Die Gründung der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte wird meist ex post als Zeichen und Medium der erfolgreichen Durchsetzung des ›neuen‹ Paradigmas der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft betrachtet.Footnote 1 Diese Betrachtungsweise ist nicht unanfechtbar.Footnote 2 Doch nicht allein deshalb mag es sinnvoll sein, den Rekonstruktionsrahmen im Blick auf die Zeitschriftengründung einmal zu wechseln.

Im folgenden Beitrag wird die Deutsche Vierteljahrsschrift ex ante untersucht, nicht ihre Geschichte also, sondern ihre Gründungsgeschichte. Im ersten, detailliert empirischen, Teil wird gezeigt, dass es bei der Gründung der Deutschen Vierteljahrsschrift nicht allein um die Etablierung einer neuen Fachzeitschrift ging, sondern um die Durchsetzung konfligierender Ideen, Projekte und Ambitionen ihrer Herausgeber, die beim VerlegerFootnote 3 für zwei verschiedene Projekte warben, ein literaturwissenschaftliches und ein philosophisch-historisches beziehungsweise wissenschaftstheoretisches Periodikum. Der kürzere zweite, eher systematische Teil sucht eher holzschnittartig die epistemische SituationFootnote 4 der Literaturwissenschaft zum Zeitpunkt der Zeitschriftengründung zu charakterisieren. Der Beitrag dient zugleich einer zumindest wissenschaftshistorischen Klärung des Begriffs der literaturwissenschaftlichen Geistesgeschichte; ferner mag er dazu beitragen, eine Auffassung von Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften zu zerstreuen, die deren Geschichte als eine Abfolge disruptiver Forschungsprogramme oder »Paradigmen« (re)konstruiert.Footnote 5

I.

zur gründungsgeschichte der zeitschrift

der erste gründungsversuch 1914

Die Gründung der Deutschen Vierteljahrsschrift geht nicht auf (Literatur)Wissenschaftler, sondern auf einen Verleger zurück,Footnote 6 auf Hermann Niemeyer (1883–1964), den Sohn des 1911 verstorbenen Verlagsgründers Max Niemeyer.Footnote 7 Über die Motive, die Hermann Niemeyer bewogen, eine literaturwissenschaftliche Zeitschrift zu gründen, ist nichts bekannt; er mag neben dem 1894 gegründeten EuphorionFootnote 8 gute Absatzmöglichkeiten für eine den neueren Tendenzen der Literaturwissenschaft aufgeschlossene literaturgeschichtliche Zeitschrift gesehen haben. Die Neuere Literatur hatte sich um die Wende zum 20. Jahrhundert gegenüber der älteren deutschen Philologie endgültig als zumindest gleichgewichtiger eigener Fachanteil emanzipiert; die Studentenzahlen im Fach stiegen rasant, und fast ebenso schnell stieg die Zahl der Ordinariate und Extraordinariate.Footnote 9 Abonnent:innen wissenschaftlicher Zeitschriften waren bis weit ins 20. Jahrhundert auch sehr viele Gymnasiallehrer:innen, die sich als Wissenschaftler:innen verstanden und der rasch expandierenden Forschung auf literaturgeschichtlichem Gebiet zu folgen suchten.

Welche wissenschaftliche Orientierung Hermann Niemeyer der Zeitschrift 1914 zu geben beabsichtigte, ist ebenfalls unbekannt. Die Wahl Oskar Walzels zum Herausgeber der Zeitschrift lässt vermuten, dass er sich für einen weithin anerkannten modernen Repräsentanten der Literaturwissenschaft entschieden hatte, der zugleich jedoch eine ungebrochene Beziehung zur Tradition des Fachs in Österreich und Deutschland besaß. Niemeyer schloss einen HerausgeberkontraktFootnote 10 mit Walzel, und dieser machte sich an die Arbeit, indem er einen – zunächst streng vertraulichen – Prospekt über die Ausrichtung der Zeitschrift verfasste und an ausgewählte Kollegen versandte. Exemplare des Programms sind in den Nachlässen Julius PetersensFootnote 11 und Fritz StrichsFootnote 12 erhalten.

