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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter June 10, 2021

Theologica Paradoxa

Dialog und Disputation als Sprachformen evangelischen Denkens

  • Marius Timmann Mjaaland EMAIL logo

Zusammenfassung

In der Heidelberger Disputation (1518) lehnt Luther die aristotelische Anthropologie und den scholastischen Gottesbegriff ab. Stattdessen behauptet er die Einheit der Verborgenheit Gottes am Kreuz und der paradoxalen Liebe Gottes zu den Menschen. Nicht nur in diesem Fall, sondern dauerhaft und durchgehend scheint die polemische und zugespitzte Form der Disputation die evangelische Theologie geprägt zu haben – im Guten wie im Schlechten. Ich gehe daher der Frage nach, wie die Sprachformen der Disputation und des Dialogs dieses Denken diskursiv formatiert haben. Die sokratische Wahrheitssuche einerseits und die scholastische Polemik andererseits haben m. E. diese Denkform tiefgehend beeinflusst. Mit seiner Schrifthermeneutik spitzt aber Luther die theologische Wahrheitsbehauptung noch einmal zu. Theodor Dieter lehnt aber Luthers Disjunktion zwischen Selbstliebe und Kreuzesliebe als weder schlüssig noch besonders überzeugend ab. Gegen Dieter schlage ich vor, dieses Denken anders zu interpretieren, und zwar vom Paradox her. Dadurch komme ich zu einer neuen Antwort auf die alte Frage nach dem Schibboleth, dem Grundprinzip und der Erkennbarkeit einer „evangelischen“ Sprache.

Summary

In the Heidelberg Disputation (1518), Luther rejects the Aristotelian anthropology and the Scholastic notion of God. Instead, he proclaims the unity of God’s hiddenness on the cross and God’s paradoxical love for human beings. Not only here, but also in a more general and lasting sense, it seems like the polemical and exaggerated form of the disputation has influenced “evangelical” thinking. Hence, I pursue the question how the linguistic forms of disputation and dialogue have discursively formatted this thinking. It is deeply affected by Socratic search for truth on the one hand and Scholastic polemics on the other, but with Luther’s scriptural hermeneutics, the theological assertions reach a new level of sophistication and power. However, Theodor Dieter rejects the asserted disjunction between self-love and love of the cross as neither coherent nor convincing. Contra Dieter I suggest a different interpretation of this thinking, setting out from the paradox. I conclude with a new answer to the old question of the Shibboleth, the basic principle and recognisability of a language spoken “according to” the gospel.

Woran erkennt man eine evangelische Sprache? Sind die gewählten Worte entscheidend, oder eine bestimmte (etwa dialektische) Form des Denkens und des Streitens oder sogar der Ton des gesprochenen und geschriebenen Wortes? Martin Luther wollte in den Jahren 1517-18 keine Reformation oder gar Kirchenspaltung in Gang setzen, er wollte keine neue Konfession. Er war verzweifelt über die Kirche und über sich selbst und wurde vor allem ein Suchender: Er suchte die Wahrheit, er suchte Gott, und er versuchte, die Wahrheit Gottes als Evangelium so scharf und deutlich wie möglich auszudrücken und zu vermitteln. Dieses Suchen und dieses Versuchen wurden ein und dasselbe, insofern es als Wortgeschehen gedeutet wurde und als solches nur in der Form einer evangelischen Sprache vermittelt werden konnte. Das Evangelium war ja weder seine Erfindung noch sein Eigentum, sondern eine Wahrheit, die der Augustinermönch in der Schriftlektüre, vor allem in den Psalmen und bei Paulus wiederentdeckt hatte, auf seiner Art und Weise. Im Römerbrief und im Ersten Korintherbrief hat er das Evangelium als Wort vom Kreuz identifiziert und als solches hat es an polemischer Schärfe gewonnen. Das Kreuz wird als Zeichen der Liebe gedeutet, aber auch als Zeichen des Todes. Es ist ein Zeichen des Widerspruchs und des Widersprechens. Es eignet sich hervorragend für eine polemische Disputation.

Dieser Beitrag will die Frage der Kreuzestheologie – insbesondere der Differenz zwischen Selbstliebe und Liebe des Kreuzes – zur Schlüsselfrage einer evangelischen Sprache machen, und zwar so wie die Frage in der Heidelberger Disputation (1518) formuliert wird. Luther ist wegen dieser Unterscheidung gelobt, aber auch kritisiert worden. Ein Kritiker behauptet, dass Luther die aristotelische Definition des Menschen nicht richtig verstanden hat und deshalb den Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Liebe zu polemisch und am Ende theologisch unvertretbar zieht.[1] Wenn man Luther so liest, würde ich dem zustimmen, aber ich glaube, man könnte ihn auch anders lesen, ohne die polemische Spitze der Disputation zu verlieren. Dann müsste man aber diese Disputation – und das evangelisch-theologische Denken – anders interpretieren, und zwar vom Paradox her. Ich werde deshalb die kontroversielle Frage nach dem Grundprinzip evangelisch-theologischen Denkens stellen, um sie anhand der Heidelberger Disputation, der Kreuzestheologie und der Differenz zwischen Selbstliebe und Liebe des Kreuzes zu entscheiden. Am Ende hoffe ich dadurch, die Frage nach der Erkennbarkeit der evangelischen Sprache beantworten zu können.

I. Einleitung: Die Frage nach einer „evangelischen“ Theologie

In der Heidelberger Disputation [HD] formuliert Martin Luther ein polemisches und prägnantes Argument, das nicht nur die Reformation, sondern auch das spätere evangelisch-theologische Denken geprägt hat. Es gibt 28 theologische Thesen, die für seine theologische Position, insbesondere die Christologie, entscheidend wurden, aber auch 12 Thesen, die seine Position philosophisch gegen die Schultheologie verteidigen. Es gibt eine Reihe von Texten, die die Reformation und die darauffolgende „evangelische“ Theologie geprägt haben, aber die Beschränkung auf einen Text ermöglicht eine präzisere Diskussion. Ich habe deshalb die HD als paradigmatisches Beispiel evangelischen Denkens gewählt, und werde insbesondere darauf achten, wie die Form der Disputation Luthers Argument vermittelt und eine politisch-theologische Spitze verleiht.[2] Diese Prägnanz und Schärfe ist einerseits eine akademische Stärke und Ausdruck einer kompromisslosen Wahrheitssuche. Es kann sich allerdings auch als Schwäche erweisen, falls diese Form in Rechthaberei und Selbstvergewisserung übergeht, wofür es in der evangelischen Theologie – systematisch wie historisch – einige Beispiele gibt. Die Leitfrage dieser Überlegung ist, inwiefern Dialog und Disputation als geeignete Sprachformen evangelischen Denkens gelten können.

Die Kreuzestheologie Luthers in der Heidelberger Disputation ist ein Beispiel für den Anspruch, das Entscheidende auf den Punkt zu bringen und in wenigen Sätzen festzuhalten. Andererseits werde ich die Leitfrage auch kritisch und formal erläutern: Die Form des Dialogs, und vor allem der Disputation, sind durchaus charakteristisch für evangelisches Denken, als polemische, wahrheitssuchende und konfessionelle Denkform, die in mancher Hinsicht auch als besonders problemorientierte und paradoxale Theologie auffällt.

