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Publicly Available Published by De Gruyter (A) April 23, 2024

Auf Rädern

Notizen zu einer Phänomenologie des Fahrens

  • Konrad Paul Liessmann

Abstract

The article outlines the basic lines of a phenomenology of driving. The starting point is the thesis that “driving” does not occur in nature and is therefore a form of movement reserved for humans, which is linked to the invention of the wheel. This invention expanded the possibilities of mobility in technical and social terms. We argue that, on the one hand, travelling on wheels strengthens individuality and the feeling of freedom, but on the other hand it has a strong socio-political component that is often ignored: Efficient driving requires a dense road network, and this only emerges as the achievement of a community. Referring back to Matthew B. Crawford’s philosophy of driving and Günther Anders’ philosophy of technology, the question of whether the “autonomous car” restricts or expands the freedom of drivers is discussed. Finally, it is shown that the concept of driving, as manifested above all in the automobile, has also had a significant influence on our concept of social progress. However, this concept has fallen into crisis due to the ecological collateral damage of combustion technology.

Für Lambert Wiesing

Wir fahren, fahren, fahren auf der Autobahn

Wir fahren, fahren, fahren auf der Autobahn

Vor uns liegt ein weites Tal

Die Sonne scheint mit Glitzerstrahl

Wir fahren, fahren, fahren auf der Autobahn

Wir fahren, fahren, fahren auf der Autobahn

Fahrbahn ist ein graues Band

Weiße Streifen, grüner Rand[1]

Der längst klassisch gewordene Song der deutschen Band Kraftwerk aus dem Jahre 1974 steckt die Thematik der folgenden Überlegungen präzise ab. Wir fahren, fahren, fahren. Landauf, landab, sommers wie winters, durch Städte und Dörfer, über die Alpen und ans Meer. Wir fahren. Aber wie schaffen wir das überhaupt? Der Mensch kann vieles. Er kann kriechen und krabbeln, er kann hüpfen und springen, er kann laufen und rennen, er kann wandern und klettern, er kann schwimmen und tauchen, er kann stolpern und fallen, er kann mitunter sogar aufrecht gehen. Aber zwei Bewegungsformen sind ihm verwehrt: Er kann nicht fliegen. Und: Er kann nicht fahren.

Die Sache mit dem Fliegen ist einfach. Der Mensch sah, dass andere Tiere es können. Und er entwickelte den Traum, es ihnen gleich zu tun, die Schwerkraft zu überwinden und durch die Lüfte zu gleiten. Der Mensch hat jedoch keine Flügel, und es dauerte Jahrhunderttausende, bis sich dieser Traum über komplizierte technische Umwege realisieren ließ. Wie aber kam der Mensch auf die Idee zu fahren? Niemand in der Natur fährt, es gibt keine fahrenden Tiere, an denen sich der Mensch hätte orientieren und den Wunsch entwickeln können, sie nachzuahmen. Wie der kontrollierte Gebrauch des Feuers gehört das Fahren zu den Tätigkeiten, die den Menschen von allen anderen Wesen unterscheiden. Dass wir kein Teil der Natur mehr sind, zeigt sich nicht zuletzt an dieser seltsamen Form der Fortbewegung, die wir mit dem facettenreichen Verb „fahren“ beschreiben.

