Zusammenfassung
Das sogenannte „Messproblem“ ist das zentrale Problem der Quantenmechanik, dessen Lösung das Potenzial hat, unsere Sicht der physischen Welt fundamental zu verändern. Das Problem besteht darin, dass die Quantenmechanik (QM) nicht zu dem passen will, was wir tatsächlich beobachten. Nach einer qualitativen und einer formalen Darstellung des Messproblems der QM werden in diesem Beitrag die Ansätze von Ghirardi, Rimini und Weber (GRW), von de Broglie und Bohm (dBB) sowie von Everett (Vielweltendeutung) besprochen und auf der Grundlage wissenschaftsphilosophischer Bewertungskriterien miteinander verglichen.
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Notes
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Mit „QM“ meine ich hier immer die nicht-relativistische Quantenmechanik.
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Eigenwertgleichungen kann man auch in klassischen Kontexten einsetzen. Z. B. bei einem starren Körper, wie einem Ziegelstein, sind die Eigenwerte des Trägheitstensors seine Hauptträgheitsmomente und die zugehörigen Eigenvektoren seine Hauptträgheitsachsen, welche auch gleichzeitig die drei Symmetrieachsen sind.
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Jedem quantenmechanischen System wird ein eigener Hilbertraum zugeschrieben. Die auf diesem Hilbertraum wirkenden „selbstadjungierten“ Operatoren repräsentieren die Observablen des betrachteten Systems, d. h. die an diesem System prinzipiell messbaren Beobachtungsgrößen.
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Eng damit verbunden ist folgende weitergehende interpretative Behauptung: Eine Observable hat für ein physikalisches System (z. B. ein Elektron) genau dann einen bestimmten Wert – der entsprechend als wohl-definierte Eigenschaft des Systems angesehen werden kann –, wenn der Zustand des Systems ein Eigenzustand der betreffenden Observablen ist. In der angelsächsischen Literatur wird dies oft als „eigenstate-eigenvalue link“ bezeichnet, z. B. in Myrvold (2018) und Albert und Loewer (1996). Letztere sehen dies als Kernbehauptung der Kopenhagener Interpretation, wie sie in von Neumann (1932) kanonisch ausformuliert wird.
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Eine Darstellung der „Bornschen Wahrscheinlichkeitsinterpretation“ für kontinuierliche und diskrete Observablen findet sich in dem umfassenderen Beitrag von Manfred Stöckler.
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Mittelstaedt (2000) führt kurz und zugänglich in die Quantentheorie der Messung ein.
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Zur Erinnerung: Bei Linearität gilt \(f(ax+by)=af(x)+bf(y)\).
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Siehe Abschn. 8 in Faye (2019).
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Das Produkt wird anschließend noch normiert, damit sich über alle Orte summiert bzw. integriert wieder die Gesamtwahrscheinlichkeit 1 ergibt.
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Allerdings müsste dieser Prozess im Konfigurationsraum stattfinden. Dieser Aspekt wird in der Diskussion des GRW-Ansatzes noch eine wichtige Rolle spielen.
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Auch wenn Problematik und Lösung durch die GRW-Theorie traditionell anhand von Messungen dargestellt werden, ist die Angelegenheit tatsächlich viel allgemeiner. Egal ob nun gemessen wird oder nicht, quantenmechanische Überlagerungszustände scheinen im Makroskopischen i. d. R. keine Rolle zu spielen (s. a. Schlosshauer 2007, Kap. 3). Gut erkennbar ist das bei einer alternativen Darstellung der GRW-Theorie (Lewis 1997; Frigg 2009) anhand einer Murmel und einer Box, für die nach der QM der Überlagerungszustand \( \tfrac{1}{\sqrt{2}} | {\text {Murmel in der Box}}\, \rangle + \tfrac{1}{\sqrt{2}} | {\text {Murmel au}}{{\textnormal{\ss} }}{\text {erhalb der Box}} \,\rangle \) erlaubt ist, den wir aber nie beobachten. Ein Messgerät taucht in dieser Darstellung gar nicht auf.
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Die verschiedenen Gesamtteilchenzahlen N und L sollen für die Möglichkeit Raum lassen, dass der Tod mit einer Veränderung der Teilchenzahl einhergeht.