Neben dem Programm Walzels liegt auch das – von Erich Rothacker und Paul Kluckhohn seit 1922 vorbereitete – Programm der Deutschen Vierteljahrsschrift gedruckt vor.Footnote 13 Beide Programme versprachen, die Zeitschrift werde ein Sammelpunkt neuer Bestrebungen in der Literaturwissenschaft sein. Das Programm der Deutschen Vierteljahrsschrift war indes insgesamt offener und weltläufiger formuliert als das Walzels, das stärker auf fachinterne Gegebenheiten einging. Das Programm der Deutschen Vierteljahrsschrift unterschied sich vom Walzel’schen vor allem in der fächerübergreifenden Orientierung, die sich nicht allein im Herausgeberkreis spiegelt: Paul Kluckhohn hatte eine weite kulturgeschichtliche Orientierung und Erich Rothacker schwebte in seinen wissenschaftshistorischen und -theoretischen Arbeiten ein integratives Konzept der Geisteswissenschaften vor. Beide Zeitschriften sollten bei starker Akzentuierung des ›Neuen‹ grundsätzlich pluralistisch orientiert sein, dabei war die Deutsche Vierteljahrsschrift expliziter in der Aufzählung der unterstützten neuen Forschungsrichtungen.

Eingeweiht in oder sogar beteiligt an Walzels fortgeschrittenen Planungen für die Zeitschrift war der gerade von Halle nach Erlangen gewechselte Germanist Franz Saran;Footnote 14 zur Mitarbeit war u. a. Rudolf Unger aufgefordert worden.Footnote 15 Der Beginn des Weltkriegs machte dem Versuch, eine neue literaturwissenschaftliche Zeitschrift zu begründen, ein Ende. Niemeyer teilte Walzel am 3. August 1914 optimistisch mit, er hoffe, »bald wieder zurückzukehren und mit Freude das Handwerk wieder aufnehmen zu können«.Footnote 16

gründungsinitiativen und -stationen der DEUTSCHEN VIERTELJAHRSSCHRIFT

Anfang 1919 erkundigte sich Niemeyer bei Walzel, ob dieser, wie gerüchteweise kolportiert werde, die Lust an der Herausgabe der geplanten Zeitschrift verloren habe; er, Niemeyer, fühle sich durch den Kontrakt zwar nach wie vor gebunden, könne die Zeitschrift unter den obwaltenden unsicheren Umständen aber vorerst nicht realisieren.Footnote 17 Vermutlich vom Beginn des Jahres 1922 stammt ein undatierter Brief Niemeyers an Paul Kluckhohn, in dem der Verleger seine langfristigen Überlegungen darlegte:

Unmittelbar aus diesen Plänen erwächst für mich auch immer wieder der Plan der Literaturzeitschrift. Am liebsten möchte ich gerade aufs Ziel losgehen und Sie bitten, die Redaktion mit zu übernehmen. Ich würde für den Literaturteil als Mitherausgeber gerne die schon oben genannten Namen haben. Also Professor Unger, Janentzky, dann noch Zinkernagel, Wechssler, Vossler und Professor Saran. Nehmen wir die Geisteswissenschaft hinzu, so möchte ich Stern, von dem der Gedanke an eine geisteswissenschaftliche Zeitschrift ausging, dann Rotacker [sic] und Prof. Spranger dabei haben.Footnote 18

Niemeyer sprach in seinem Brief von zwei Projekten, einer Literaturzeitschrift, die Kluckhohn redigieren sollte, und einer »die Geisteswissenschaften« insgesamt umfassenden, für die er lediglich potenzielle Herausgeber nannte. Einer von diesen, vermutlich der Initiator des letzteren Plans, war Erich Stern, ein in den 1920er Jahren für seine umfassenden Arbeiten auf den Grenzgebieten von Naturwissenschaft, Medizin, Psychologie, Pädagogik und Philosophie bekannter und vielzitierter Autor, der nach seiner Vertreibung durch die Nationalsozialisten in Vergessenheit geriet.Footnote 19 Stern hatte am 3. Dezember 1921 an Rothacker geschrieben:

Ich hab in letzter Zeit ganz in Richtung Dilthey–Spranger–Litt gearbeitet und hoffe noch in der ersten Hälfte 22 mit meinem Buch herauszukommen. Gestern war ich in Berlin bei Spranger und habe mit ihm u. a. auch besprochen, eine neue Zeitschrift herauszubringen; ein Verleger steht auch schon in Aussicht. Da wir auch auf Geisteswissenschaften Wert legen, so habe ich, da ich mich hierfür nicht in jedem Falle für kompetent halte, auf Sprangers Frage, Sie für die Bearbeitung dieses Gebietes vorgeschlagen unter der Voraussetzung, daß Sie bereit sind. Ich bitte Sie alle Mitteilungen einstweilen streng vertraulich zu betrachten, und ich kann Sicheres erst sagen, wenn das ganze Kollegium zusammen ist. Würden Sie zur Mitherausgabe und Übernahme des betreff. Teils der Redaktionsgeschäfte bereit sein? Bitte geben Sie mir darüber baldigst Nachricht.Footnote 20

Stern war Niemeyer als Autor der in seinem Verlag erschienenen Einführung in die PädagogikFootnote 21 bekannt; Stern war es, der Niemeyer auf Rothacker aufmerksam gemacht hatte. Doch wie kam Niemeyer auf den in der Fachwelt noch kaum bekannten Kluckhohn? Wahrscheinlich durch dessen Buchprojekt Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik (1922), das als Manuskript seit 1919 bei Niemeyer vorlag, aus Kostengründen aber zunächst nicht gedruckt werden konnte.Footnote 22 Vielleicht wusste er aber auch, dass Kluckhohn schon 1914, unabhängig von Niemeyer und Walzel, seinerseits eine literaturwissenschaftliche Zeitschrift geplant hatte. Über diesen Plan ist freilich nicht mehr bekannt, als was Kluckhohn in einem Brief an Hermann Nohl im Oktober 1922 erwähnte: »Ob unser kurzer Briefwechsel von 1914 noch in Ihrer Erinnerung ist, weiss ich nicht. Das literarische Unternehmen, an dem mitzuwirken ich Sie damals bat, ist auch durch den Krieg vereitelt worden und heute wohl nicht mehr ausführbar. Jetzt ist es eine andere Gründung, für die ich Ihre Mitarbeit erbitten möchte.«Footnote 23

Im März 1922 erläuterte Niemeyer Kluckhohn den Stand seiner Überlegungen genauer. »Herr Privatdozent Stern in Gießen und Privatdozent Dr. Rothacker in Heidelberg sind vor einiger Zeit mit dem Plan an mich herangetreten, eine Zeitschrift für Kulturphilosophie oder Geisteswissenschaft im Allgemeinen zu begründen.« Über diesen Plan habe er »eingehend mit Herrn Professor Spranger und Geheimrat Troeltsch« gesprochen, und »als ich Herrn Professor Spranger andeutete, dass mir eigentlich auch mehr noch der lange gehegte Plan einer Literaturzeitschrift am Herzen liegt, kamen wir auf den Gedanken, die beiden Ideen in irgendeiner Form zu kombinieren, zumal wir der Ansicht waren, dass für eine Literaturzeitschrift ein weit grösseres Bedürfnis vorliegt.«Footnote 24 Da Niemeyer, wie er Kluckhohn vertraulich wissen ließ, nicht länger geneigt war, eine solche Zeitschrift mit Walzel zu machen,Footnote 25 fragte er Kluckhohn, ob ihm »eine Kombination des Stern-Rothacker’schen Plans mit einer Literaturzeitung möglich«Footnote 26 erscheine, und fügte hinzu: »Als Mitarbeiter für die Zeitschrift müssten wir wohl alle die heranziehen, welche im Diltheyschen Sinne weiterbauen« – mit dieser Formulierung signalisierte Niemeyer erstmals, welche programmatische Ausrichtung die Zeitschrift erhalten sollte.