Überhaupt nach einer „Sprachform“ evangelischen Denkens zu fragen, birgt allerdings einige Risiken in sich. In der Theologie des frühen 20. Jahrhunderts gab es ein erneutes Interesse für die Leitlinien evangelisch-theologischen Denkens. Es wurde durch die sogenannte Lutherrenaissance (1910–1940) eingeleitet, die in Deutschland und Skandinavien für erneutes Interesse am konfessionellen Luthertum sorgte.[3] Aus dieser Zeit gibt es zum Teil sehr scharfsinnige Lutherstudien, die auch das Verständnis für Luthers Schriften vertieft haben, aber dieses Erbe gehört auch zu den problematischsten Epochen der modernen Theologiegeschichte. Schon bei Karl Holl finden wir eine Idealisierung des jungen Luther und des sogenannten „reformatorischen Durchbruchs“, die nach dem ersten Weltkrieg auch nationalistische Züge annahmen. In den 20er und 30er Jahren folgte eine politisierte und zum Teil nationalistische Interpretation von Luthers Theologie, insbesondere seiner Kreuzestheologie, etwa bei Emmanuel Hirsch, Paul Althaus und Werner Elert.[4] Die gesamte Lutherrenaissance wurde dadurch diskreditiert. Die dialektische Theologie nimmt auch Bezug auf Grundprinzipien in Luthers Theologie, ist aber gegenüber dem Nationalsozialismus sehr kritisch, aus prinzipiellen, aber auch pragmatischen Gründen. In politisch kontroversen Zeiten ist also die lutherische Theologie ideologisch missbraucht worden; sie konnte aber auch, wie etwa bei Dietrich Bonhoeffer und Eivind Berggrav, zum Widerstand motivieren. Diese Fragen der deutschen Geschichte möchte ich hier nicht weiterverfolgen, sondern spezifisch auf Inhalt und Form des Textes fokussieren.

Auch in der Interpretation der Luthertexte gibt es allerdings deutliche Spannungen. Die skandinavische Lutherrenaissance hat bei Theologen wie Anders Nygren in Lund eine neue Auseinandersetzung mit dem christlichen Liebesbegriff hervorgerufen, die sich unter anderem auf die 28. These der HD beruft.[5] Bei Nygren wird eine klare Trennung zwischen Eros, der menschlichen Liebe, und Agape, der göttlichen Liebe, vorgenommen – eine begriffliche Distinktion, die weltweit großen Einfluss auf das theologische Denken hatte, in den letzten Jahren aber scharf kritisiert worden ist.[6] Auch die Distinktion Luthers in der Heidelberger Disputation zwischen menschlicher und göttlicher Liebe ist auf deutliche Kritik gestoßen, etwa durch Theo Dieter.[7] Dieter behauptet erstens, dass Luther die Anthropologie von Aristoteles nicht richtig verstanden hat und zweitens, dass seine Disjunktion zwischen göttlicher und menschlicher Liebe nicht stichhaltig ist. Eine solche Auseinandersetzung mit der Tradition ist allerdings grundsätzlich ein charakteristisches und m. E. hoch zu schätzendes Kennzeichen einer evangelischen Theologie, die nicht nur kritisch, sondern auch selbstkritisch vorgeht.

In der letzten Hälfte des 20. Jahrhundert gibt es auch eine Erneuerung der lutherischen Position im Spannungsfeld zwischen Theologie und Philosophie, wie etwa bei Gerhard Ebeling.[8] Seine intensive Auseinandersetzung mit Luthers Schriften hat Ebeling nicht von der Philosophie seiner Zeit ferngehalten, sondern zum Entwurf einer innovativen hermeneutischen Religionsphilosophie angespornt. Heute gibt es weitere Versuche, Luthers Theologie mit philosophischen Neuansätzen zu konfrontieren und aufs Neue zu interpretieren, etwa bei Martin Wendte, Gesche Linde oder Philipp Stoellger.[9]

Allerdings gehört auch die kompromisslose Verteidigung der lutherischen Position zu dieser Theologie, also ein Harren auf das Grundprinzip als die unverwechselbare und einzig mögliche evangelische Wahrheit. Dazu möchte ich den Göttinger Dogmatiker Klaus Schwarzwäller als typisches, wenn auch etwas sonderbares, Beispiel erwähnen. Als er 1969 seine Habilitation zur dogmatischen Grundlegung der Prädestinationslehre bei Luther vorgestellt hat, ließ er auch ein kleines Büchlein, sibboleth, veröffentlichen – ein Forschungsbericht über 100 Jahre Forschung zu De servo arbitrio.[10] Alle Beiträge von Althaus und Aulén über Ebeling, Elert, Gogarten, Iwand und von Loewenich bis Pannenberg und die Seeberg-Brüder werden hier kritisch aufs Grundprinzip geprüft. Außer Hans Joachim Iwand gibt es nur einen einzigen Theologen, der es verstanden hat, und zwar Klaus Schwarzwäller.[11] Diese beiden würden Luther korrekt verstehen und so das „Schibboleth“ richtig aussprechen; sonst würden sie alle lispeln, „Sibboleth“.

Woran erkennt man also eine evangelische Sprache? Auch Schwarzwäller verdeutlicht ein typisches Merkmal evangelisch-theologisches Denkens, obwohl das Typische hier in die Karikatur getrieben wird. Wenn es ums Grundsätzliche geht, um das Grundprinzip, dann gibt es kaum eine Disziplin wie die evangelische Theologie: Das Ganze soll auf den Punkt gebracht werden, und zwar ganz radikal, kompromisslos, und gerne in der Form eines Paradoxes. Die Disputation eignet sich für solche Positionen: Die Schärfe des Arguments, die antagonistische Form, das Streitgespräch. Auf die Sprache, ja sogar auf das richtige Aussprechen des Wortes kommt es an. Eigentlich ging es im 16. Jahrhundert um die Übung (das Exerzitium) oder die Wahrheitsfindung (inquirenda veritatis causa), aber am Ende ging es auch um Feind oder Freund, um das richtige oder falsche Bekenntnis, ob der Feind römisch oder schwärmerisch war, ob Jude oder Türke. Auch diese würden lispeln und hätten dadurch, vielleicht, das Schwert und den Tod verdient?

Hier sehe ich also den kritischen Punkt: In der Disputation finden wir, prinzipiell betrachtet, grundlegende Merkmale des evangelisch-theologischen Denkens wieder – im Guten wie im Schlechten. Um beide Seiten deutlich zu machen, werde ich hier historisch wie systematisch vorgehen: Zunächst die Form und Funktion der Disputation im 16. Jahrhundert skizzieren und dann auf die Heidelberger Disputation konkretisieren. Danach folgt ein Argument zum Grundprinzip evangelisch-theologisches Denkens, und am Ende eine kritische Auseinandersetzung mit einem zentralen Aspekt dieses Denkens – die theologischen Paradoxa der Liebe – in der Form eines Schibboleths. Gerade in der Differenzierung der Liebe hat die Form des Schibboleths eine unverkennbare Spur in der Sprache hinterlassen. Deshalb werde ich am Ende zur Anfangsfrage zurückkehren: Woran erkennt man eine evangelische Sprache?