Etymologisch ist diese These nicht ganz korrekt. Die alt- und mittelhochdeutschen Wurzeln von „fahren“ können ursprünglich jede Form einer Bewegung markieren. Noch die „fahrenden Leute“ des Mittelalters – Vaganten, Scholaren, Handwerker auf der Walz, Schausteller und Schauspieler, Sänger und Huren – konnten sich auf alle möglichen Arten fortbewegen. Sehr bald aber schränkt sich dieses weite Bedeutungsfeld ein. Zur Klärung des Phänomens des Fahrens sei dieser Begriff deshalb für jene Formen der Mobilität reserviert, die eine Gerätschaft und im Weiteren eine zusätzliche Energiequelle zur Voraussetzung haben. Wer fährt, braucht das Rad. Phänomenologisch ist das Fahren an genau diese und keine andere Erfindung des Menschen zu binden. Wer fährt, fährt auf Rädern, und wer nicht auf Rädern fährt, fährt überhaupt nicht. Wer fährt, hat seinen Körper durch diese Technik, die es ihm plötzlich erlaubt, mit atemberaubenden Geschwindigkeiten dahinzurollen, einer Gerätschaft anvertraut. Das charakterisiert auch jene Bewegungsformen, für die wir einen erweiterten Begriff des Fahrens verwenden: Denken wir an die Schifffahrt, bei der sich der Mensch zuerst einem ausgehöhlten Baumstamm, später aufwendigeren Konstruktionen überantwortet. Oder an das alpine Skifahren, das begann, als man sich Holzlatten an die Füße schnallte, um teuflisch schnell einen schneebedeckten Hang hinabzugleiten. Bleibt man mit seinen Skiern in der Ebene, wird man jedoch zum Langläufer. Aber nur im Rad materialisiert sich jene Vorbildlosigkeit, die dem Fahren als spezifisch menschliche Tätigkeit zu konzedieren ist. Schwimmende Hölzer mögen den Menschen zum Bau erster einfacher Boote und Schiffe inspiriert haben, dass Gegenstände über eine glatte Fläche abrutschen können, wird schon der Eiswanderer Ötzi beobachtet haben. Aber nirgends in seiner belebten und unbelebten Umgebung konnte der Mensch ein Rad erblicken. Das Rad, so Jürgen Kaube in seiner Studie Die Anfänge von allem, „kommt in der Natur nicht vor“.[2]

Das Rad und mit ihm das Fahren zählen dann auch zu jenen Technologien, die nicht einfach als Organfortsetzung oder Organverbesserung, sondern als neue Qualität gedeutet werden müssen. Die Hand, die einen Stein wirft oder einen Speer schleudert, ist dieselbe, die eine Rakete, die moderne Form des Speers, abschießt. Doch kein menschliches Organ führt, wie modifiziert durch Technik wir es auch denken mögen, zum Rad. Für dieses „Gebilde, das sich um 360 Grad dreht und so gelagert ist, dass es zwei Freiheitsgrade hat, die Drehung in sich und die Rollrichtung, wenn es den Boden berührt, geben weder der menschliche Körper noch die Umwelt Anregungen“.[3] Räder sind nur schwerlich als optimierte Füße zu verstehen, auch wenn das Fahren mithilfe der Räder den Körper von fast jeder Eigenbewegung entlastet. Möglich, dass rollende Steine oder kullernde Baumstämme den Menschen zur Erfindung des Rades inspiriert haben. Doch auf die Idee muss man erst einmal kommen: das Runde so zu denken, dass daraus ein raffiniertes Fortbewegungsmittel wird.

Das Rad, das mittlerweile unsere Zivilisation in mannigfacher Weise beherrscht, ist so auch eine späte Erfindung des Menschen, wahrscheinlich nicht viel älter als 5000 Jahre. Ihr Ursprung liegt im Dunkeln der Geschichte. Wann, wo und zu welchem Zweck zum ersten Mal Räder benutzt wurden: Darüber gibt es nur Spekulationen. Möglich, dass sie im Zusammenhang mit dem Abbau von Kupfer einschlägig verwendet wurden und mit starren Achsen auf gespurten Bahnen liefen.[4] Und auch wer das Rad kennt, etwa als Töpferscheibe oder als rituellen Gegenstand, muss es nicht zur Fortbewegung oder zum Transport einsetzen. Die alten Kulturen Mittelamerikas kannten zwar das Rad, wussten damit aber in einem praktischen Sinn wenig anzufangen. Sie konstruierten keine Wagen, vielleicht weil es an potenziellen Zugtieren mangelte.

Zwei oder vier Räder durch eine Achse zu verbinden, die Erfindung einer lenkbaren Deichsel und Pferde als tierischer Antrieb: Die Urform jenes Vehikels, das Fahren überhaupt erst ermöglichte, war damit geboren. Was in den nächsten Jahrtausenden dazukam – Wagenformen, Karosserien, Speichen – änderte nichts an diesem Prinzip. Sogar der Verbrennungsmotor ersetzte vorerst lediglich die Pferde einer Kutsche. Wer auf sich und sein Auto etwas hält, gibt dessen Leistung noch immer in den metaphorischen Pferdestärken (PS) und nicht in den physikalisch exakten Kilowatt an. Wer aber fährt in solch einem Gefährt? Was leistet dieses? Nun, zum einen wird damit der Transport von Gütern aller Art erleichtert. Und zum anderen wird der Bewegungsradius des Menschen dadurch gravierend erweitert. Das bedeutet auch: Das auf Rädern rollende Gefährt erlaubte es sogar denjenigen, rasch voranzukommen, die sich selbst nicht oder nur schwer bewegen oder kein Pferd reiten konnten. Die Erfindung des Rades enthält einen emanzipatorischen Impuls: Sie verschafft auch Immobilen eine gewisse Mobilität.