Anfang Juni 1922 kamen Niemeyer und Kluckhohn in Münster zusammen, um näher über die geplante Zeitschrift zu beraten. Nach Unterredungen mit Stern, Rothacker, Spranger und TroeltschFootnote 27 noch im Juni betrachtete Niemeyer den Zeitschriftenplan »mit steigendem Optimismus«Footnote 28 und führte mit den Beteiligten weitere Gespräche. Rothacker erschien Niemeyer als »weitblickender, energischer und kluger Mann«, dem er »auch menschlich näher« kam. »Er hat entschieden wertvolle Beiträge in Aussicht, grosse Personalkenntnisse u. gute Beziehungen. Sein Programm erschien mir so reichhaltig, dass ich wieder Zeitschrift u. Beiträge = Serie als sich ergänzende Unternehmungen in Betracht zog.«Footnote 29 In einem weiteren vertraulichen Gespräch eröffnete Rothacker Niemeyer zu dessen »größtem Erstaunen«, dass es ihm »unmöglich erscheine«, »die Sache mit Stern zu machen«, da dieser »nur Pädagoge u. Psychologe u. dann Jude« sei, woran »sich viele wertvolle Mitarbeiter stossen« würden, »vor allem Burdach«.Footnote 30 Daraufhin eröffneten Niemeyer und Rothacker Stern, dass er an der Zeitschrift leider nicht beteiligt werden könne – und dieser, so Niemeyer, »fand sich damit ab«.Footnote 31 Rothacker erklärte Niemeyer bei dieser Gelegenheit ausdrücklich, »dass er sehr gern bereit sei, mit [Kluckhohn] zusammen die koncipierte Zeitschrift zu machen, wobei die Literatur in den Vordergrund gerückt werden könnte«. Aus den Beratungen zog Niemeyer das Fazit: »Gemäss Ihrem Vorschlag haben wir uns verabredet, am 15. Juli in Heidelberg alles Nähere mit Ihnen zu besprechen u. dann flott ans Werk zu gehen Der Weg scheint frei und ich gehe endlich mit Freude an die Sache.«Footnote 32

Bei dem Juli-Treffen in Heidelberg dürften dann die entscheidenden mündlichen VereinbarungenFootnote 33 zu den zwei geplanten Zeitschriftenprojekten getroffen worden sein. Unverzüglich realisiert werden sollte die literaturwissenschaftliche Zeitschrift, die spätere Deutsche Vierteljahrsschrift. Aber Rothacker gelang es, Niemeyer auch die Zustimmung zu der zweiten, stärker philosophisch ausgerichteten geisteswissenschaftlichen Zeitschrift abzugewinnen, deren Konturen vorerst freilich noch vage waren.Footnote 34

Für die literaturwissenschaftliche Zeitschrift ging Kluckhohn sofort ans Werk. Bereits am 2. August 1922 bat er Rudolf Unger, ihm »den von Ihnen freundlicherweise in Aussicht gestellten Beitrag«Footnote 35 schon für das erste Heft der Zeitschrift rasch zu übersenden und berichtete:

Inzwischen hat der Plan festere Gestalt gewonnen. Die Zeitschrift soll vom Januar 1923 ab vierteljährlich bei Niemeyer in Leipzig erscheinen, redigiert von Dr. Rothacker und mir. Als Mitherausgeber haben ihre Mitwirkung zugesagt Sie, Burdach, Brecht, Schücking, Troeltsch, Spranger, Oncken. Es stehen noch die Antworten aus von Strich, Naumann, Baeumker, Vossler, Dehio.Footnote 36

Obwohl Konzeption, Titel und Mitherausgeber noch nicht feststanden, wurden die Vorbereitungen für die Zeitschrift in rasantem Tempo vorangetrieben – immer wieder mahnte Niemeyer Kluckhohn und Rothacker zur Eile,Footnote 37 drängte sie, unverzüglich mit potenziellen Herausgebern und Beiträgern Kontakt aufzunehmen und legte auch selbst Hand an.Footnote 38 Niemeyer beobachtete den geisteswissenschaftlichen Zeitschriftenmarkt genau; er spürte, dass weitere Gründungen in der Luft lagen,Footnote 39 und befürchtete, andere Verleger könnten ihm zuvorkommen.

