fichte hat das so ausgedrückt: „[S]ollen überhaupt Menschen sein, so müssen mehrere sein.“ [31] Mit dem Leitsatz der afrikanischen Ubuntu-Philosophie, an den Tsitsi Dangarembga, die Preisträgerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2021, erinnert hat, könnte man auch sagen: Ich bin, weil Du bist.

Dass es sich so verhält, wird bei Hegel dadurch deutlich, wie er den erstpersonalen Charakter des menschlichen Lebensformbezugs genauer expliziert. Eine erstpersonale Artikulation der Lebensform geschieht nicht in der ersten Person Singular, sondern in der ersten Person Plural. Statt naturhistorische Urteile in der dritten Person zu formulieren, die behaupten, „der Mensch“ tue dies und das, kann man formulieren, wir lebten so und so. Man wird nicht formulieren: Ich lebe so und so. Ein Wesen, das Anspruch darauf erheben kann, Gattungswesen zu sein, wird sein Selbstbewusstsein daher in der ersten Person Plural artikulieren müssen: Es ist in seiner Erstpersonalität selbst sozial. Wir können die erste Person Plural mithin nicht einfach als eine Vergrößerung des Ichs, als Pluralis maiestatis verstehen, sondern müssen ernst nehmen, dass es dieses Wir nur dann gibt, wenn es ein vom Ich unterschiedenes und zugleich auf es bezogenes und mit ihm zu einem Wir vereintes Du gibt. Die erste Person Plural erfordert daher notwendig, dass das ich auf eine zweite Person bezogen ist. [32]

In Hegels Phänomenologie des Geistes wird dies dadurch deutlich, dass Hegel zwei Thesen als unmittelbar miteinander verbunden präsentiert: einerseits, dass das lebendige Selbstbewusstsein die Struktur eines Ich exponiert, das Wir, und eines Wir, das Ich ist; andererseits die These, dass Selbstbewusstsein nur für ein Anderes an und für sich ist. Wir sehen hier, dass erste Person Singular, zweite Person und erste Person Plural im Sinne eines Bedingungsverhältnisses verstanden werden, in dem keines der Elemente in seiner Eigenständigkeit fehlen darf: Fällt das Wir aus, stehen sich nicht Ich und Du gegenüber, sondern vereinzelte Einzelne nebeneinander. Fällt das Du aus, das in Differenz zum Ich treten kann und eine konkurrierende Version dessen bietet, was uns ausmacht, so wird das Wir zu einem bloßen Pluralis maiestatis. Fällt das Ich aus, das sich als singuläre Artikulation des geteilten Wir versteht, die anderen singulären Artikulationen gegenübersteht, so wird das Wir zu einem Man, das uns unterschiedslos aus jedem Einzelnen entgegenblickt. Ein Ich, das Wir, und ein Wir, das Ich ist, gibt es also nur, wenn das Ich im Wir nicht aufgeht und wenn das Wir im Ich besondere Gestalt gewinnt; wenn das Ich einem Du gegenübersteht und das Du einem Ich, die sich als Teil eines geteilten, aber von beiden Seiten je unterschiedlich artikulierten Wir verstehen. Dieses Wir konstituieren sie nach Hegels Bestimmung nicht dadurch, dass sie bestimmte Merkmale teilen, die es uns erlauben, sie als Exemplare derselben Klasse aufzufassen, sondern nur dadurch, dass sie auf eine bestimmte Weise aufeinander bezogen sind – sie sind Teile dieses Wir, indem sie sich wechselseitig als solche anerkennen, und das heißt: indem sie sich als einander anerkennend anerkennen. Dieses Wir ist also eine Gemeinschaft der Anerkennung, eine Gemeinschaft, in die man nur durch den Eintritt in soziale Beziehungen der beschriebenen Art eintreten kann. Die Lebensform des Gattungswesens setzt sich aus jenen Praktiken zusammen, durch die wir eine solche Gemeinschaft konstituieren, erhalten, differenzieren können.