II. Die Disputation im 16. Jahrhundert

Die entscheidenden Ereignisse der Reformation sind von einer Disputation ausgegangen, und zwar die von Luther formulierten 95 Thesen zum Ablass.[12] Es ist zwar nirgends bestätigt, dass die Disputation öffentlich stattgefunden hat, aber der Text ist aus der literarischen Gattung der Streitgespräche hervorgegangen.[13] Streit war angesagt und Streit gab es in unvorhersehbarem Maße. Die Disputation war eine weit verbreitete und in der Scholastik besonders beliebte Form akademischer Auseinandersetzung, die sich in unterschiedlichen Formen und durch verschiedene Anlässe veranstaltet wurde. Luther selbst hat 50 Disputationen geschrieben und/oder geleitet, und sie dienen zum Teil sehr unterschiedlichen Zwecken.[14] Die erste Disputation von 1516 ist für die Promotion von Bartholomäus Bernhardi zum Sententiar geschrieben, betrifft aber die spannende und für Luther zentrale Frage, ob die Menschen von sich aus die Gnade oder mit Hilfe der Gnade Verdienste erwerben können.[15] Für Luther ist es nicht nur eine stilistische Übung, es geht um die Sache, um die für ihn entscheidende Wahrheit, kontrovers verstanden. Umgekehrt scheint ihm diese kontroversorientierte Gattung wichtig zu sein, um die Sache auf die Spitze zu treiben.[16]

Die zweite Disputation Luthers (Contra scholasticam theologiam, 1517) ist eine Programmerklärung gegen die scholastische Theologie. Auch hier ist der Anlass eine Promotion. Sie betrifft aber eine andere umstrittene theologische und kirchenpolitische Kernfrage dieser Zeit: Wer besitzt die gültige Autorität in der Auslegung der Schrift?[17] Darf Thomas von Aquin – und durch Thomas Aristoteles – die Prämissen für eine zeitgemäße Interpretation legen oder muss man zurück zu Augustin? Luthers Widerstand gegen die scholastische Theologie war nichts Exzeptionelles – im Gegenteil, sie war ungefähr so normal wie die Schultheologie selbst. Aber ist es nicht ein performativer Widerspruch, wenn Luther diese Kritik in der Form einer scholastischen Disputation formuliert?

Damit stoßen wir schon auf eine generelle Frage, die für die Einschätzung von Luthers Disputationen entscheidend ist: Welche Rolle spielte im Spätmittelalter die Disputation? Welche formalen Erwartungen gab es, welche Positionen und Gegenpositionen? Alex Novikoffs Studie von 2013 gibt einen guten Einblick in die Kultur und Praxis der Disputationen im Mittelalter.[18] Er sieht einen sokratischen Hintergrund für die dialogische Form der Wahrheitssuche, während Augustin als Vorbild für die literarische Gattung der Disputationen dient. Anselm wird dann zum entscheidenden Vertreter dieser Gedankenform im 11. Jahrhundert.[19] Schon zu dieser Zeit zielt die Disputation auf eine präzise und argumentative Klärung der Wahrheit und bedient sich dabei der Dialektik und Grammatik. Von großer Bedeutung ab dieser Zeit wird aber die Frage, wie sich die Grammatik zur Dialektik, die Auslegung der Schrift zum Denken verhält.[20] Wenn die Disputation etwas später, im 13. Jahrhundert, institutionalisiert wird, wird sie auch zunehmend „agonistisch“.[21] Der Zweck ist zwar häufig pädagogisch, aber die Form ist stets polemisch und es geht immer wieder um die Klärung der Wahrheit durch Logik und Dialektik, aber auch um die Grammatik der Schriftauslegung. Für Thomas von Aquin geht es vor allem darum, Fehler zu eliminieren und eine zuverlässige Methode zu finden, um Wahrheit von Täuschung zu unterscheiden.[22]

Im Spätmittelalter werden Disputationen grundsätzlich für zwei Zwecke veranstaltet, wie Reinhard Schwarz schreibt: exercitii causa oder inquirenda veritatis causa. Einerseits sollen sie „[...] der Übung im Argumentieren mit Einwand und begründeter Antwort, andererseits dem Aufspüren, Begründen und Verteidigen theologischer Wahrheit dienen.“[23] Diese Begründungen deuten auf unterschiedlichen Funktionen hin, auch in den Disputationen Luthers. Sie werden aber kaum explizit im Vorwort oder in der Einleitung seiner Disputationen erwähnt. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass die beiden Zwecke nicht so einfach auseinanderzuhalten sind. Die Übung, das Exerzitium, kann ja durchaus auch der Wahrheitssuche dienen.

Die Disputation im Spätmittelalter ist ein paradigmatisches Beispiel für das was wir heute mit Wittgenstein ein Sprachspiel nennen.[24] Es hat deutliche Regeln, Spielregeln, die wir als Grammatik bezeichnen können, und diese Spielregeln werden in einer bestimmten Situation sinnvoll. Mit den rhetorischen, logischen und dialektischen Mitteln des Sprachspiels kann man zur Wahrheit gelangen – und diese Wahrheitssuche ist von Prozeduren und Konventionen umzingelt. Auch wenn Luther sich in mancher Hinsicht gegen die gängige Autorität wehrt, tut er das mit den Mitteln der institutionellen Prozeduren. Er behauptet ständig, dass er die Wahrheit besser erkennt und dass er, anhand der biblischen Quellen und Kirchenvätern, überzeugender als seine Gegner dafür argumentieren kann. Luther braucht also die Regeln der Logik, um seine Wahrheitsbehauptung (Assertio) zu begründen, und trotzdem kämpft er gegen Aristoteles und die Scholastiker, weil diese angeblich die Wahrheit verdrehen und nicht die Sache im klaren Licht der Schrift erkennen können oder wollen.[25] Die Argumentation in Luthers Disputationen ist von seiner besonderen Situation aus betrachtet mehr oder weniger überzeugend, oft polemisch, aber durchaus nachvollziehbar. Er kennt das Spiel und die Spielregeln bis zur Perfektion, kann aber durchaus auch die Spielregeln brechen oder dehnen, wenn es seiner Sache dienlich ist.[26] Auch wenn er seine Gegner deutlich adressiert, hat er, jedenfalls laut Bucers Bericht aus Heidelberg, jedem zugehört und ist auf die Argumente eingegangen.[27] Wenn wir das schriftliche und das mündliche Zeugnis zusammenhalten, wird es also deutlich, dass Luther auf Dialog, aber auch auf kontroverse Disputation viel Wert gelegt hat.

Im Verhältnis zur Disputation steckt Luther allerdings in der folgenden Zwickmühle: Er misstraut nicht nur den Ergebnissen, sondern auch der Logik und Dialektik der scholastischen Theologie und Philosophie.[28] Gleichzeitig sieht er aber die Vorteile einer Prozedur für Wahrheitssuche, die allgemein anerkannt ist, eine Methode, um auch seine Gegner überzeugen zu können, und zwar durch kritische Auseinandersetzung. In dieser Hinsicht bleibt Luther vom Sprachspiel der Disputation abhängig; er bedient sich dieser Logik, um die Frage nach der Wahrheit, der Buße, der Autorität und der Gnade zu klären. Durch die 95 Thesen, die Ende Oktober 1517 veröffentlicht werden, wird die Disputation auch zum politischen Statement und Ereignis.

Von Luthers insgesamt 50 Disputationen werden 20 in den Jahren 1516–21 geschrieben. Wenn man die Disputationen durchgeht, wird es deutlich, wie heterogen sie sind, den relativ strikten formalen Bedingungen zum Trotz. Die erste Disputation aus 1516 ist traditionell gehalten, mit drei Thesen (Conclusiones), den darauffolgenden Erklärungen und jeweils mit drei Folgen/Zusätzen (Corollaria) und Erklärung dazu ergänzt. Schon die zweite Disputation über die scholastische Theologie aus dem Jahr 1517 ist anders strukturiert, mit 100 aufeinanderfolgenden Thesen. Hier geht die logische Folge nicht von Thesen zu Erklärungen und Konsequenzen, sondern von einem Satz zum nächsten. Eine These kann die vorige erläutern, ihr widersprechen oder sie kontrastieren. Die etwas freiere Form bietet auch Möglichkeiten für Humor und Wortspiele, zum Beispiel in der Polemik gegen die Scholastiker und die Logik und Ethik des Aristoteles (These 41–52). Nicht nur sei „fast die ganze Ethik des Aristoteles“ ziemlich schlecht und Feind der Gnade (43), sondern es wird auch behauptet, dass „zu sagen, ein Theologe, der kein Logiker ist, sei ein ungeheurer Häretiker, ist eine ungeheure und häretische Rede.“ (47)[29] Luther verfeinert so seine polemischen Fähigkeiten und entdeckt das Potenzial der Disputationen für öffentliche Auseinandersetzung um die Wahrheit des christlichen Glaubens.

