Zusammenfassung
Sprechen Wissenschaftler üblicherweise vom Platonischen Charakter der Dialektik Schleiermachers, meinen sie deren grundlegend Sokratisch-dialogischen Charakter, zumal Schleiermacher Dialektik als „die Kunst des Diskurses oder des Dialogs“ definierte. Problematisch daran ist nun, daß Platons Dialoge mehr als eine Art von Dialektik aufweisen. Der Aufsatz beginnt mit einem Überblick auf die, in der „Allgemeinen Einleitung“ dargelegten fünf Grunddeutungsprinzipien, die Schleiermachers Interpretation der platonischen Dialektik untermauern, leiten und einschränken sollen (Abschnitt I). Der Beitrag wendet sich dann den Einleitungen der einzelnen Dialoge zu, um zu überprüfen, wie Schleiermacher diese Prinzipien auf konkrete Situationen bei seiner Bearbeitung eines jeden Dialogs anwendet (Abschnitte II–IV). Schleiermacher scheint manchmal einfach die eher spekulativen Züge der Platonischen Dialektik zu ignorieren, wie seine Interpretation des Phaidros zeigt. Gelingt es ihm nicht diese spekulativen Züge zu ignorieren, unterdrückt er sie, indem er einen zwingenden Bezug zur dialogischen Form der Dialektik herstellt, wie seine Interpretationen des Sophistes und des Phaidon zeigen. Läßt er dann schließlich einen bestimmten unabhängigen Status der spekulativen Dialektik Platons zu, marginalisiert Schleiermacher die entsprechenden Passagen so, daß er sie ihrer Bedeutung beraubt, wie seine Interpretation der Bücher V–VII der Politeia zeigt.
© Walter de Gruyter