Hegel nähert sich dieser Lebensform in einem ersten Zuge an, indem er ihre Emergenz aus einem Kampf des Anerkennens beschreibt, die in der Asymmetrie von Herr und Knecht eine vorläufige und scheiternde Auflösung findet – eine, die der Sozialität des Menschen nicht gerecht wird und in der weder Herr noch Knecht für sich selbst und den anderen Gattung werden. Wir stehen hier einer Asymmetrie von Ich und Du gegenüber, die dem Ich Anerkennung verspricht, aber nur von einem Du, dem das Ich die Anerkennung versagt, wodurch es selbst den Wert der vom Du erwiesenen Anerkennung untergräbt und das mit dem Du geteilte Wir verleugnet, von dem das Ich abhängig ist und in dessen Namen es zu sprechen behauptet. Die Überwindung dieser Asymmetrie und die Konstitution eines tatsächlichen Wir ist nicht dadurch charakterisiert, dass der Unterschied zwischen Ich und Du verschwände. Vielmehr ist umgekehrt das Verhältnis zwischen Herr und Knecht dadurch charakterisiert, dass der Unterschied beider aufgrund der Einseitigkeit der Konstellation gar nicht zum Tragen und zum Ausdruck kommen kann. Die Konstitution des geteilten Wir konstituiert vielmehr erst den Raum, in dem diese Unterschiede hervortreten und das Ringen um die angemessene Charakterisierung des Wir, das wir auf je besondere Weise teilen, möglich wird – ein Wir, das immer nur ein Ich, das sich anmaßt, für uns zu sprechen, artikulieren kann. Wenn dieses Ich seiner Anmaßung nicht erliegen soll, muss es sich dabei dem Urteil eines Du aussetzen. Das Wir unserer Gattung ist etwas, das wir jeweils für uns selbst sind, dessen Gehalt aber gerade zwischen einem Ich und einem Du ausgehandelt werden muss, die jeweils beanspruchen können zu sagen, was es ist, das wir tun. Das geschieht nicht im Modus der Herstellung eines Tierfilms über das Leben der Menschen, sondern indem wir mit Blick auf das Verständnis, das wir von uns selbst haben – das heißt, die Formen der Anerkennung, die wir sind –, um die Anerkennung der Anderen ringen. Die Selbstbestimmung der Gattung erfordert in diesem Sinne einen politischen Prozess.

3

Wir sind also nach Hegel durch eine fundamentale Sozialität gekennzeichnet, die noch darüber hinaus geht, dass wir – wie Michael Tomasello es nennt – ultrakooperative Tiere sind. Wir sind selbstbewusste ultrakooperative Tiere, und das bedeutet, dass die Teilhabe an unserer Lebensform selbst durch Formen der Anerkennung sozial vermittelt ist. Wenn die vorstehenden Überlegungen nicht fehlgehen, dann ist die menschliche Gattung von besonderer Art: Der Mensch ist ein Gattungswesen in dem Sinne, dass er ein Mitglied seiner Gattung nur durch ein selbstbewusstes und sozial vermitteltes Verhältnis zu seiner Lebensform ist. Wenn Selbstbewusstsein, wie Hegel zu zeigen sucht, nur durch und für anderes Selbstbewusstsein wirklich wird, dann bedeutete dies, dass er Mensch nur als Anerkennung und durch die Anerkennung anderer Menschen ist. Der Mensch ist nichts anderes als ein Verhältnis der Anerkennung. Stanley Cavell drückt diesen Umstand nach seinen zwei Seiten aus: „Being human is aspiring tobe human, […] aspiring to being seen as human.“ [33] Und: „Being human is the power to grant being human.“ [34]

Wenn das stimmt, dann ist das menschliche Leben durch eine soziale Bedürftigkeit und eine soziale Macht gekennzeichnet, die außergewöhnlich sind: ein Bedürfnis nach Anerkennung und eine entsprechende Macht, Anerkennung zu gewähren oder vorzuenthalten, die die Zugehörigkeit zu dieser Lebensform selbst betreffen. Dies macht die menschliche Lebensform zugleich offener und prekärer. Wer oder was immer in der Lage ist, an diesem Spiel der Anerkennung teilzuhaben, kann als einer der Unseren gelten. Dies macht unsere eigene Existenz – buchstäblich unsere Existenz – aber andererseits von der Anerkennung anderer abhängig, die diese Anerkennung vorenthalten und damit die Möglichkeit untergraben können, dass wir ein Wir bilden und uns als Teil dieses Wir konstituieren können.