Nur knappe zwei Monate später werden die 95 Thesen veröffentlicht, allerdings ohne einen konkreten Promotionsanlass. Luther hat die schriftliche Disputation als polemische Programmerklärung entdeckt und aufgrund des starken Widerstands werden die Thesen schnell von den neuen Druckereien aufgenommen und in tausenden Kopien gedruckt. Schon vor Weihnachten 1517 waren die Thesen überall im lateinischen Europa bekannt und wurden als Skandal aufgefasst.[30] Luthers Medienerfolg in den Jahren kurz nach 1517 ist eng mit der polemischen und kurzgehaltenen Form der Disputation verbunden. In den nächsten fünf Jahren erscheinen 17 Disputationen, die sich alle einem bestimmten Thema widmen. Sie sind so kurz, dass sie einfach auf Flugblätter gedruckt und verkauft werden können. Der frühe Kapitalismus der Druckereikunst passt ausgezeichnet zu Luthers skandalöse Botschaft von der Freiheit und Unabhängigkeit des Christenmenschen und der logischen Überzeugungskraft der theologischen Wahrheit. Themen wie Exkommunikation, Glaube, Philosophie, Gnade, Sakramente, Rechtfertigung und die Kräfte der Menschen von Natur aus (also die Frage nach dem freien oder unfreien Willen) werden immer wieder aufgegriffen und in polemischer Schärfe formuliert.

Wie können wir diese Thesenproduktion als akademische und literarische Gattung am besten einschätzen? Die Gattung der Disputation hat sich in dieser Zeit gewandelt und die öffentlichen oder schriftlichen Disputationen sollten ganz unterschiedlichen Zwecken dienen: Übung, Promotion, Wahrheitssuche, Dialog, Intellektuellem Streit in Akademie oder Orden, freier Disputation und endlich gab es die städtische Disputation, die ein paar Jahre später durch Zwingli in Zürich als politische Rede auftaucht. Luther bewegt sich relativ frei zwischen diesen Gattungen und entwickelt seinen polemischen Stil, sowie seine eigentümliche Logik und Dialektik, in Kontinuität und Bruch mit dem traditionellen Disputationsverfahren. Beides, Kontinuität und Bruch, sind meines Erachtens wichtige Aspekte, um Luthers frühe Disputationen zu verstehen. Seine Polemik gegenüber Aristoteles, Gabriel oder Duns Scotus geschieht innerhalb dieser scholastischen Kultur und Tradition, und vor allem in ständiger Auseinandersetzung mit den Wahrheitskriterien der Universitätstradition seiner Zeit. In Luthers Disputation geht es um Dialog und Kritik, aber immer wieder um die Sache, die ihm wichtig ist: Die Wahrheit im Sinne des Evangeliums.

Obwohl seine Disputationen auch dem Zweck der exercitii dienen, geht es ihm vor allem um die inquirendae veritatis causa. Als solche entwickeln sie sich aber auch von der akademischen in Richtung einer breiteren politischen Öffentlichkeit, wo Luther einerseits seine Sache verteidigen will, andererseits auch die Wahrheit nach Kriterien der Schrift in ständiger Auseinandersetzung mit Gegnern und Mitstreitern sucht. In der klassischen Frage, wie sich die Grammatik zur Dialektik, die Auslegung der Schrift zum Denken verhält, hat grundsätzlich die Schrift den Vorrang – auch die Logik und Dialektik im aristotelischen Sinne sollten sich den Prämissen der Schrift unterwerfen und der Sache der Schrift dienen. So, meint er, entsteht auch die beste Philosophie. Für Luther ist die Wahrheit grundsätzlich antithetisch zu verstehen, nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb seines Denkens.[31] Wenn die Antithese als Grundstruktur seines eigenen Denkens auftaucht, tendieren seine Schriften auch in Richtung Paradox. Nirgends wird es deutlicher als in der Heidelberger Disputation. Im Folgenden soll uns dieser eigentümliche Text als Beispiel evangelisch-theologischen Denkens dienen.

III. Dialog und Disputation in der Heidelberger Disputation

In der Einleitung zur Heidelberger Disputation (HD) beschreibt Luther seine Gedanken als theologische Paradoxa: „Uns selbst gänzlich misstrauend gemäß dem Rat des Geistes: ‚Verlass dich nicht auf deine Klugheit‘, bieten wir demütig dem Urteil aller, diese Theologica paradoxa [...]“.[32] Warum legt er denn solchen Wert auf die Paradoxa? Offensichtlich sieht er darin eine implizite Vernunftkritik, insbesondere der „Klugheit“, die auch Paulus im 1. Korinther Kapitel 1 kritisiert. Der Autor verweist auf Paulus und Augustinus, den „zuverlässigen Ausleger“ von Paulus, als Quellen seiner Thesen.[33] Das passt insofern gut als er in der Versammlung der Augustinermönche die Autorität des Heiligen Kirchenvaters in Anspruch nimmt. Ich werde im Folgenden relativ ausführlich auf die Form und den Gedankengang der 28 theologischen Thesen und ihren Erklärungen eingehen. Die 12 philosophischen Thesen, die in diesem Zusammenhang auch von Interesse wären, werde ich anderswo erläutern.

Das Präskript macht deutlich, dass Martin Luther selbst den Vorsitz führt, weil er die Thesen formuliert hat, während Leonhard Bayer, Magister der freien Künste und der Philosophie, die Thesen verteidigt. In der Aufgabenverteilung spiegelt sich die doppelte Struktur der Disputation wider: Es geht um die Wahrheit der Theologie, die in den 28 Thesen verteidigt werden, aber diese Wahrheit ist in ständiger Auseinandersetzung mit der Philosophie gefragt. Die 12 philosophischen Thesen skizzieren die philosophischen Voraussetzungen für die theologischen Paradoxa und äußern sich kritisch zu den Prinzipien der gängigen aristotelisch-scholastischen Philosophie. Deshalb passt es gut, dass der Theologe Luther mit dem Philosophen Bayer über die Thesen spricht, wenn die Augustinermönche sich am 26. April 1518 in Heidelberg zum Konvent treffen. Der Anlass ist die Kontroverse, die Luthers Ablassthesen ein halbes Jahr früher erregt hat. Der ganze Orden steht unter Druck und manche hoffen, dass Luther die Gelegenheit nutzen wird, um einen Rückzieher zu machen. Diese werden wohl relativ schnell enttäuscht.

