Skip to main content

Advertisement

Log in

Therapie als Affront

Zum Konflikt zwischen Behinderten und Medizin

  • Originalarbeiten
  • Published:
Ethik in der Medizin Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Bei der Bemühung um die Emanzipation von körperlich oder geistig beeinträchtigten Menschen kommt es häufig zu einer vehementen Kritik an einem "medizinischen Konzept" von Behinderung. Diesem wird aus Sicht einer "Bürgerrechtsperspektive" entgegengehalten, es gelte nicht, die Menschen zu korrigieren, sondern die Umwelt so zu verändern, dass Betroffene ungehindert am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Nach Auffassung der "Normalisierungskritik" sind es Stereotypen und Stigmata, die es Behinderten erschweren, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Beide Ansätze ignorieren oder bagatellisieren jedoch aus systematischen Gründen die Art und Weise, in der Betroffene ihre physische oder psychische Schädigung subjektiv erfahren. Deshalb kann auch nicht auf die erheblichen Unterschiede reflektiert werden, die zwischen verschiedenen Formen der Behinderung bestehen. Es ist jedoch verfehlt, die Feststellung, dass Behinderte häufig in spezifischer Art bedürftig sind, mit paternalistischer Herablassung gleichzusetzen. Gerade für ein zuträgliches Verhältnis von Medizinern und Behinderten ist es wichtig, exakt jene Differenzen zu berücksichtigen, die zwischen akuten Krankheiten und verschiedenen Formen chronischer Beeinträchtigung bestehen. Nur so können Ärzte dazu veranlasst werden, von einer allzu "interventionsfreudigen" Haltung Abstand zu nehmen.

Abstract

Definition of the problem: Medicine is accused to intend "correction" of people with disabilities. Civil rights activists and scholars of "disability studies" mean that not transformation of people, but adjustment of environment and "deconstruction" of stereotypes and stigmatas would allow people with impairments to live their own life. From this perspective it seems paternalistic to characterize those people as "needy" und to plead for special care. Arguments: One should not ignore or play down the special physical or psychical difficulties and needs, with which people with disabilities are often confronted. It is of great importance especially for the relationship between medicine and disabled people to recognize the difference between acute illness and different forms of chronic impairment. Conclusion: Physicians must recognize that an "intervenistic" strategie is often not an adequate medical attitude towards people with disabilities. Therapeutic professions must reflect critically, if and in which way impairment itself must be "corrected", or if their are other, more decent forms to meet the special needs of disabled people by respecting their autonomy.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this article

Price excludes VAT (USA)
Tax calculation will be finalised during checkout.

Instant access to the full article PDF.

Notes

  1. Dieses Bild von der Medizin als einer repressiven Veranstaltung wurde von der Ausstellung "Der (im-)perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit" vermittelt, die vom "Deutschen Hygienemuseum" gemeinsam mit der "Aktion Mensch" veranstaltet wurde und 2001 in Dresden sowie 2002 in Berlin zu sehen war.

  2. Dass es sich hier keineswegs um eine rein akademische Position handelt, zeigte 1997 und 1999 eine bundesweite Plakataktion unter der Federführung der damals noch so genannten "Aktion Sorgenkind". Die dort annoncierten Slogans lauteten "Behindert ist man nicht. Behindert wird man", "Jeder Mensch ist mehr oder weniger behindert", "Mir fehlt nichts. Und Ihnen?", "Sind Sie etwa normal?" sowie "Geistig behindert ist auch normal". Das Buch zur Kampagne trug den Titel "Die Gesellschaft der Behinderer".—Das eindrucksvolle Buch von James I. Charlton ist aus der Perspektive eines versierten Theoretikers und erfahrenen Aktivisten geschrieben und lässt viele andere Protagonisten, insbesondere Behindertensprecher aus Ländern der Dritten Welt, zu Worte kommen. Systematisch unterscheidet es sich von Anita Silvers' Argumentation in zweierlei Hinsicht: Zum einen bedient sich Charlton Kategorien der politischen Ökonomie und der marxistischen Klassenanalyse; zum anderen legt er Wert darauf, dass Behinderte eine eigene Kultur formieren [3].