Dass die Zugehörigkeit zu unserer Lebensform mithin innerlich prekär ist, gründet nicht allein in der notwendigen Freiheit des Anerkennens, in der Freiheit von äußerer Bedingung, mit der es sich qua Anerkennung notwendig vollzieht, bedingt nur durch sich selbst, i. e. durch anderes Anerkennen, ohne sich aus irgendeiner vor jedem Anerkennen vorliegenden Gegebenheit (etwa der Zugehörigkeit zur selben biologischen Art) einfach ableiten zu können. Die Fragilität der Lebensform gründet überdies in der inneren Zwiespältigkeit ihres Resultats: Anerkennung zu erfahren ist ebenso befähigend und befreiend, wie es mich andererseits definiert und festlegt; Anerkennung verleiht mir Status und Recht, macht mich darin aber abhängig von der Anerkennung des anderen. So sehr Anerkennung mich in Stand versetzt, hervorzutreten und Sichtbarkeit zu gewinnen, so sehr liefert sie mich dem Blick des Anderen aus und verstellt den Rückzug in die Unausdrückbarkeit meiner Existenz. Anerkennung bringt so innerlich die Versuchung hervor, Befähigung ohne Feststellung erfahren zu wollen, Berechtigung ohne Abhängigkeit, Sichtbarkeit ohne Beschränkung meiner Fähigkeit zum Entzug. Das kann Anlass dazu geben, Anerkennung erfahren zu wollen, ohne sie selbst zu gewähren. Die Einsicht in die Unmöglichkeit oder Fruchtlosigkeit dieses Vorhabens kann zu dem gegenteiligen Versuch führen, die eigene Abhängigkeit von Anerkennung zu überwinden oder hinter sie zurückzutreten, um eine andere Form der negativen Freiheit und Berechtigung wiederzugewinnen. Diese beiden Versuchungen – einerseits der Versuch, meine Menschlichkeit auf Kosten von und unter Ausschluss von anderen zu behaupten, andererseits der Versuch, meine eigene Menschlichkeit zu verleugnen oder hinter mir zu lassen – überkommen das menschliche Leben nicht von außen und zufällig, sondern sind seiner eigentlichen Form intern. Stanley Cavell drückt dies so aus: „Nothing is more human than the wish to deny one’s humanity or to assert it at the expense of others“ [35].

Um die interne Offenheit und Verletzlichkeit der menschlichen Lebensform genauer zu begreifen, ist es hilfreich, die Art von Anerkennung, von der sie abhängig ist, zu präzisieren. Die zeitgenössische, post-hegelianische Diskussion der Anerkennung bewegt sich zwischen zwei Polen, die beide den hier gemeinten Sinn von Anerkennung nicht treffen. Zum einen bezieht sich die Debatte auf den basalen rekognitiven Status als Person, der als Bedingung der Möglichkeit unserer Teilhabe im Raum der Gründe verstanden wird, und der in diesem Sinne, so scheint es, gar nicht mehr in Frage stehen kann, wenn wir sprechend und handelnd auf andere einwirken und umgekehrt von ihren Äußerungen und Handlungen als Äußerungen und Handlungen affiziert werden. Wenn der rekognitive Status der Person Bedingung der Möglichkeit des Sprechens und Handelns ist und wenn zweifellos unablässig unter uns gesprochen und gehandelt wird, dann ist dieser rekognitive Status offenbar immer schon durch ein basales und minimales Anerkennungsverhältnis etabliert und gesichert.