Solche Befürchtungen waren nicht unbegründet. Schon 1913 war mit der vom Leipziger Historiker Paul Herre herausgegebenen fachübergreifenden Zeitschrift Die GeisteswissenschaftenFootnote 40 eine professionell redigierte, sehr niveauvolle Zeitschrift erschienen, die Überblicksartikel über sämtliche Bereiche der Geisteswissenschaften publizierte und so dem zeitgenössischen »Schrei nach Zusammenschau«Footnote 41 (»Synthese«) entgegenkam.Footnote 42 Die Geisteswissenschaften stellten allerdings ihr Erscheinen aus unbekannten Gründen schon vor Beginn des Ersten Weltkriegs ein. Noch vor Niemeyers Beginn der Planungen zur Deutschen Vierteljahrsschrift waren in München die von Walter Strich – dem Bruder Fritz Strichs – herausgegebenen Dioskuren erschienen, eine höchst ambitionierte ZeitschriftFootnote 43 im engeren geistesphilosophischen Sinn, in der neben prominenten Wissenschaftlern auch etwa Thomas Mann zu Wort kam. Freilich war in den ersten drei Bänden, über die Die Dioskuren nicht hinausgelangten, weder eine konzeptionelle StrategieFootnote 44 der Redaktion noch eine Zielgruppe zu erkennen, für die die Zeitschrift gedacht war. Vermutlich war das der Grund dafür, dass Niemeyer schon im August 1922 gegenüber Kluckhohn zuversichtlich äußerte: »Ich glaube nicht an langen Bestand der DioskurenFootnote 45 Größere Bedeutung maß Niemeyer zwei Projekten bei, die etwa gleichzeitig mit seinem eigenen in Angriff genommen, aber von ihm überholt wurden. Das erste war ein Projekt, das Hans Naumann und Franz Schultz in Frankfurt konzipiert zu haben scheinen, das zweite eines von Ernst Bertram und Friedrich von der Leyen. Von beiden Projekten sind nur briefliche ErwähnungenFootnote 46 bekannt, beide wurden nicht realisiert, sodass Rothacker Kluckhohn am 24. Oktober 1922 triumphierend mitteilen konnte: »Wir haben ja jetzt glücklich drei Zeitschriften umgebracht deren Skalps unseren Gürtel zieren.«Footnote 47

experiment eines verlegers mit zwei privatdozenten

Welches akademische Profil und welche wissenschaftlichen Pläne hatten die zwei Privatdozenten, die die Zeitschrift redigieren sollten? Der 1886 in Göttingen geborene Kluckhohn entstammte einer Professorenfamilie; auch er sollte und wollte Professor werden. Als er, 16-jährig, diesen Wunsch seinem Taufpaten Paul Heyse offenbarte, riet dieser, der Junge müsse sein »litteraturhistorisches Studium« an der Universität »vor allem auf der Grundlage strenger germanistischer Arbeiten beginnen, Grammatik und Sprachgeschichte treiben«, die verbleibende Zeit auf dem Gymnasium aber energisch dazu nutzen, »sich einen Überblick über die Literaturgeschichte« zu verschaffen, vor allem aber »die Werke selbst«Footnote 48 lesen. Kluckhohn beherzigte diesen Rat und entwickelte sich – ausweislich der von ihm selbst überlieferten RegisterFootnote 49 – zu einem furchterregenden Leser, Opern- und Theaterbesucher, der bereits mit 17 Jahren einen wohlformulierten, mit Fußnoten versehenen wissenschaftlichen Aufsatz über »Heimatkunst, die neue Literaturbewegung«Footnote 50 verfertigte. Nach Absolvierung des Gymnasiums in Göttingen studierte Kluckhohn an den Universitäten Heidelberg, München, Berlin und Göttingen; er wurde im Dezember 1909 aufgrund seiner von dem Historiker Karl Brandi und dem Germanisten Edward Schröder betreuten Dissertation über Die Ministerialität in Südostdeutschland vom zehnten bis zum Ende des dreizehnten JahrhundertsFootnote 51 promoviert. Nach einer Episode als Erzieher des Prinzen Friedrich von Sachsen-Meiningen leistete Kluckhohn seinen Militärdienst, den er als Offiziersaspirant beendete.Footnote 52 Im Dezember 1912 bewarb er sich in MünsterFootnote 53 um die Zulassung zur Habilitation, die am 7.11.1913 vollzogen wurde, nachdem er sich in seiner Probevorlesung »Der Minnesang als Standesdichtung« und seiner Antrittsrede über Kleists Penthesilea als »ein sehr gewandter Redner«Footnote 54 gezeigt hatte.