Die Themen der Disputation sind für die Reformation zentral. Es geht um Gesetz und Gnade, Verzweiflung und Hoffnung, um Sünde und Verdammnis, um das Unvermögen des liberum arbitrium, um das Gute und das Böse, und endlich um die Liebe Gottes, die Luther zufolge das Liebenswerte nicht vorfindet, sondern erschafft. Schließlich geht es aber auch um das Vermögen der Menschen, diese Begriffe und die Botschaft von Paulus im Römer- und Korintherbrief zu erkennen. Ein Wendepunkt der Disputation finden wir in den Thesen 19–20, wo Luther zwischen einer Kreuzestheologie und der spekulativen Theologie der „unsichtbaren“ Herrlichkeit Gottes unterscheidet. Hier findet auch einen interessanten Perspektivenwechsel statt: Bis dahin ging es um die Werke des Menschen vor Gott, aber von hier aus wird das Werk Gottes an den Menschen beschrieben, vermittelt durch das Kreuz und verwirklicht durch die Gnade. In der Erklärung der letzten These formuliert es Luther folgendermaßen: „Und das ist die Liebe des Kreuzes, aus dem Kreuz geboren, die sich dorthin wendet, nicht, wo sie Gutes findet, das sie genießen könnte, sondern wo sie dem Schlechten und Bedürftigen Gutes bringen kann.“[34]

Die Thesen werden durch eine besondere Dialektik getrieben: Die Dialektik der Gegensätze, zum Teil auch der Widersprüche oder Paradoxa. Sprachlich wird es durch die Logik der Disjunktion ausgedrückt, das autaut, auf Deutsch Entweder-Oder: Entweder stützt man sich auf die eigenen Werke oder auf Gott (These 2–6).[35] Entweder versucht man die Gerechtigkeit durchs Gesetz zu erlangen oder durch die Gnade. Entweder ist man ein Theologe der Herrlichkeit oder des Kreuzes. Und am Ende: Entweder setzt man auf die Liebe Gottes oder auf die Liebe des Menschen. Anhand des letzten Beispiels behauptet Luther auch noch einen klaren Widerspruch zwischen Theologie und Philosophie, weil der Mensch sich selbst liebt, während Gott die Liebe schenkt.[36] Die Bedingungen der Theologie sind für die menschliche Vernunft unfassbar, und deshalb verweist Luther auf die Argumentation von Paulus in 1 Kor 1,20–25.[37] Die Weisheit Gottes sei den Menschen entzogen, weil sie höher liege als das menschliche Begreifen. Deswegen erscheint sie auch dem Weisen und dem Philosophen als töricht, als Unsinn oder gar Wahnsinn, weil der Philosoph menschlich denkt.

Gott hat sich aber, so Paulus und Luther, durch eine andere Logik, einen anderen Logos, geäußert. Und dies müsste die Logik des Widerspruchs sein, die sich auch gegen die Prinzipien der aristotelischen Philosophie stellen, oder sich dieser Logik entziehen. Deshalb muss auch ein anderes Grundprinzip vorgelegt werden, und für Luther kommt hier die besondere Logik der Christologie mit ins Spiel.[38] Diese kann eben nicht einer Denkform entsprechen, die sich der aristotelischen Logik und Metaphysik anpasst. Im Gegenteil, diese Denkform fordert ein anderes Verhältnis zwischen Schrift und Dialektik. Wenn es um Gottes Weisheit geht, müsse die Autorität aus der Schrift hergeleitet werden und auch die Dialektik dieser Disputation ist deshalb der Grammatik, d. h. der Logik und dem Logos der Schrift, untergeordnet. Dieser Logos der Schrift findet Luther vor allem in der Christologie. Darin liegt auch die Begründung für die theologischen Paradoxa, die die Disputation strukturieren.

Das christologische Grundprinzip der HD kann man aber sehr unterschiedlich verstehen, davon abhängig, ob man Luthers Argumentation polemisch und assertorisch versteht, als Wahrheitsbehauptung (Assertio) oder eher dialogisch, im persönlichen und/oder sokratischen Sinne. Ich halte beide Lesarten für möglich. Um die besondere Dynamik des Textes zu verstehen sind sie vielleicht auch unumgänglich. Zunächst werde ich die assertorische Seite vorstellen.

IV. Der Streit um die Wahrheit: Antithetische Polemik

Die Heidelberger Disputation ist kein bloßes Exerzitium, sondern eine polemische Auseinandersetzung über die Wahrheit. Die 28 Thesen (Conclusiones) lassen sich paarweise als vergleichende Antithesen lesen, die einen Gegensatz zunächst vorstellt, um ihn dann zu vertiefen, bis zum Paradox. Dass die Werke der Menschen (These 3) im Gegensatz zu den Werken Gottes stehen (These 4) ist keine Überraschung, aber dass die guten Werke als Todsünden definiert werden (3) steht im grellen Kontrast zur allgemeinen Doxa. Die kontraintuitive Behauptung wird präzisiert und vertieft bis zu These 9, wo Luther alle Werke außerhalb von Christus (extra Christum) als „tot“ (mortua) definiert, und daraus schließt, dass sie auch als Todsünden (mortalia) gefürchtet werden müssen.[39] Das Argument erzeugt eine kognitive Dissonanz, weil es die gängige Unterscheidung zwischen Böse und Gut, Sünden und guten Werken untergräbt.

Wie soll man demnach zwischen Gut und Böse unterscheiden können? Das ist schwierig zu sagen, weil Luther die Differenz als solche destabilisiert. Die Regeln des Sprachspiels werden erschüttert, um eine neue Grammatik vorzubereiten. In dieser Grammatik werden alle Werke nach ihrem Verhältnis zu Christus gemessen, und zwar als „außerhalb“ oder „innerhalb“. Im Guten ist auch das Böse eingeschrieben und in den furchtbar (deformia) erscheinenden Werke könnte das Gute verborgen sein.[40] Der Kontrast zwischen Sein und Schein wird in dieser Dialektik ausgespielt: Die Sachen sind nicht immer wie sie erscheinen; sie können auch das Gegenteil vermitteln.[41] Durch die Disjunktion werden Begriffe nicht nur antithetisch definiert, sondern auch kritisch hinterfragt. Nicht Aristoteles, sondern Paulus und die paulinische Christologie aus dem Römerbrief, dem Galaterbrief und den beiden Korintherbriefen sind es, die eine solche paradoxe Logik ermöglichen.

In den Erklärungen gibt es viele Verweise und Zitate aus dem Alten und Neuen Testament, von Augustin und Petrus Lombardus, aber Paulus wird am häufigsten zitiert. Luther kann aber auch direkt auf die Grammatik verweisen, etwa, wenn er die Unterscheidung zwischen ‚tot‘ und ‚tödlich‘ begründen will, hier in der Erklärung zu These 10:

Ich beweise dies, weil die Schrift nicht auf die Weise von den toten [Werken] redet, dass irgendetwas nicht tödlich sei, was trotzdem tot ist. Ja, auch die Grammatik tut dies nicht, die sagt, dass ‚tot‘ mehr ist als ‚tödlich‘; denn ein tödliches Werk nennt sie eines, das tötet, ein totes [Werk] aber nicht ein getötetes, sondern ein nicht lebendiges.[42]

Luther bezieht sich also auf die Grammatik, um sein Argument zu verteidigen. Er erzeugt aber dabei eine neue grammatische Unterscheidung, die sich gegenläufig zur regulären Dialektik von Gut und Böse, tot und lebendig, verhält. Dadurch gibt es nicht nur einzelne Paradoxa in den einzelnen Thesen, sondern die Disputation als solche ist paradox strukturiert, von der paulinischen Christologie hergedacht.