Zum anderen bezieht sich die Debatte auf eine differenziertere Typik von spezifischeren Formen der Anerkennung – Liebe, Achtung, Wertschätzung –, die als „Voraussetzung“ gelingender „Entwicklung der persönlichen Identität“ rekonstruiert werden können. [36] Die Instituierung und Sicherung solcher Formen der Anerkennung ist voraussetzungsvoller und das durch die richtigen Gestalten dieser Anerkennungsformen mögliche Resultat ist reicher: nicht bloße, abstrakte Personalität, sondern freie, selbstbestimmte „wahre Individualität“ [37]. Die Etablierung angemessener Gestalten und Institutionen solcher Formen der Anerkennung ist selbst schon Gegenstand des Handelns und des Sprechens, worin um diese gerungen wird, und setzt mithin einen minimalen rekognitiven Status voraus.

In beiden beschriebenen Konzeptualisierungen von Anerkennung scheint es Nichtanerkennung als Ausschluss aus der Lebensform nicht geben zu können: Im einen Falle ist Anerkennung immer schon als transzendentale Bedingung von Handeln und Sprechen gegeben, im anderen Falle ist zwar mangelnde Anerkennung und Missachtung möglich, die die persönliche Selbstentfaltung beschränkt, aber als solche keinen Ausschluss aus der eigenen Lebensform impliziert. In dem Verständnis von Anerkennung, das im Vorstehenden entfaltet wurde, tritt hingegen die Möglichkeit von Akten der Missachtung, Verleugnung und Verkennung hervor, die den anderen ausschließt, indem sie ihn nicht als ein autoritatives Mitglied dieser menschlichen Lebensform anerkennt: nicht als ein Ich, das an unserem Wir teilhat, nicht als eine Weise, in der unser Wir in Form eines Ich Gestalt gewinnt. Dieser Ausschluss erfordert nicht notwendig, dass dem anderen die Zugehörigkeit zur selben biologischen Spezies abgesprochen wird; aber er reklamiert einen unbestimmten, in seiner Indefinitheit unendlichen Unterschied, aufgrund dessen andere „von der Existenz in unserem Reich der Gerechtigkeit“ ausgeschlossen werden [38].

Die Form von Anerkennung, die im Vorstehenden skizziert wurde und die die Zugehörigkeit zur menschlichen Lebensform betrifft, steht mithin quer zu zwei genannten Alternativen. Sie ist so grundlegend wie die transzendentale Anerkennung der Personalität, aber so reich, konkret und differenziert wie die Formen der innergesellschaftlichen Anerkennung. Sie betrifft den grundlegenden Status als Teilhaber:in an derselben Lebensform, versteht diesen Status aber als einen, der seine Fraglichkeit auch in den konstituierten Akten gesellschaftlich etablierter Akteure nicht verliert. Die hier entfaltete Perspektive versteht den fundamentalen, gesellschaftskonstituierenden Kampf des Anerkennens so als einen, der in dem innergesellschaftlichen Kampf um Anerkennung wach bleibt und immer wieder von neuem aufbricht. [39] Wenn dieser innergesellschaftliche Kampf um Anerkennung einer um die Form der Liebe, der Achtung und der Wertschätzung ist, durch die sich unsere Sozialität vollzieht, dann sollten wir das nicht so verstehen, dass er ein Kampf um die Verteilung von Liebe, Achtung, Wertschätzung als soziale Güter ist (so als ginge es um ein Mehr an diesen sozialen „Gütern“ und als wäre Missachtung ein Mangelzustand an solchen sozialen Gütern [40]). Liebe, Achtung und Wertschätzung sind vielmehr insofern Gegenstand der Auseinandersetzung, wie ihre Form darüber entscheidet, inwiefern wir uns in ihnen als Gattungswesen realisieren.