  3. Die Position, die hier unter den Titeln "Dekonstruktion" und "Normalisierungskritik" abgehandelt wird, wurde am konsistentesten und umfassendsten von Hans-Uwe Rösner in einer grundlegenden Abhandlung formuliert [14]. Als ein fundierendes, erkenntnisleitendes Theorem geht diese Position jedoch in die unterschiedlichsten Spezialstudien ein, die heute unter dem Begriff "disability studies" subsumiert werden (vgl. [13]). Auf zwei Tagungen wurde inzwischen damit begonnen, diese weitverzweigte Forschungsrichtung auch nach Deutschland zu "importieren": "Der (im-)perfekte Mensch: Zwischen Anthropologie, Ästhetik und Therapeutik" (Juli 2001) sowie "PhantomSchmerz. Debatten um den (im-)perfekten Menschen im 20. Jahrhundert" (Mai 2002). Die Beiträge dieser Veranstaltungen werden veröffentlicht in [11].

  4. Michel Foucault hat programmatisch jenen Typ von "Macht" charakterisiert, gegen den sich heute soziale "Kämpfe" primär zu richten hätten: "Diese Form der Macht wird im unmittelbaren Alltagsleben spürbar, welches das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muss und das andere in ihm anerkennen müssen. Es ist eine Machtform, die aus Individuen Subjekte macht. Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein." Den "Kampf gegen Subjektivierung" stellt Foucault den früher zentralen Kämpfen "gegen Formen der (ethnischen, sozialen und religiösen) Herrschaft" sowie "gegen Formen der Ausbeutung" gegenüber ([7], S. 246f). Hiermit hat Foucault in der Tat einen Paradigmenwechsel beschrieben bzw. inauguriert, der für vieles maßgeblich ist, was im letzten Jahrzehnt etwa im Namen von Frauen, Homosexuellen oder ethnischen Minoritäten proklamiert wurde (vgl. [8]).

  5. Dieser Argwohn erhält zusätzliche polemische Schärfe durch die Unterstellung, dass die therapeutischen Disziplinen überhaupt nur im Interesse ihrer Selbsterhaltung und Selbstermächtigung aktiv werden. So schreiben D. T. Mitchell und S. L. Snyder, die als Begründer der "disability studies" in den USA gelten: "Disability studies... exposes the pleasurable investments undergirding discourses that reproduce, expand, and tediously detail taxonomic catalogs of disability's pathological trajectories. What is the professional titillation that accompanies the exotic land of dysfunction and biological breakdown? How is the attempt to contain and control the chaotic text of disability integral to modern science's ability to manufacture itself as normalizing and authoritative? How have disabled populations been used to solidify and secure definitions of the altruistic service and moral commitment of diagnostic disciplines? Following some of the key tenets of Foucaultian theory, disability study scholars endeavor to analyze the self-serving values and advantages of disability's circulation within all disciplines and cultural discourses. Collectively, scholars of disability seek to understand the various motivations, pleasures, and professional interests that are at stake in the historical construction of disability" ([13], S. 19).

  6. Diese Bemerkung beruht auf meinen eigenen Erfahrungen. Zugleich wird auf entsprechende Passagen in dem ausgezeichneten Buch von Susan Wendell verwiesen ([18], S. 21 f., 25 ff., 44 f., 91 f., 168 f.). Wendell gelingt es auf bewundernswerte Weise, ihre persönlichen Erlebnisse in eine anspruchsvolle theoretische Reflexion einfließen zu lassen. Wendell geht über weite Strecken mit dem Verständnis von Behinderung als "sozialem Konstrukt" und "kulturellem Artefakt" konform—markiert aber exakt die Leerstellen, die durch eine dogmatisch-generalisierende Verwendung dieser Formeln entstehen.