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Eine Frage, die wir dabei ausgeklammert haben, ist, wo der Kollaps eigentlich stattfindet, der durch die Multiplikation der Wellenfunktion mit einer Gaußfunktion beschrieben wird. Die Wellenfunktion ist ja kein Gegenstand in unserem Anschauungsraum. Tatsächlich gibt es heute, zurückgehend auf Bells (1987) begeisterte Rezeption der GRW-Theorie, zwei Hauptvarianten, die Blitz-Theorie \(\text {GRW}_f\) („f“ für „flash“) und die Materie-Theorie \(\text {GRW}_m\) („m“ für „matter“). Auf Einzelheiten möchte ich hier allerdings verzichten, da sich die grundlegenden Probleme der GRW-Theorie schon bei der ursprünglichen Formulierung zeigen. Eine gelungene Darstellung und bewertende Gegenüberstellung von \(\text {GRW}_f\) und \(\text {GRW}_m\) findet sich in Esfeld (2014).
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Siehe von Neumann (1932, S. 109 und Abschnitt IV.2). Von Neumann resümiert: „Man beachte, daß wir hier gar nicht näher auf die Einzelheiten des Mechanismus der ‚verborgenen Parameter‘ eingehen mußten: die sichergestellten Resultate der Quantenmechanik können mit ihrer Hilfe keinesfalls wiedergewonnen werden...“ (S. 171).
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Genauer handelt es sich hierbei im Sinne der speziellen Relativitätstheorie (SRT) um eine „raumartige“ Entfernung von Ereignissen, also eine, die nur mit Überlichtgeschwindigkeit oder sogar nur mit unendlicher Geschwindigkeit überwindbar ist.
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Besonders deutlich wird dies in Bohm und Hiley (1993). Der nicht-lokale Aspekt der Bohm’schen Mechanik steht übrigens nicht notwendig in Konflikt zur SRT (Maudlin 2011). Dass trotzdem ein Konflikt mit der SRT droht, liegt an etwas anderem, nämlich an der offensichtlichen Auszeichnung des Ortes, der ja in der Bohms’chen Mechanik ontologisch die zentrale Rolle spielt.
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Kuhlmann und Glennan (2014) analysieren detailliert, inwieweit der Mechanismusbegriff bei quantenmechanischen Systemen noch anwendbar ist.
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Siehe Bacciagaluppi und Valentini (2009).
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Für die gewöhnliche QM wird so eine epistemische Lesart allgemein als unhaltbar betrachtet. Ein jüngerer Versuch, eine epistemische Interpretation der QM zu rehabilitieren, stammt von Friedrich (2015). Um Missverständnissen vorzubeugen, sollte aber betont werden, dass es Bohm trotz des epistemischen Charakters der Wahrscheinlichkeiten in seinem Ansatz insgesamt gerade nicht darum ging, eine epistemische Lesart der QM zu propagieren, sondern sein Ansatz explizit als eine kohärente „ontologische Interpretation“ (Bohm und Hiley 1993, S. 1) konzipiert ist.
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Hierfür wird die sogenannte Polardarstellung \(\psi = R e^{\frac{i}{h}S}\) der Wellenfunktion verwendet. Eine detaillierte Präsentation und Diskussion des gesamten Ansatzes bietet Passon (2010) und in knapperer Form Passon (2018). Eine weitere schöne Darstellung findet sich in Albert (1992, Kap. 7).
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Die gegenwärtig wohl umfassendste Darstellung bietet Schlosshauer (2007).
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Das bekannteste Beispiel für inkompatible Observablen sind Ort und Impuls.
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Man könnte jetzt auf den Einfall kommen, dass es dann eben alle sechs parallelen Welten gibt. Das würde allerdings zu einer Kaskade an Folgeproblemen führen, die insbesondere mit den quantenmechanischen Wahrscheinlichkeiten für die verschiedenen Messwerte zu tun haben, welche auch in der Viele-Welten-Interpretation sinnvoll untergebracht werden müssen. Das wird uns im Folgenden noch intensiv beschäftigen.
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Im Folgenden spreche ich meist von der „Everett-Interpretation“, verwende aber, wie das auch in der gesamten Literatur üblich ist, weiterhin die praktische Bezeichnung „Welten“.
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Da in der Everett-Interpretation Dekohärenz eine zentrale Rolle spielt und Letztere sich faktisch meist auf die Ortsbasis bezieht, ist entsprechend auch hier die Ortsbasis oft ausgezeichnet. Diese Auszeichnung ist jedoch ein dynamischer Prozess und mithin etwas Emergentes, nicht etwas Fundamentales.
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Eine schöne und knappe Darstellung weiterer Vorschläge zur Rechtfertigung der Gleichgewichtshypothese findet sich in Passon (2018, S. 192–194).
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Die Everett-Interpretation ist damit die paradigmatische „Nicht-Kollaps-Theorie“.
Literatur
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Kuhlmann, M. (2023). Das Messproblem der Quantentheorie und die Vielfalt der Interpretationen – eine kritische Bewertung. In: Fink, H., Kuhlmann, M. (eds) Unbestimmt und relativ?. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65644-0_4
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