Das Problem der Verkennung und Verleugnung, das durch diese Theorie des Anerkennens in den Blick gerückt werden soll, betrifft die Zugehörigkeit zur selben menschlichen Lebensform und ist in diesem Sinne radikal. Das heißt aber nicht, dass sich dieses Problem allein in außergewöhnlichen Grenzsituationen stellt, etwa dort, wo radikal heterogene Gesellschaften an ihrer Außengrenze aufeinandertreffen. Das Problem dieser Verkennung und Verleugnung durchzieht konstituierte Gesellschaften vielmehr innerlich. Es zeichnet sich in Formen des Ausschlusses, der Verleugnung und der Herabsetzung ein, in denen ein indefiniter Unterschied markiert wird, der die menschliche Lebensform von sich selbst trennt. Rassismus, Klassismus, Sexismus sind Gestalten dieser Kluft. Die Formen von Gewalt und Ausschluss, die dadurch in den Blick gerückt werden, können dabei eklatant und strukturell sein, aber sie können sich auch in subtilen, idiosynkratischen, gleichsam persönlichen Gestalten manifestieren. [41] Es zeichnet die menschliche Lebensform in diesem Sinne aus, dass sie zu einer besonderen Form von Gewalt in der Lage ist, die kein direktes Pendant in anderen Spezies hat.

4

Ich möchte mit einem kurzen Ausblick auf einige gesellschaftstheoretische Implikationen schließen, die sich vor dem Hintergrund des hier umrissenen Begriffs der menschlichen Lebensform ergeben. Eine Verschiebung gegenüber anderen anerkennungstheoretischen Ansätzen in der Gesellschaftstheorie liegt darin, dass gesellschaftliche Institutionen nicht allein als Formen der Instituierung und Realisierung der konstitutiven Anerkennung in den Blick kommen, sondern spezifischer: als Weisen, mit ihrer inneren Fragilität umzugehen und die Offenheit der durch sie ermöglichten Lebensform zu erhalten.

Wenn es zunächst grundsätzlich stimmt, dass selbstbewusstes Leben nicht nur mit dem Horizont seiner Erweiterung versehen, sondern ständig von der Möglichkeit seiner Selbstunterminierung begleitet wird, dann scheint es innerlich auf Formen seiner Stabilisierung angewiesen. Wenn selbstbewusstes Leben zu einer Lebensform werden soll, dann kann sie angesichts der beschriebenen Fragilität nicht von einzelnen und jeweils völlig kontingenten Akten der Anerkennung abhängig sein, die jedes Mal von neuem mit gleicher Wahrscheinlichkeit geschehen oder ausbleiben könnten. Sie ist vielmehr von der Stabilisierung der Anerkennung durch die Instituierung und Vergegenständlichung von Anerkennungsverhältnissen abhängig. Die Gewährleistung der menschlichen Existenz, der Existenz eines Gattungswesens bedarf daher anders als die Existenz anderer Tiere nicht allein einer Umwelt, in der sich die Ressourcen für den Prozess der Assimilation finden, sondern einer Lebenswelt [42]: einer Vergegenständlichung unseres Gattungswesens in den geteilten Gegenständen, Institutionen und Praktiken unserer Welt. Wenn der menschliche Geist auf die Weise sozial ist, die ich zu beschreiben versucht habe, dann bedarf er nicht nur unablässig des Mitwirkens einzelner anderer, sondern zugleich der Abstützung der Sozialität in Formen des objektiven Geistes.