Sieht man vom klassischen, für den Kriegseinsatz und dem Wettkampf vorgesehenen Streitwagen mit zwei Rädern und einem Lenker ab, war der eigentliche Nutznießer dieses Gefährts sehr bald nicht derjenige, der fuhr, sondern derjenige, der gefahren wurde. Die Kutsche oder, in Wien, der bis heute von Touristen geliebte Fiaker mögen dafür als Beispiel dienen. Das Volkslied konnte wohl den Postillon, den „Schwager“ hoch auf dem gelben Wagen besingen,[5] aber der Wagenlenker war ein Dienstleister für jene, die sich den Luxus leisten konnten, bewegt zu werden. Die Insassen der neuen Benzinkutschen wurden dann auch von einem Chauffeur – ursprünglich der Heizer einer Lokomotive – gefahren. Von Gottlieb Daimler, der den ersten vierrädrigen Wagen mit Verbrennungsmotor entwickelte, wird erzählt, dass er dieser Erfindung kaum Erfolgsaussichten zubilligte: „Die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen wird eine Million nicht überschreiten – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren.“[6] Auf die Idee, dass sich nahezu jeder Mensch bereitwillig zu seinem eigenen Chauffeur degradieren und dies auch noch als Ausdruck von Autonomie, Souveränität und Freiheit genießen werde, war Daimler nicht gekommen. Etwas von dieser Haltung ist in jenen sozialen Verhältnissen aufbewahrt, in denen ein Politiker oder Manager selbstverständlich sein Dienstfahrzeug nicht selbst lenkt, sondern ein angestellter Fahrer diese Arbeit übernimmt. Mitunter genießt dieser besonderes Vertrauen und Ansehen: hängt doch das Wohl eines Menschen von ihm und seinen Fahrkünsten ab.

Wer vom Fahren in einem emphatischen Sinn spricht, meint deshalb nicht einfach die Tatsache, dass wir uns mit Hilfe eines Gefährts auf Rädern fortbewegen bzw. fortbewegen lassen – das gilt etwa für Fahrgäste in Bahnen, Bussen, Taxis –, sondern dass wir selbst einen rollenden Untersatz steuern. Das klassische Fahrrad – warum dies eine so späte Erfindung ist, Jahrtausende, nachdem das Rad schon längst bekannt war, könnte einmal Gegenstand einer eigenen Reflexion sein – ist dadurch gekennzeichnet, dass als Antrieb lediglich die eigene Körperkraft zur Verfügung steht. Durch immer ausgeklügeltere mechanische Übersetzungen wird diese Kraft zwar verstärkt, sie findet aber in der Konstitution des Fahrers ihre äußerste Begrenzung. Wie bei keinem anderen Fahrzeug bilden deshalb Rad und Lenker eine Einheit, Körper und Gerät sind untrennbar aufeinander angewiesen, wer aufhört zu treten, fällt um. Beim Motorrad und Automobil, bis zu einem gewissen Grad auch beim E-Bike, wird die eigene Körperkraft durch eine andere Energiequelle ersetzt, die Verbindung zwischen dem rollenden Vehikel und seinem Lenker bleibt aber bestehen. Er muss den Antrieb durch Hände oder Füße kontrollieren, er muss das Fahrzeug steuern, er muss Geschwindigkeit, Verkehrssituation und Kurvenradius aufeinander abstimmen und entsprechend auch physisch darauf reagieren:

Jede leichte körperliche Modulation wirkt sich auf das Fahrverhalten aus, beim Auto sensibel über Fußgelenke, Hände und Arme, beim Zweirad über den gesamten Körper. Die eigene Steuertätigkeit impliziert damit ein enges Verhältnis zwischen Leib und Fahrzeug […] In dieser engen Verbindung kommt es bei geübten Fahrern zu einer Verschmelzung von Leib und Fahrzeug, eine Ausdehnung des Eigenraums, in dem Auto und Fahrer eine empfindsame Einheit bilden.[7]

Wer hingegen gefahren, also transportiert wird, kann bewegungslos bleiben. Das gilt vor allem für die Passagiere im Fond, schon weniger für den Beifahrer, der manches Manöver zumindest gedanklich mitvollziehen kann, und dies gilt gar nicht für den Gefährten. Dieser ist nicht nur ein Beifahrer, ein Passagier, den ein Fahrer mitnimmt. Der Gefährte ist der Begleiter im Fahren, der sich auf diese Dynamik einlässt, dem Lenker mental und physisch assoziiert ist, dessen Ziele und Wege teilt, mitunter selbst das Steuer übernimmt. Gemeinsam eine Fahrt zu unternehmen ist etwas anderes, als zufällig dasselbe Fahrzeug zu benutzen oder die gleiche Strecke zu befahren.

Der Nimbus des Fahrens ist untrennbar mit dem Freiheitsversprechen verbunden, das die Steuerung eines Automobils verspricht. Doch dieses Versprechen ist schon lange brüchig geworden. Aktuell ist diese Aura durch das Gespenst des autonomen Fahrens bedroht. Der Herrscher über Schaltung, Getriebe, Motor und Räder mutiert zu dem, was er auch in grauer Vorzeit schon war: zu einem Fahrgast. Doch nicht ein dienstbarer Lakai, sondern ein ausgeklügelter Algorithmus übernimmt die Steuerung des Fahrzeugs. Aber lässt sich von jemandem, der gefahren wird, überhaupt sagen, dass er fährt? Der amerikanische Philosoph und bekennende Anhänger des Verbrennungsmotors Matthew B. Crawford, Autor einer voluminösen Philosophie des Fahrens, sieht in der Utopie des autonomen Automobils den entscheidenden Angriff auf alles, was die Lust am Fahren und das Wesen des Automobils ausmacht: „Zu fahren bedeutet, unsere Fähigkeit zur Freiheit auszuüben. Und wenn wir uns ans Steuer setzen, können wir nicht anders, als diese Fähigkeit zu fühlen.“[8] Automatisierte Systeme höhlen diese Fähigkeit aus und transformieren unser Handeln in ein bloßes „Geschehen“.[9] Es gehört zur unfreiwilligen Ironie von Crawfords Argumentation, dass er sich bei seiner Kritik an unserer „Ergebenheit gegenüber den Maschinen“ ausgerechnet auf die „prometheische Scham“ des Kryptophänomenologen Günther Anders beruft,[10] der stets davor gewarnt hatte, dass sich der Mensch der Technik zunehmend ausliefere und dadurch entmündigt werde. Anders sah diese Gefahr auch dort, wo die Technik vermeintliche neue Freiheiten suggeriert. Voraussetzung für die „prometheische Scham“ ist jenes „prometheische Gefälle“, das den Menschen prinzipiell zu einem Anhängsel der von ihm konstruierten Maschinen werden lässt.[11] Für Anders ist die Konsequenz klar: „Die Subjekte von Freiheit und Unfreiheit sind ausgetauscht. Frei sind die Dinge: unfrei ist der Mensch.“[12] Im autonomen Automobil, so ließe sich schlussfolgern, erfüllt sich der Traum der fahrenden Maschine: Sie übernimmt das Kommando. Der Fahrgast, der machtlos in seinem Automobil sitzt und hofft, dass die künstliche Intelligenz an Bord keine Fehler machen wird, begibt sich ja nicht zuletzt deshalb in diese Abhängigkeit, weil davon ausgegangen wird, dass autonome Systeme ein Vehikel besser und sicherer steuern als ein Mensch. Für einen Autofahrer alter Schule, der ohne Automatik gerne durch die Kurven driftete, wahrlich ein Grund zur Scham. Nebenbei: Crawford, der sich auf eine englische Übersetzung des ersten Kapitels der Antiquiertheit des Menschen stützt – vollständig ist dieses zentrale Werk europäischer Technikphilosophie noch immer nicht ins Englische übertragen –, konnte deshalb folgende Notiz von Günther Anders, die sich in den Anmerkungen zum zweiten Band der Antiquiertheit des Menschen finden, nicht kennen:

So sieht, wer etwas Phantasie besitzt, den Autos an, daß diese ihre Fahrer in (im Vergleich mit Buspassagieren) skrupellose, wettrennsüchtige Wesen verwandeln, in Wesen, die für den Appell zur Solidarität taub werden werden. Es gibt wohl kein Ding, das der Arbeiterbewegung einen so unrevidierbaren Schaden zugefügt hat wie das Auto.[13]

Günther Anders hat jedoch einen Aspekt des Automobils übersehen: Wer auf Rädern fährt, ist nicht allein. Das Gefühl, einsam in seinem Auto eine Landschaft zu durchstreifen, trügt. Wenn auch nicht unmittelbar, sind die Gemeinschaft und damit eine bestimmte Form der Solidarität stets präsent: als Straße. Oder, wie es bei Kraftwerk heißt: „Graues Band, weiße Streifen, grüner Rand.“ Viel zu selten wird bedacht, dass Straßen kein Geschenk des Himmels, sondern Resultat menschlicher Aktivitäten sind, angelegt, um dem Fahren überhaupt eine Chance zu geben. Sieht man von erst spät entwickelten geländegängigen Fahrzeugen oder Raupengeräten ab, erforderte das mit Rädern ausgestattete Fuhrwerk immer schon das Anlegen von breiteren Wegen und Straßen, um ein halbwegs effizientes Vorankommen zu ermöglichen. Im Gegensatz zum Fußgänger oder Reiter, die sich auch durch unwegsames Gelände schlagen können, im Extremfall durch Schluchten oder kleine Gewässer, sogar über hochalpine Schneefelder irgendeinen Weg finden, den die Natur anbietet, scheitert das konventionelle Fahrzeug am kleinsten Hindernis. Jeder Fluss, jede Geröllhalde, jede Sanddüne kann zu einer unüberwindlichen Hürde werden. Wer fahren will, benötigt nicht nur ein entsprechendes Vehikel mit einem geeigneten tierischen, menschlichen oder technischen Antrieb. Wer fahren will, benötigt vor allem eine Fahrbahn, die den Rädern jenes leichte Rollen ermöglicht, das das Fahren zu einer mobilitätstechnischen Option und zu einem emotionalen Erlebnis werden lässt.

Wer fährt, hebt nicht ab. Er ist an einen Untergrund gebunden, der allerdings nicht beliebig sein kann. Der Fahrende hat selbst keinen unmittelbaren Kontakt zu diesem, anders als der Fußgänger, Wanderer oder Läufer spürt er die Erde unter sich nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch mittelbar. Die Räder, ob jetzt Holzscheiben, Speichenräder mit Eisenbeschlag oder mit luftgefüllten Reifen, und der damit verbundene Antrieb vermitteln zwischen dem fahrenden Akteur und der Landschaft, die durch das Fahren erschlossen werden soll. Die Räder übertragen die Informationen über Bodenbeschaffenheit, Hindernisse, besondere Qualitäten der Fahrbahn, Bodenhaftung in Kurven bei hoher Geschwindigkeit sowohl haptisch als auch akustisch an den Lenker. Umgekehrt vermitteln die Räder die Wünsche und Befehle des Fahrers in letzter Konsequenz an die Fahrbahn. Diese mit Hand und Fuß vorgenommenen Anweisungen müssen den Straßenverhältnissen und den Leistungen des Antriebs angepasst sein. Kommt es hier zu Missverhältnissen, machen sich diese dem Fahrer durch Ausbrechen, Schleudern, Quietschen, dem Touchieren eines Randsteins oder gar einem Defekt schmerzhaft und laut bemerkbar.