Durch diese antithetische Struktur der theologischen Paradoxa gibt es eine dialektische Bewegung, die mit dem Leser oder Zuhörer kommuniziert. Der katholische Theologe Hubertus Blaumeister bemerkt, dass Luther sich hier von der Spätscholastik unterscheidet:

Bei all dem ist die theologia crucis in einem ganz anderem Maß als die Scholastik „affektive“ Theologie. Mit aller Entschiedenheit zielt sie darauf ab, die Affekte des Menschen in die Schule zu nehmen und wahren Glauben, wahre Liebe, wahre Hoffnung hervorzubringen. Von daher kommt die Antithetik in der Rede von Gott und Mensch und hat, so gesehen, auch ihre Berechtigung, ja Notwendigkeit.[43]

In den Thesen kann man diese Affektivität indirekt spüren, durch den zu erwartenden Respons beim Leser. In den Erklärungen kommt aber diese affektive Seite noch deutlicher zum Vorschein. Luther verhandelt zwischen zwei Stimmen oder Positionen, die immer neue Einwände vorbringen. Der Form nach ist die Disputation argumentativ und nach außen versucht sie eine metaphysische und moralische Theologie der Werke und des Gesetzes zu bekämpfen. Innerhalb dieser polemischen Hauptstruktur, und durch die Erklärungen zu den Thesen, läuft aber auch ein Dialog durch den Text: Ein innerer Dialog von Stimme und Gegenstimme, Behauptungen und Gegenargumente. Der Dialog hat sokratische Züge, weil eine Lösung des ursprünglich formulierten Problems gesucht wird. Diese Lösung kann es aber unmittelbar nicht geben; im Gegenteil wird der Gegner in die Verzweiflung, d. h. wie bei Sokrates in die Aporie, geführt.[44] In These 18 wird diese Verzweiflung auch ausdrücklich als Ziel und Zweck der einleitenden Dialektik behauptet: „Es ist gewiss, dass ein Mensch von Grund aus an sich verzweifeln muss, damit er geeignet wird, die Gnade Christi zu erlangen.“[45]

Luther will mit den Antithesen seinen Leser in die Ausweglosigkeit treiben, in die Verzweiflung der Aporie. Solange er nicht vernichtet, also „in die Hölle“ und Verdammnis geführt wird, gibt es den Verdacht, dass er an den eigenen Kräften setzt, statt sich der Gnade hinzugeben.[46] Theologisch wird hier auf Röm. 2–3 verwiesen, und auch diese affektive Verschärfung des Arguments entspricht der Form der theologischen Paradoxa. Das Ganze ist, philosophisch verstanden, irrsinnig, läuft der allgemeinen Doxa und der Vernunft in die Quere.[47] Aus theologischer Sicht ist dies eben der Sinn der dialektischen Ausführung. Nicht zuletzt wegen Luthers Theorie über das Unvermögen menschlicher Erkenntnis sind die Thesen immer wieder aufgegriffen und neu interpretiert worden, nicht nur unter Theologen, sondern auch philosophisch, als Gegenentwurf zur traditionellen aristotelischen oder modernen Metaphysik.[48]

In den Thesen 19 bis 22 skizziert Luther seine theologia crucis, durch den Kontrast zwischen dem theologus gloriae und dem theologus crucis. Der Theologe der Herrlichkeit verweist laut Luther auf das Unsichtbare Gottes hinter der Schöpfung, auf das, was wir weder sehen noch begreifen können.[49] Der Theologe des Kreuzes, hingegen, verweist auf Jesus Christus, insbesondere sein Leiden und Tod, um von dort aus die Wahrheit zu erkennen.[50] Hier müssten wir den Ort suchen, den eigentlichen Topos des Textes, wo es um das Grundsätzliche geht, das als Grundprinzip evangelischen-theologischen Denkens gelten kann. Die Herrlichkeit Gottes wird durch seine Eigenschaften bestimmt, und zwar seine „Kraft, Gottheit, Weisheit, Gerechtigkeit, Güte usw.“[51] Diese durchaus positiven Eigenschaften zu erkennen macht aber weder „würdig noch weise“, behauptet Luther. Stattdessen deutet er aufs Kreuz, wo man den „in den Leiden verborgenen Gott“ erkennen und verehren sollte.[52] Damit würde man auch die Torheit anerkennen, die laut Paulus im ersten Korintherbrief zum Kennzeichen der Weisheit Gottes geworden ist. Die guten Eigenschaften Gottes zu erkennen sollte man allerdings nicht ohne weiteres lassen, aber das sei alles umsonst, wenn man nicht Gott selbst und gerade diese Eigenschaften Gottes „in der Niedrigkeit und Schande des Kreuzes“ erkennen würde.[53]

Hier kann man also schön beobachten, wie sich die Grundperspektiven überkreuzen: Das Gute und das Böse, das Gesetz und die Gnade, die Macht und die Schwäche, die Weisheit und die Torheit. Hier müssten wir deshalb auch das Geheimnis dieses Textes verorten können. Das Geheimnis der Kreuzestheologie ist demnach nicht, dass die Herrlichkeit Gottes verneint wird, sondern dass gerade die überlegenen Eigenschaften durch das Gegenteil erkannt werden. So ist es also die Macht Gottes, die in dieser Schwäche, und die Werke Gottes, die in diesem Leiden zum Vorschein kommen, unter ihrem Gegensatz (sub contrario).[54] Die Logik des Gegensatzes ist nicht nur kontraintuitiv, sondern auch subversiv: die Gegensätze werden als solche festgehalten, aber ihre Bedeutung verschoben und destabilisiert.

Luther denkt allerdings parallel über das Erkannte und den Erkennenden nach, und hier wird die affektive Seite der Disputation besonders deutlich. Das Leiden Gottes in Christus entspricht dem Leiden und der Passivität des Menschen, wodurch er die Gnade bekommen kann, ohne Werke (vgl. Röm. 3,25). Hier kommt deshalb auch eine neue Dynamik ins Spiel: Die Destruktion des alten Adam durch das Kreuz.[55] Der Mensch als solcher muss zunichtegemacht werden, um das „Götzenbild“ zu zerstören, dass Gottes Gabe im Wege steht. Die Folgen fürs Denken sind gewaltig. Die Grundkoordinaten des Denkens werden zunächst suspendiert und dann subvertiert, aber eben in dieser destruktiven Spannung (suspensio) festgehalten: Die Macht in der Schwäche, die Herrlichkeit am Kreuz, die Weisheit, die nur durch diesen Wahnsinn (stultia) des Kreuzes erkennbar wird. Diese Prämisse, die demnach die ganze Logik steuert, betrifft auch die Differenz zwischen Leben und Tod. Das Sterben gehe dem neuen Leben voran, also ist jenes nur im Tod zu finden, und zwar am Kreuz. Das Ziel, präzisiert Luther in der Erklärung zu These 24, heißt „den Tod als gegenwärtig zu fühlen“ (mortem praesentem sentire).[56]

Dieses subversive Grundprinzip ist von der Christologie hergeleitet, wird aber auch als klares Bekenntnis verkündet, indem die Grundlagen der Vernunft aufgegeben und durch die Logik des Paradoxes umformuliert werden. Der Zusammenbruch der Vernunft wird sozusagen die Prämisse dieser neuen Dialektik, und trotzdem wird die antithetische Struktur nicht aufgegeben. Im Gegenteil, der polemische Widerspruch wird verstärkt.