In diesen Formen wird Anerkennung nicht auf eine solche Weise gewährt, dass sie jeweils von der willkürlichen Zustimmung eines kontingenten Du abhängig ist. In der Gestalt der Lebenswelt bestätigt sich meine Mitgliedschaft in dieser selbstbewussten Lebensform nicht in jeweils einzelnen Akten der Anerkennung, sondern vielmehr in einem verallgemeinerten Anerkanntsein: in einer Anerkennung, die Welt geworden ist. Die Offenheit und Fragilität der Konstellation aus erster Person Singular, erster Person Plural und zweiter Person erfordert die Konstitution von Figuren des Dritten, die eine Form von allgemeinem Anerkanntsein gewährleisten, die nicht von einer kontingenten Beziehung zu einem Einzelnen abhängig ist. Es geht dabei allerdings um eine Form des Dritten, von dem die Einzelnen nicht separiert sind – nicht das tote Objekt meiner Beobachtung oder der externe Standpunkt, von dem aus ich als totes Objekt beobachtbar werde –, sondern um ein Medium, in dem sich zu bewegen mein Sein bestätigt: eine Welt, in der ich lebe.

Diese Welt ist dabei lebendige Welt in dem doppelten Sinne, dass diese Welt der Prozess ist, durch den wir unser gemeinsames Leben und diese Welt reproduzieren, und dass sie durch und durch adressiv und responsiv ist. Eine in diesem Sinne lebendige Welt ist der Prozess ihrer eigenen Hervorbringung: Die Institutionen, aus denen diese Welt besteht, sind nicht bloß die Produkte unserer Aktivitäten, sondern das produktive Arrangement, die Produzenten dieser Welt. Die Lebenswelt ist zugleich das Produkt und die Bedingung der Produktion des Lebens: Die Lebenswelt ist durch menschliches Leben hervorgebracht und zielt darauf, menschliches Leben von neuem hervorzubringen. [43] Diese Lebenswelt ist lebendig auch in dem Sinne, dass sie keine tote, ungerichtete, bedeutungslose Welt ist, sondern eine, die uns unablässig adressiert und auf unser Reden und Handeln responsiv ist. Es ist in diesem Sinne eine Vergegenständlichung, in der Welt und Selbstbewusstsein so koinzidieren, wie Hegel es für die Sittlichkeit fordert: eine Welt, die im Wissen, Wollen und Handeln des Selbstbewusstseins ihre Realisation findet, ebenso wie das Selbstbewusstsein in der Hervorbringung dieser geteilten Welt seinen Zweck findet. [44]

In dem Maße, wie diese Welt die Anerkennung in festen Formen des möglichen Anerkanntseins objektiviert, entzieht sie diese jedoch zugleich auf gewisse Weise der Disposition freier Aushandlung zwischen einem je besonderen Ich und Du. Sie garantiert allgemeine Formen der Anerkennung, schränkt aber gleichzeitig den möglichen Bereich des Anerkennbaren ein. Der Begriff der Lebenswelt ist vor diesem Hintergrund nicht zufälligerweise dem Verdacht ausgesetzt, dass mit ihm eine bestimmte Enge oder Partikularität der menschlichen Existenz propagiert wird: Unter Lebenswelten verstehen wir üblicherweise vertraute Umgebungen, in denen sich partikulare Lebensweisen bestätigt und durch einen Boden von unbefragbaren Hintergrundgewissheiten abgestützt finden. In einem skeptischen Text über den Begriff hat Niklas Luhmann ganz in diesem Sinne einmal notiert, dass der Begriff der Lebenswelt den Eindruck hinterlässt, dass damit eigentlich Heimatgefühle und Sicherheitsbedürfnisse gemeint sind. [45]

Der hegelsche Begriff der Lebenswelt, den ich hier angedeutet habe, tritt jedoch mit einem anderen Anspruch auf: nicht mit dem Versuch, uns eine heimelige Version der Welt anzuempfehlen, in der wir uns im Vertrauten einrichten und in unseren Vorurteilen bestätigt finden können. Vielmehr zielt der Begriff darauf, eine Welt vorzustellen, die lebt und die deshalb in ihrer ganzen Offenheit und Unabsehbarkeit selbstbewusst erschlossen werden kann. [46] Um Heimatgefühle soll es also gerade nicht gehen, sondern um die Weite des Horizonts, durch die sich die Welt öffnet.