Etwas erfahren bedeutet in diesem Sinn keine unmittelbare, sondern stets eine durch ein Gefährt vermittelte Begegnung mit der Welt. Wir erfahren in solch einer Erfahrung etwas über die Welt in Hinblick auf unsere Möglichkeiten der Mobilität, und wir erfahren in dieser Erfahrung etwas über uns, unsere Wünsche und Ziele, unsere Möglichkeiten und Grenzen, unsere Freiheiten und Abhängigkeiten. Im Auto und im Verkehr entdecken wir Seiten an uns, die uns vorher unbekannt waren – von aggressiven Wutausbrüchen bis zu spontaner Hilfsbereitschaft. Erfahrung ist nicht reduzierbar auf unmittelbare Wahrnehmungen und Begegnungen, auch nicht auf deren Abgleich mit Erinnerungen, sondern beschreibt den voraussetzungsreichen Raum eines selbstständigen Navigierens. Erfahrungen stoßen uns nicht zu, sondern definieren einen zielgerichteten Vorstoß in wenig bekanntes Terrain. Tägliche Routinefahrten oder halbautomatisierte Fahrten auf der von Kraftwerk besungenen Autobahn reduzieren diese Erfahrungsmöglichkeiten – außer es geschieht Unerwartetes. Zu einem avancierten Begriff des Fahrens gehört die Fahrt auf kurvigen Straßen und Serpentinen, die einen Pass und damit einen neuen Horizont erschließen, durch Landschaften, die nach jeder Richtungsänderung andere Gestalten präsentiert. Einerseits muss die Aufmerksamkeit bei solchen Fahrten im besonderen Maße auf die Straße gerichtet sein, da diese selbst mit Unabwägbarkeiten gespickt ist, andererseits erhascht man aus den Augenwinkeln etwas von der Vielfalt einer sich rasch ändernden Umgebung. Zu dieser Form der Erfahrung gehört deshalb eine Wahrnehmung, die sich an den Rändern des Sichtfeldes ereignet, eher erahnt denn scharf gesehen.

Erfahrungen wären so eine Kombination von willentlichen Lenkungsakten mit dem Überraschenden und Unvorhergesehenen, ein Nebeneinander von gebannter Aufmerksamkeit und peripherer Resonanz. Der Begriff der Erfahrung rekurriert auf dieses aktive Moment: Wir machen Erfahrungen, indem wir uns in der Welt bewegen, im topographischen und metaphorischen Sinn unterschiedlichste Gebiete durchstreifen. Der Zeitgeist kennt jedoch das Machen von Erfahrungen fast nur noch im Passiv. Wer Diskriminierungs- oder Gewalterfahrungen macht, ist immer deren Objekt, nie das dagegen aufbegehrende Subjekt, und auch die Rede davon, dass etwas mit uns etwas macht, zeugt von dieser Reduktion der Erfahrung auf ein Ausgeliefertsein. Die Erinnerung an das Fahren als einen intentionalen Akt könnte der Erfahrung die Dimension selbstverantwortlicher Welterschließung und die damit verbundenen Souveränitätsansprüche zurückgeben.

Die Räder sind die Werkzeuge dieser Erfahrungsmöglichkeit. Sie stellen den Kontakt zu dem Untergrund her, der auch über die Möglichkeiten und Grenzen des Fahrens und der damit verbundenen Erfahrungen entscheidet: zur Straße. Diese wird bei allem Fahren als eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, die sich wahrlich nicht von selbst versteht. In den idyllischen Verklärungen unendlicher Fahrten durch unendliche Landschaften erscheint die Straße wie ein Stück Natur. Dies ist sie aber mitnichten. Straßen bauen sich nicht von allein. Das Anlegen von befestigten und gesicherten Wegen setzt eine entwickelte, arbeitsteilige Gesellschaft voraus, die geologische Kenntnisse mit Materialbeherrschung, handwerklichen Fähigkeiten und politischem Weitblick verbindet. Straßen sind immer auch Orte der Begegnung und des Konflikts, Signale territorialer Ansprüche und Ausdruck zunehmender Mobilität, mit allen ökonomischen, sozialen und militärischen Konsequenzen. Es gibt die Heerstraßen, die vor allem dem raschen Transport und dem Vorankommen bewaffneter Formationen dienten. Wie sehr das Fahren und die Straße aufeinander bezogen sind, wird schlagartig deutlich, wenn es zwar noch Straßen gibt, aber darauf kaum mehr gefahren wird. Die Bilder von Menschen, die, einen Handkarren ziehend, sich in Kriegs- oder Krisensituationen eine Straße entlang schleppen, gewinnen ihre Intensität nicht zuletzt durch dieses Missverhältnis. Cormac McCarthys düsterer Roman The Road hat die Straße in diesem Sinne zu einem Ort dystopischer Hoffnungslosigkeit gemacht, der nach einer Menschheitskatastrophe marodierenden Kannibalen ebenso als Bewegungsraum dient wie den wenigen Menschen, die vor deren Brutalität fliehen. Die zweckentfremdete, nicht mehr befahrene Straße wird zum Sinnbild innerer und äußerer Verwüstung.[14]