  7. Hier soll nicht behauptet werden, dass die Medizin generell von einer solch eingeengten Sicht geprägt wird. Damit würde das schlichte Faktum ausgeblendet, dass es im therapeutischen Alltag zwischen Medizinern und Behinderten über weite Strecken um Symptomkontrolle und -linderung durch Pharmaka oder Maßnahmen der Rehabilitation geht. Es stellt eine nicht unerhebliche Unaufrichtigkeit auf Seiten der radikalen Medizinkritiker dar zu unterschlagen, dass für nicht wenige Behinderte nur durch solche Unterstützung die proklamierte "selbstbestimmte Lebensführung" überhaupt erst denkbar wird.

  8. Für eine entsprechende Anregung, die mich zu dieser Formulierung veranlasst hat, danke ich Volker von Loewenich.

Literatur

  1. Braun K (2000) Menschenwürde und Biomedizin. Zum philosophischen Diskurs der Bioethik. Campus, Frankfurt

  2. Butler J (1991) Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp, Frankfurt am Main

  3. Charlton IJ (1998) Nothing about us without us. Disability, oppression and empowerment. University of California Press, London

  4. Hillyer B (1993) Feminism and disability. University of Oklahoma Press, Norman

  5. Foucault M (1977) Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp, Frankfurt am Main

  6. Foucault M (1983) Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen. Suhrkamp, Frankfurt am Main

  7. Foucault M (1987) Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfuß HL, Rabinow P, Foucault M (Hrsg) Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Athenaeum, Bodenheim, S 243–261

  8. Fraser N (2001) Multikulturalismus, Antiessentialismus und radikale Demokratie. Eine Genealogie der gegenwärtigen Ausweglosigkeit in der feministischen Theorie. In: Fraser N (Hrsg) Die halbierte Gerechtigkeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 251–273

  9. Kittay EF (1995) Taking dependency seriously: the family and medical leave act considered in light of the social organization of dependency work and gender equality. Hypatia 10:8-29

    Google Scholar 

  10. Kurczewski MG (2001) Disability: an agenda for bioethics. Am J Bioeth 1:37–44

    Google Scholar 

  11. Lutz P, Macho T, Staupe G, Zirden H (Hrsg) (2003) Der (im-)perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Böhlau, Köln

  12. Mahowald MB (1998) A feminist standpoint. In: Silvers A, Wasserman D, Mahowald MB (eds) Disability, difference, discrimination. Perspectives on justice in bioethics and public policy. Rowman & Littlefield, Lanham, pp 209–251

  13. Mitchell, DT, Snyder SL (eds) (1997) The body and physical difference. Discourses of disability. The University of Michigan Press, Ann Arbor

  14. Rösner H-U (2002) Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zum Verhältnis von Macht und Behindertsein. Campus, Frankfurt

  15. Silvers A (1994) "Defective" agents: equality, difference and the tyranny of the normal. J Social Philos 25:154–175

    Google Scholar 

  16. Silvers A (1995) Reconciling equality to difference: caring (f)or justice for people with disabilities. Hypatia 10:30–55

    Google Scholar 

  17. Silvers A (1998) Formal justice. In: Silvers A, Wasserman D, Mahowald MB (eds) Disability, Difference, discrimination. perspectives on justice in bioethics and public policy. Rowman & Littlefield, Lanham, pp 13–145

  18. Wendell S (1996) The rejected body. Feminist philosophical reflections on disability. Routledge, New York

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Rights and permissions

Reprints and permissions

About this article

Cite this article

Kuhlmann, A. Therapie als Affront. Ethik Med 15, 151–160 (2003). https://doi.org/10.1007/s00481-003-0241-6

Download citation

  • Issue Date:

  • DOI: https://doi.org/10.1007/s00481-003-0241-6

Schlüsselwörter

Keywords

Navigation