Für die Öffnung der Lebenswelt gegen ihre mögliche Verengung auf vorgegebene Lebensweisen ist in Hegels Theorie der modernen Gesellschaft die bürgerliche Gesellschaft von entscheidender Bedeutung: eine sozial instituierte Sphäre, die zugleich Ansprüche auf geteilte Lebensweisen und sittliche Zwecke suspendiert. In dieser Sphäre sind wir mit bestimmten sozialen Instituten konfrontiert, die man so verstehen kann, dass sie auf die Versicherung der Offenheit der menschlichen Sozialität zielen, diese Sozialität dabei aber zugleich auf eigentümliche Weise verstellen. Ich denke hier an die Institution der Menschenrechte einerseits und die individuellen Rechte von Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft andererseits. [47] Wenn man von der Charakterisierung der Sozialität der menschlichen Lebensform ausgeht, die ich hier umrissen habe, dann erscheinen diese Institutionen paradox. Paradox erscheinen sie insofern, wie sie unsere sozial konstituierte Menschlichkeit dadurch zu schützen suchen, dass sie sie naturalisieren und individualisieren.

Nach dem modernen Verständnis kann die Versicherung des selbstbewussten Lebens nicht so verstanden werden, dass sie es allein in den Grenzen einer vorgegebenen Lebensweise sichert und die universelle Existenz des Gattungswesen gleichsam allein in der Form des Lebens einer bestimmten Art gewährleistet. Die Moderne begreift die Aufgabe der Versicherung vielmehr so, dass es dabei einerseits um die Versicherung gegen die mögliche, immer drohende Verletzung durch Ausschluss aus dem geteilten Leben, durch Versagung der Teilhabe am geteilten Wir geht; zum anderen um die Absicherung der Offenheit unserer Lebensform gegen ihre hegemoniale Festlegung durch wenige. Zum einen gehört es zur modernen Lebenswelt, dass allen unabhängig von der konkreten Anerkennung, die sie im Medium sozialer Teilnahme von einzelnen zweitpersonalen Anderen erfahren, eine minimale Anerkennung, ein mindestens minimales Anerkanntsein ihrer Berechtigung zur Teilhabe zukommt. Die allgemeine Anerkennung dieses Rechts auf Rechte, das Menschenrechte zu instituieren suchen, soll uns gegen einen vollkommenen Entzug von Anerkennbarkeit versichern, der uns unserer Menschlichkeit berauben könnte. Um dies zu leisten, greift die Idee der Menschenrechte dabei zu einer bemerkenswerten Naturalisierung, die uns einen Status qua Natur, also qua biologischer Spezieszugehörigkeit zusprechen will, vor jeder und unabhängig von jeder gelebten sozialen Teilnahme.

Zum anderen gehört es zur modernen Gesellschaft, dass sie jeder Einzelnen als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft individuelle Rechte zuschreibt, die ihr Tun von sittlichen Zwecken und einer geteilten Vorstellung der menschlichen Lebensform freisetzt und sie autorisiert, in den Grenzen der Nichtverletzung Anderer zu leben, wie immer es dieser Einzelnen beliebt. Um diese Offenheit der menschlichen Lebensform und Lebenswelt sicherzustellen, verfährt die Idee der subjektiven Rechte also individualisierend: Ich spreche jeder Einzelnen, gleichsam unter Abstraktion ihrer sozialen Genese und Existenz und unter Einklammerung der sozial etablierten Lebensweisen Rechte zu, die eigene Lebensweise zu bestimmen.