Die Qualität und Dichte eines Straßennetzes gilt Historikern deshalb auch als zuverlässiger Indikator für den Entwicklungsstand einer Zivilisation, der Verfall eines solchen als deutliches Zeichen für einen Niedergang. Paradigmatisch dafür sei an das umfangreiche Straßennetz erinnert, das die Römer quer durch ihr Imperium angelegt hatten und dessen technischer Standard bis heute Bewunderung und Respekt hervorruft. Erstaunlich, wie selten bei der Romantisierung der Straße – man denke an die unzähligen Roadmovies – an deren profane Hintergründe gedacht wird. Nur im so wenig geliebten Baustellenbereich einer Autobahn wird uns bewusst, dass jemand dafür sorgen muss, dass wir überhaupt fahren können. Allerdings übertönt in der Regel der Ärger über die dadurch bedingten Verzögerungen die Einsicht, dass Fahren eben kein singuläres Unternehmen, sondern ein gesellschaftlich-zivilisatorisches Projekt ist.

Die Kritik von Günther Anders wird damit jedoch nicht hinfällig: Fahrzeuge, die wir individuell steuern und nutzen, isolieren uns auch; gleichzeitig gehört eine funktionierende Ordnung eines Gemeinwesens zu den unabdingbaren Voraussetzungen dieser Art der Fortbewegung. Die Freiheit des Automobilisten hängt von der Dichte und Beschaffenheit des Straßennetzes ab. An diesem lässt sich eine immer wieder diskutierte Ambivalenz exemplarisch demonstrieren: So sehr der Straßenbau eine technische und soziale Leistung eines Gemeinwesens ist und die Idee eines solchen zur Voraussetzung hat – Straßen sollen vor allem verbinden –, so sehr wird die Straße zum Ort, an dem der Einzelne seine Individualität, auch seinen Egoismus im Akt des Fahrens im wörtlichen Sinne erfahren kann.

In Kombination mit einem schnellen Wagen auf Rädern verändert die Straße die Wahrnehmung von Zeit und Raum. Wer fährt, sieht die Welt anders:

Der frontale Blick macht den Auto- oder Motorradfahrer zum Mittelpunkt des Geschehens und Handelns, während der seitliche Blick den Passagier zum unbeteiligten Zuschauer macht. Je schneller wir fahren, desto schmaler erscheint das vor uns liegende Band der Straße. Der Raum um uns herum verengt sich, die Fixierung auf den vor uns liegenden Horizont nimmt gleichzeitig zu.[15]

Vor allem letztere Beobachtung beinhaltet weitreichende Konsequenzen. Im Gegensatz etwa zu einem Reiter, der sich durch eine Savanne bewegt und jederzeit wenden bzw. zurückblicken kann, ist solch ein Manöver demjenigen verwehrt, der ein Auto auf einer stark befahrenen Straße bewegt. Die Straße beherrscht das Gesichtsfeld, die Wahrnehmung ist auf diesen Ausschnitt verengt, gleichzeitig ist alles fokussiert auf die Bewegung nach vorne. Schweift der Blick von der Straße ab, verliert er sich länger als Bruchteile einer Sekunde in dem, was sich neben der Straße zeigt, kann dies sofort ein mitunter tödliches Risiko bedeuten. Nur eine Augenbewegung, die nicht den Straßenverlauf abtastet, ist erlaubt: der rasche Blick in den Rückspiegel. Er soll sicherstellen, dass sich der Vorwärtsbewegung, etwa bei einem Überhol- oder Abbiegemanöver, nichts in den Weg stellt. Am Rückspiegel zeigt sich ein zentrales Moment des Selbstverständnisses einer modernen Gesellschaft: Der Blick zurück ist nur erlaubt, wenn er dem Voran- und Weiterkommen dient. Nostalgisch sich in dem zu verlieren, was schon hinter einem liegt, ist in der Politik genauso gefährlich wie auf der Autobahn.