Abschließend beschreibt Luther in den Thesen 25–28 wie Christus zur wirkenden Triebkraft des Menschen geworden ist, also eine Art Wiederholung der Inkarnation, wenn es um die Kausalität der Handlungen geht: Christus wirkt, unsere Werke sind gewirkt – um es aristotelisch auszudrücken.[57] Am Ende bleibt nur noch die Liebe Gottes, die diese Verwandlung vollzieht, vom selbstbezogenen zum christologisch bestimmten und gedeuteten Menschen. Die letzte entscheidende Disjunktion ist die zwischen amor hominis und amor crucis.[58] Hier scheiden sich laut Luther die Philosophie und die Theologie. Aber stimmt diese Einschätzung Luthers? Ist die Kreuzestheologie komplett unphilosophisch und jene Philosophie dem christologischen Denken fremd?

Wenn die Heidelberger Disputation als paradigmatisches Beispiel evangelisch-theologisches Denkens gelten kann, ist es eben durch diese Konzentration Luthers auf das Kreuz nicht nur als inhaltliches, sondern auch als formales Prinzip der Disputation. Die Perspektiven werden zunächst antithetisch vorgestellt und von der menschlichen Einschätzung bestimmt. Diese Kriterien werden infrage gestellt und auf das Kreuz Christi bezogen. In den Thesen 19–22 wird es auch formal durch einen Chiasmus in die Dialektik eingefädelt, vom Unsichtbaren zur Sichtbarkeit am Kreuz, das die Sache in die entscheidende Perspektive rückt (quod res est), bevor Luther auf den Erkennenden deutet und sagt: Um diesen Menschen geht es, der die Wahrheit sucht und dort am Kreuz finden sollte.[59]

Der Triumph und die Niederlage dieses Denkens wird in der entscheidenden letzten These proklamiert: Die Liebe Gottes begründet alles, die Rechtfertigung kommt von Gott allein, als Gabe, und nicht durch eine Willensentscheidung. Alles hängt also vom Kreuz ab, das das Heil Gottes in die Welt bringt, den Gläubigen von der Verdammnis rettet und zur (fremden) Heilsgewissheit bringt. Das Ganze steht immer auf dem Spiel und kein Kompromiss ist hier möglich. Deshalb diese unbedingte Freiheit, der feste Glaube, die freie Gabe, usw. So spricht die polemische und konfessionell überzeugte Stimme aus dieser Disputation. Die Souveränität Gottes ist allem anderen überlegen – und so ist auch der evangelische Theologe, der sich zur Kreuzestheologie hält und alles vom Kreuz her deutet. So kann man es jedenfalls als Assertor behaupten und bekennen.

V. Die andere Stimme

In der Heidelberger Disputation gibt es also eindeutig die Stimme des polemischen Assertors, der seine Position verteidigt. Dabei geht es vor allem um die rechte Unterscheidung zwischen den Werken Gottes und denen des Menschen und die andere Bedingung der Gotteserkenntnis, die am Kreuz sichtbar wird. In einem ähnlichen Sinne argumentierten auch noch im 20. Jahrhundert Theologen wie Klaus Schwarzwäller und Friedrich Beisser für die eindeutige Klarheit der evangelisch-theologischen Position.[60] In der Heidelberger Disputation spricht aber auch eine andere Stimme, ein anderer Ton ist deutlich spürbar. Diese Stimme ist voller Zweifel, Unwissen, Verlegenheit, Armut, Anfechtung und Leiden. Und hier sehe ich vor allem die Stimme des Autors, auf jeden Fall so, wie er sich letzten Endes darstellt, und vom Text ausgeliefert wird. Dieser Autor ist fast wahnsinnig, sieht nur Widersprüche, und sucht vor allem eins: Das Gespräch mit Gott. Auch das ist ein Gespräch voller Widersprüche und Fragen; spricht er nicht am Anfang nur mit sich selbst? Ist er nicht selbst das Götzenbild, das er mit seinen Werken anbetet? Doch, aber dieser, der da sucht, er wird langsam zermürbt und zerstört, bis der Tod ihn völlig vernichtet. Das Kreuz spricht ihn an, zieht ihn an wie ein Magnet, aber treibt ihn dann in die Verzweiflung. Dadurch wird er langsam von sich befreit, aus Gnade allein, und lebt in der Hoffnung und im Vertrauen auf die Liebe Gottes. Er ist ein Suchender geworden, einer der Deum querit (These 25).[61]

Diese Bewegung ist zutiefst existentiell gedacht. Die Dynamik der anderen Stimme kann immer wieder ins Spiel gebracht werden, kann immer wiederholt werden, aber nicht um des Arguments oder des Disputierens willen. Die Wiederholung wäre die völlige Zerstörung des menschlichen Willens bis zum Tiefpunkt der Verzweiflung. Es würde bedeuten, noch einmal zu fragen: Wer bin ich, oder, was heißt es, in diesem Sinne, ein „Ich“ und ein Mensch zu sein. Die Bewegung ist sokratisch im Sinne der frühen Dialoge, die in der Aporie enden. Sie ist aber auch augustinisch im Sinne der Confessiones, wo der Autor fragt, wer bin ich eigentlich? Man könnte auch sagen, sie ist aristotelisch im Sinne der scholastischen Wahrheitssuche (obwohl polemisch gegen Aristoteles), aber vor allem ist und bleibt sie christologisch, wenn es um die Kriterien dieser Wahrheit geht. Am letzten Ende muss deshalb die Grammatik mehr als die Dialektik geschätzt werden. Luthers Denken kommt von der Schrift her und ist in diesem Sinne, als Disputation aber auch als Dialog gedeutet, vom Prinzip der sola scriptura bestimmt.

VI. Schibboleth

Wie können wir denn dieses Denken als Dialog und Disputation nachvollziehen? Das Folgende ist nur ein Vorschlag, und ich kann wohl nicht garantieren, dass der Vorschlag ohne Sprachfehler ist. Ich lese die Heidelberger Disputation von zwei Seiten her, einerseits als Disputation und polemisches Wahrheitsbekenntnis, andererseits als Dialog, der auch als innerer Dialog die Grundlage des Subjekts zusammenbrechen lässt. Es gibt kein sicheres Ich, das diesen Dialog führen könnte. Es gibt nur ein Ich, das durch die Erkenntnis der Schrift in die Aporie geführt, und dort zum Verzweifeln gebracht wird. Aus dieser Verzweiflung heraus spricht es, und beklagt den Streit des Menschen mit Gott, als sprachliche Auseinandersetzung, die im Dialog endet, und sogar ein neues Verständnis des Ichs aus der Unverfügbarkeit der Liebe bezeugt.

Hier öffnet sich meines Erachtens die Schrift als Raum des Nachdenkens, wo auch der Widerspruch stattfinden kann. Im Aufsatz über die Liebe des Menschen und die Liebe des Kreuzes diskutiert Theo Dieter die Berechtigung von Luthers Aristoteles-Interpretation durch die Behauptung, dass jeder Mensch, wenn er liebt, „nur das Seine“ suche (quaerit quae sua sunt).[62] Obwohl Dieter Luthers Verständnis von Aristoteles etwas unpräzise findet, gibt er zu, dass Luther ein Kontroverspunkt gegenüber Biel und anderen Scholastikern im Verständnis der Gnade identifiziert hat. Dies bedeutet aber auch, dass Luther das „Verhältnis einer vollständigen Disjunktion“ zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe voraussetzt.[63] Diese findet Dieter problematisch, aus zwei Gründen. Erstens, weil „der ganze Mensch“ damit als sündhaft eingestuft wird, auch die Bedürftigkeit des natürlichen Menschen.[64] Das findet Dieter, aus guten Gründen, wenig überzeugend. Zweitens, weil die Antithese zur Selbstliebe eine radikale Selbstlosigkeit (bis zum „Selbsthaß“) bedeuten würde, die ebenfalls eine fragwürdige Anthropologie suggeriert, auch wenn sie durch eine humilitas-Spiritualität ermöglicht wird.[65] Drittens führt die absolute Disjunktion zwischen Selbst- und Nächstenliebe zu einer unrealistischen Absolutierung der Liebe, die faktisch nur Gott selbst zugesprochen werden kann.[66] Dieter findet also diese Unterscheidung in These 28 theologisch unhaltbar, deutet aber auch darauf hin, dass das Problem in späteren Schriften eine andere Lösung findet und damit Luthers Theologie weitertreibt.[67]