Wir sind hier mit dem Paradox konfrontiert, dass zur Absicherung der über eine biologische Zugehörigkeit gerade hinausgehenden Sozialität des menschlichen Lebens seine Berechtigung naturalisiert wird, und dass zur Sicherung der Offenheit der Sozialität des menschlichen Lebens die Berechtigung von Menschen, daran teilzuhaben, gerade desozialisiert wird. Die Menschenrechte sprechen von angeborenen Rechten, so als gründeten diese Rechte in unserer biologischen Spezieszugehörigkeit; die subjektiven Rechte adressieren den Einzelnen, so als ginge es in ihnen um ein im Grunde asoziales Wesen. Ich hatte eingangs gesagt, dass sich die gängigste Weise, unsere Sozialität zu verstehen, so charakterisieren lässt, dass wir über dieses Merkmal als Individuen verfügen und dass wir es kraft der Tatsache haben, dass wir eine bestimmte Spezies instantiieren. Die Form der Menschenrechte und die Form der individuellen Rechte der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt uns auf eine Weise, die der Form nach auf die übliche, meiner Diagnose nach aber verfehlte Weise, uns als soziale Tiere zu verstehen, zurückführt.

Nach der Deutung, die ich hier vorgeschlagen haben, kann man diese Formen, die unsere Sozialität zu verfehlen, ja zu verstellen scheinen, zugleich als eine paradoxe Antwort auf die inhärenten Probleme der tiefer verstandenen Sozialität der menschlichen Lebensform verstehen. Eben weil wir sozial auf eine Weise sind, die unsere Zugehörigkeit zu unserer Lebensform prekär macht und die unserer Lebensform eine Offenheit verleiht, die sie über einheitliche Lebensweisen hinaustreibt, können diese Formen ihrer Versicherung notwendig erscheinen. Sie antworten auf die historischen Erfahrungen von Ausschluss und Unterdrückung, deren Möglichkeiten in der besonders verletzlichen und offenen Sozialität des Menschen angelegt sind. Es stellt sich aber die Frage, wie wirksam und mit welchen Folgekosten die Versicherung geschieht, wenn die Sozialität der menschlichen Lebensform auf eine Weise geschützt wird, in der sie zugleich verstellt scheint.

Indem wir die Form dieser Sozialität verstehen, können wir also zum einen begreifen, inwiefern diese Züge der modernen Gesellschaft ihre tiefere Berechtigung haben, und zugleich die Frage aufwerfen, inwiefern ihre konkrete gegenwärtige Gestalt jene Form von Sozialität tatsächlich schützt oder aber unterminiert und wie diese Gestalt verwandelt werden kann, damit diese paradoxen Institutionen ihrer Aufgabe besser gerecht werden. Im Ausgang von einem tieferen Verständnis dieser Sozialität scheint es zwingend, dass man die hier in Anspruch genommene Natur und die hier in Anspruch genommene Individualität anders versteht, als es der politische Liberalismus bisher getan hat. Der eigentliche Gehalt der Menschenrechte müsste nicht in einer vom Politischen abgelösten Sphäre natürlicher Ansprüche liegen, sondern die Ansprüche der politische Natur des Menschen betreffen. [48] Der eigentliche Gehalt der individuellen Rechte der bürgerlichen Gesellschaft dürfte nicht Eigentum – souveräne Dispositionsmacht über Sachen gegen andere – sondern die freie Assoziation von Wille und Wille sein. [49] Die Natur und die Individualität, die hier in Anspruch genommen werden, sollten dabei nicht als eine dem geteilten menschlichen Leben vorausliegende und vorgeordnete Ebene verstanden werden, sondern als Reflexionsfiguren, durch die sich die Sozialität des menschlichen Lebens gegen die ihr eigene Grausamkeit und Verletzlichkeit schützt.

Wenn Cavell Recht hat und nichts menschlicher ist als der Wunsch, die eigene Menschlichkeit zu verleugnen oder auf Kosten anderer zu behaupten, dann scheint es eine entscheidende Aufgabe zu sein, genauer zu verstehen, warum es zur Sozialität der menschlichen Lebensform gehört, sich auf diese Weise gegen sich selbst zu kehren. Es steht zu befürchten, dass die Strategien der Versicherung des menschlichen Lebens gegen die ihm eigene Verletzlichkeit und Grausamkeit an der Tendenz der menschlichen Lebensform zu ihrer eigenen Selbstverleugnung selbst noch partizipieren.

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Published Online: 2022-07-16
Published in Print: 2022-07-26

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