Das galt übrigens schon für die archaischen Fahrten mit einer Postkutsche, wie es uns das Volkslied berichtet: „Möchte wohl ruhen im Schatten, / Aber der Wagen rollt.“[16] Für den modernen Automobilisten gilt das durch ein Hindernis oder einen Stau erzwungene Innehalten als empfindliche Störung, zu einer Umkehr genötigt zu werden, gleicht einer Niederlage. Das Volkslied deutet die Unerbittlichkeit des rollenden Rades als Sinnbild für die Vergeblichkeit, im Leben zu bleiben:

Sitzt einmal ein Gerippe

Hoch auf dem Wagen vorn,

Trägt statt Peitsche die Hippe,

Stundenglas statt Horn – Ruf’ ich: „Ade ihr Lieben,

Die ihr noch bleiben wollt;

Gern wär’ ich selbst noch geblieben,

Aber der Wagen rollt.“[17]

Im Fahren, gleich ob man selbst lenkt oder sich einem anderen überlässt, liegt eine Unerbittlichkeit, ein Immerweiter, das keine Rücksicht auf jede Form des Zurückbleibens nimmt. Wenn wir umgangssprachlich monieren, dass über ein berechtigtes Anliegen einfach drübergefahren wurde, drückt sich diese Gewalt, die im Akt des Fahrens selbst liegen kann, bildlich aus. Nebenbei: Die legendäre Interpretation dieses Liedes durch den damaligen Bundesaußenminister und späteren Bundespräsidenten Walter Scheel aus dem Jahre 1973 hat diese letzte Strophe gestrichen.[18] Das Memento Mori passte nicht in eine Zeit, in der die rollenden Räder der deutschen Automobilindustrie noch unbeschränkten Fortschritt signalisierten. Man könnte die These riskieren, dass dieser seit dem 19. Jahrhundert verschärfte Begriff des Fortschritts ohne die Erfahrung, die wir massenhaft mit dem Automobil gemacht haben, überhaupt ein anderer wäre. In diesem „Fort“ steckt eine Geradlinigkeit, eine Dynamik, eine Gerichtetheit, die weder Umwege noch Abweichungen, weder Moratorien noch Umkehren kennt. Wir fahren nicht nur auf der Autobahn, wir fahren auch auf den Bahnen, die die Ereignisse durch die Geschichte schlagen. Unsere Metaphern für den Zustand einer Gesellschaft sind deshalb unübersehbar von der Logik des Fahrens inspiriert. Weder Staaten noch Unternehmen oder Institutionen dürfen stehenbleiben, und wehe, es entsteht der Eindruck, dass sie von anderen überholt werden. In einer Kolonne das Schlusslicht zu sein, ist das Schlimmste, was heute jemandem passieren kann. Zumindest in der Sprache erscheint die Logik des Wettbewerbs in der Form eines Straßenrennens.

Aber: Man kann sich auch verfahren. Weder gut ausgeschilderte Straßennetze noch moderne Navigationsgeräte schützen davor, eine Abzweigung zu verpassen oder sich in einem Gewirr von Wegen zu verirren. Die Verantwortung dafür liegt – noch! – beim Fahrer. Das gilt auch im übertragenen Sinn. Manche zeitkritischen Diagnosen gehen mittlerweile davon aus, dass die Automobilisierung der Gesellschaft spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts in eine Sackgasse geführt hat, dass wir uns mit der Erfindung und dem flächendeckenden Einsatz des Verbrennungsmotors gründlich verfahren haben. Ob der Wechsel der Antriebsart ausreicht, um die klimapolitische Kurve gerade noch zu erwischen und die Biosphäre zu retten, ist an dieser Stelle nicht zu beantworten. Eines aber scheint sicher: Wer in diesen Fragen auf die beschleunigte Entwicklung innovativer Technologien setzt und diese durch entsprechende wirtschaftspolitische Manöver auf die Straße bringt, befindet sich auf der Überholspur. Gute Fahrt!

Literatur

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Published Online: 2024-04-23
Published in Print: 2024-04-25

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Downloaded on 7.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/dzph-2024-0001/html
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