Zusammenfassung
Medizinethische Entscheidungsfindungsmodelle müssen nachweisen können, weshalb die mit ihnen getroffenen Entscheidungen richtig oder zumindest „belastbar“ sind. Hierfür sind theoretische Rechtfertigungsansätze aus der Ethik unverzichtbar. Der Klinischen Ethik wird aber mitunter ein Mangel an theoretischer Fundierung vorgeworfen. Um diesem Vorwurf entgegenzutreten, soll unter Bezugnahme auf ein Projekt der Klinischen Ethik („METAP“) die ethische Unterstützung in Form der ethischen Fallbesprechung und der Ethikkonsultation mittels Prinzipienethik und Diskursethik gerechtfertigt werden. Prinzipienethik und Diskursethik können einander über das Medium der ethischen Fallbesprechung oder Ethikkonsultation fruchtbar ergänzen. So können einige theoretische und praktische Schwächen der beiden Ansätze durch den jeweils anderen abgefedert werden. Die Diskursethik übernimmt bspw. die Sicherung der ethischen Gültigkeit von moralischen Entscheidungen bzw. Handlungsnormen und vermindert dadurch ein Rechtfertigungsdefizit, welches bei einem rein prinzipienorientierten Verfahren auftritt. Umgekehrt antwortet die Prinzipienethik u. a. auf Fragen der ethischen Angemessenheit und dient v. a. der adäquaten Einzelfallentscheidung. Durch die Integration des einen Ansatzes in den anderen ist eine umfassendere Rechtfertigungsleistung erzielbar als bei einem alleinigen Einsatz von Prinzipienethik oder Diskursethik. Selbst wenn einige Herausforderungen bestehen bleiben und auch das integrierte Modell moralische Dissense nicht immer verhindern kann, vermag es durch seine „doppelte“ Absicherung (Prinzipien und Diskurs) ein praktisches Vertrauen in die getroffene ethische Entscheidung zu stärken und so der Klinischen Ethik mehr „Robustheit“ zu geben, als sie bisher besitzt.
Abstract
Definition of the Problem Models of decision making in medical ethics have to establish themselves as being able to lead to ethically right or at least “credible” decisions. For this purpose, approaches of theoretical justification stemming from ethics are vital. However, clinical ethics is sometimes criticized for theoretical deficits. In order to address this criticism, we will try to justify ethical case discussion and ethics consultation by principlism and discourse ethics by referring to a clinical ethics project (METAP). Arguments Principlism and discourse ethics can fruitfully complement each other when used in ethical case discussion or consultation. Thereby, some theoretical as well as practical weaknesses of both approaches can be mitigated. Discourse ethics, for example, safeguards the ethical validity of moral decisions and norms for action, respectively, thus mitigating shortcomings of justification when using principlism. Conversely, principlism answers questions concerning ethical adequacy and functions particularly as a safeguard for appropriate decisions in the individual case. Conclusion By using a combination of these two approaches, a broader justification seems possible rather than by relying on principlism or discourse ethics alone. Even if some challenges persist, and even if the combined model cannot always prevent dissent, it may strengthen practical confidence in the ethical decision by its „double“ safeguards (principles and discourse). This could render clinical ethics more „robust“ that have been missing so far.
Notes
Auch die philosophische Ethik bleibt nicht vom Schicksal akademischer Disziplinierung verschont: Disziplinäre Interessen wie bspw. die Lösung anerkannter theoretischer Probleme und ihre intra-, inter- und metatheoretische Bewertung stehen oft im Vordergrund.
Projekte mit Förderung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) Nr. 3200B0-113724/1 und Nr. 32003B-125122. Principal Investigator: Prof. Dr. Stella Reiter-Theil, Co-Investigator: Prof. Dr. Hans Pargger.
Im Folgenden werden nur die männlichen Schreibweisen verwendet, aber die weiblichen mitgedacht.
Dies gilt jedoch nicht für Normen, die nicht verallgemeinerbar sind; „[i]m Falle widerstreitender besonderer Interessen kann lediglich ein Kompromiss durch kluges Verhandeln erzielt werden“ ([16], S. 261).
Dies bedeutet nicht, dass Entscheidungen ohne Zustimmung des Patienten getroffen werden (sofern dieser noch ausreichend diskursfähig ist). Es bedeutet nur, dass die Gültigkeit oder Ungültigkeit (im Sinne der DE) der Entscheidung einer EF erst dann sichtbar werden kann, wenn der Patient zustimmt resp. ablehnt. – Schmucker geht hier einen Schritt weiter, wenn er rät, Personen, die nicht juristische Stellvertreter sind, nicht am Diskurs teilnehmen zu lassen, sich aber mit Angehörigen zu beraten, um den mutmaßlichen Patientenwillen zu eruieren ([30], S. 18).
Gleichwohl lassen sich auch aus solchen Diskursen Einsichten gewinnen. Diese können Grundsatzfragen aufwerfen, die auf einer höheren Ebene aufzuarbeiten wären, etwa dann, wenn Hinweise auf die Benachteiligung bestimmter Patientengruppen erkennbar werden (z. B. [15]).
Wobei zu bedenken ist, dass nach Beauchamp und Childress die „common morality“ mehr als „nur“ ein Konsens oder eine Theorie ist, die weit verbreitet ist: Sie enthält die universale Moral [3].
Dem stimmt Habermas offenbar zu und betont die Wichtigkeit moralischer Gefühle für den „Diskurs-Input“ ([8], S. 148).
Im METAP-Buch ([1], u. a. S. 102) werden weitergehende Kriterien für ethische Angemessenheit – die über das diskutierte Kriterium der Angemessenheit im Rahmen der DE hinausgeht – angeboten, die aber maßgeblich auf den vier Prinzipien und einem diskursethischen Prozess beruhen. Was aber dort fehlt, ist die theoretische Rechtfertigung, wie PE in die DE integriert werden soll.
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Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
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Mertz, M., Albisser Schleger, H., Meyer-Zehnder, B. et al. Prinzipien und Diskurs – Ein Ansatz theoretischer Rechtfertigung der ethischen Fallbesprechung und Ethikkonsultation. Ethik Med 26, 91–104 (2014). https://doi.org/10.1007/s00481-013-0243-y
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Schlüsselwörter
- Prinzipienethik
- Vier Prinzipien
- Diskursethik
- Klinische Ethik
- Ethische Fallbesprechung
- Ethikkonsultation
- METAP