Der Text von Dieter ist eine kritische Auseinandersetzung mit Luthers Position und seiner Aristoteles-Interpretation, aber auch mit den Luther-Interpreten, die entweder ausschließlich von der Liebe Gottes in Christus sprechen oder den göttlichen Liebesbegriff auf die Nächstenliebe übertragen. Besonders Reinhard Schwarz wird für seine Auslegung der letzteren Deutung kritisiert.[68] Dieter behauptet: „Dieser Unterschied ist streng festzuhalten.“[69] Damit will er vor allem das Grundprinzip evangelischer Theologie festhalten, dass deutlich getrennt werden muss zwischen den Werken Gottes und den Werken der Menschen. Um eine ähnliche Distinktion geht es auch Schwarzwäller in seiner Interpretation von De servo arbitrio: Hier wird eine Linie gezogen zwischen denen, die das Schibboleth richtig aussprechen können, und denen, die „Sibboleth“ lispeln.

Theo Dieter kritisiert also Luther wegen seiner scharfen Disjunktion zwischen Selbstliebe und Gottesliebe, während er auch die Theologen seiner Zeit kritisieren, wenn sie nicht deutlich genug zwischen den Werken Gottes und den der Menschen unterscheiden. Auf den Unterschied kommt es nämlich an – auch wenn er Luthers Lösung für unhaltbar einschätzt. In der Sache hat Dieter wohl Recht – und Luther Unrecht – wenn man ihn so liest. Ist es überhaupt möglich so eindeutig zwischen Gottesliebe und Menschenliebe zu trennen, als ob die Agape etwas völlig anderes als der Eros wäre, der sich immer als Selbstliebe entpuppt? Müsste man nicht die beiden aufeinander beziehen können? Müsste man nicht auch die Philosophie mit der Theologie verbinden können, auch wenn Luther sich dagegen wehrt?

Auch wenn die HD einige Grundprobleme der evangelischen Theologie erörtert, ist es nicht einfach, einen inhaltlichen Konsensus über das Grundprinzip dieser Theologie zu identifizieren. Im Gegenteil scheinen die Theologen sich auch um das Prinzipielle zu streiten. Vielleicht müsste man deshalb lieber bei der Form ansetzen und fragen, ob das Grundprinzip im antagonistischen Streit zu suchen ist, oder jedenfalls nur als agonistische Theologie überliefert werden kann, durch ständige Auseinandersetzung über die Wahrheit.[70] Ein solches Grundprinzip müsste allerdings nicht nur die Disputation, sondern auch den Dialog als konstruktives und existentielles Gespräch weiterführen.

Ob Luther oder Dieter recht hat, kommt allerdings darauf an, ob man den Text wie Dieter liest, oder doch anders, aus einer anderen Logik heraus. Hier gibt es meines Erachtens nicht nur die eine Lösung, die der Lutherrenaissance oder des Konfessionalismus. Auch die absolute Disjunktion, die Dieter kritisiert (aber als kritische Differenz festhält) kann man anders verstehen, wenn man tatsächlich auf die sonderbare Logik des Paradoxes achtet. Ein Paradox ist nicht nur ein Ausdruck der absoluten Differenz, sondern auch eine Figur, die Gegensätze verbindet, ohne den Unterschied aufzuheben oder auszugleichen. In diesem Sinne wird auch das Paradoxale am Ende der Probatio der 28. These hervorgehoben: „Und das ist die Liebe des Kreuzes, aus dem Kreuz geboren, die sich dorthin wendet, nicht wo sie Gutes findet, das sie genießen könnte, sondern wo sie dem Schlechten und Bedürftigen Gutes bringen kann.“[71]

Woran erkennt man also die evangelische Sprache oder den evangelischen Ton im Wortlaut, ja sogar in der Signatur, dieses Textes? Wenn man genauer hinschaut, ist es in HD nicht so, dass die eine Liebe verneint und die andere bejaht wird, im Gegenteil, scheint Luther auch die Sichtweise der Aristoteliker zu bestätigen, dass die Liebe der Menschen grundsätzlich das Seine sucht und begehrt, wenn auch gute und uneigennützige Taten zu dieser menschlichen Liebe gehören. Anders ist es mit der Liebe Gottes, die im Menschen „wirkt“ und dort einen Ort findet, die den Sünder und Bösen Gutes mitteilt, und als schwach und elend werden die Menschen geliebt, in ihrer gebrochenen Schönheit. Endlich, und hier in einem dritten Schritt, wird die Verbindung zwischen Liebe und Liebe hergestellt, und zwar durch das Kreuz, das diese Verwandlung der Liebe sozusagen vorgeschrieben hat. Das Wort ‚transferre‘ wird hier entscheidend (,amor crucis ex cruce natus, qui illuc sese transfert‘), das im übertragenen wie im ökonomischen, sogar im ganz konkreten Sinne verstanden werden kann. Deshalb heißt es eben, dass diese amor crucis sich wendet, verwandelt, überträgt und/oder überweist auf die (Liebe der) Menschen und sich damit hinüberbringt. Dadurch wird die scharfe Disjunktion festgehalten und trotzdem, durch die Verschiebung des Kreuzes, als theologisches Paradox festgehalten. Die absolute Differenz ermöglicht diese Verschiebung, die das aristotelische Verständnis der Liebe (und des Menschen) zunächst ausschließt, aber nur, um es von innen her, und durch das Kreuz zu zerreißen und aufzuschließen.

Die Disputation lässt also diese offenere Lesart zu, die auch die strikte Disjunktion zwischen Liebe und Liebe zulässt, weil sie sich letztendlich – und durch das Kreuz – aufeinander beziehen. Die Liebe als ökonomische Berechnung, sogar als Selbstliebe, ist immerhin eine Liebe, die einen Raum für die Liebe als Gabe zulässt, ein Exzess jenseits des berechnenden quaerare quae sua sunt. Dabei wird es vielleicht auch zu dem, was der Mensch gesucht hat, ohne es wirklich zu wissen, im Sinne einer gebrochenen Selbstliebe, die durch die Liebe selbst vernichtet wird. Nur Kreuz und Tod stehen hier zwischen Liebe und Liebe, und vielleicht ist es weder von außen noch von innen eindeutig zu erkennen. Wer traut sich dann das Schwert des Urteils über den Fremden zu schwingen? Wie das Schibboleth verrät die Liebe selbst allerdings unmissverständlich die Herkunft des Sprechers. Diese Liebe müsste wohl vom Gedanken des Todes und des Kreuzes hergedacht werden, und durch die Gabe der Liebe gebrochen werden, um evangelisch zu sein. Allerdings ist auch „Evangelisch“, soweit ich weiß, eine gebrochene Sprache, aber sie wird häufig erkennbar am Ton des Streitgesprächs – oder des Dialogs.

Online erschienen: 2021-06-10
Erschienen im Druck: 2021-06-26

© 2021 Marius Timmann Mjaaland, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 27.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/nzsth-2021-0011/html
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