Um 1910 wurde nicht allein in Göttingen von promovierten Germanisten erwartet, dass sie über ausgebreitete Kenntnisse sowohl in der älteren und neueren deutschen Literaturgeschichte als auch in der Sprach- und Kulturgeschichte verfügten.Footnote 55 Kluckhohn veröffentlichte noch vor dem Ersten Weltkrieg auf all diesen Gebieten Forschungsbeiträge. Die erste Gruppe seiner Veröffentlichungen schloss an die Dissertation an und suchte zu klären, welche Rolle die Ministerialität für die höfische Kultur im Allgemeinen und den Minnesang im Besonderen spielte: Diese Arbeiten nehmen einen festen Platz in der Forschungsgeschichte ein.Footnote 56 Die zweite Gruppe behandelte verschiedene Probleme aus der neueren Literaturgeschichte. Für die »Tempel Klassiker«-Ausgaben edierte Kluckhohn die historischen Schriften SchillersFootnote 57 und untersuchte deren Textgenese; weiter publizierte er seine Antrittsvorlesung über Kleists PenthesileaFootnote 58 und einen Aufsatz über den »Französischen Einfluß in Friedrich Schlegels ›Lucinde‹«.Footnote 59

In seiner Arbeit an der Habilitationsschrift, deren Titel in der Münsteraner Habilitationsakte nicht genannt ist,Footnote 60 wurde Kluckhohn durch die 1913/14 aufgenommene Lehrtätigkeit, durch eine im Krieg erlittene sehr schwere Verwundung und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Nachkriegszeit immer wieder unterbrochen.Footnote 61 Am 13. August 1919 wurde ihm – ohne Änderung der Dienststellung eines Privatdozenten – »der Titel Professor beigelegt«;Footnote 62 im Sommersemester 1920 war er mit einer Lehrstuhlvertretung in Greifswald betraut.Footnote 63

Kluckhohns Dissertation war, nach seinen eigenen Worten, »aus kulturhistorischen Interessen erwachsen.«Footnote 64 In seinem – aus der ursprünglichen Habilitationsschrift hervorgegangenen – Buch Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik (1922) bezeichnete er es als »Aufgabe der historischen Forschung«, das »Bedingtsein der Ideen in persönlichem Erlebnis« herauszuarbeiten und das »Verflochtensein des Einzellebens und Einzeldenkens in die allgemeine seelische und geistige Struktur der Zeit und deren philosophische Einstellung«Footnote 65 darzustellen. Beide Aufgaben seien durch eine quellengestützte historische Untersuchung zu lösen. Ein programmatischer Anschluss an die »geistesgeschichtliche Literaturwissenschaft« findet sich in Kluckhohns Arbeit nicht.Footnote 66 Dass nicht allein Rudolf Unger,Footnote 67 sondern – retrospektiv – auch Kluckhohn selbstFootnote 68 seine Arbeit für die »Geistesgeschichte« reklamierte, hatte vor allem weltanschauliche Gründe.Footnote 69 In der Orientierungskrise nach dem Ersten Weltkrieg suchte auch Kluckhohn »nach dem Weg, der deutschem Wesen, deutscher Kultur entspricht«.Footnote 70 In seinem Aufsatz über »Wege und Ziele deutscher Kultur«Footnote 71 (1920) fand er diesen Weg im Ideengut der deutschen Romantik vorgezeichnet, das für ihn – grob verkürzt – zugleich Gegenstand historischer Forschung war wie auch Inspirationsquelle für ein zukunftgerichtetes Programm zur Verwirklichung deutschen Wesens.Footnote 72

Erich RothackerFootnote 73 stammte aus einem reichen Elternhaus in Pforzheim. In Kiel, Straßburg, München, Tübingen studierte er seit dem Wintersemester 1907/08 Philosophie, Geschichte und Medizin und führte so seine philosophischen, natur- und kulturwissenschaftlichen Interessen zusammen. 1911 wurde er von dem Neukantianer Heinrich Maier mit einer Dissertation Über die Möglichkeit und den Ertrag einer genetischen Geschichtsschreibung im Sinne Karl Lamprechts promoviert.Footnote 74 Nach einem in Berlin fortgesetzten Studium und dem Kriegsdienst in der Etappe habilitierte er sich 1920 bei Heinrich Maier in Heidelberg mit seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften, die – trotz ihres an Dilthey gemahnenden Titels – zunächst kaum rezipiert wurde.Footnote 75 Rothacker blieb denn auch bis zu seiner Berufung nach Bonn (1928) als Privatdozent in Heidelberg.

Das Studium in Berlin hatte Rothacker 1913 wieder aufgenommen, um seine an Dilthey anknüpfenden Forschungen zur Geschichte und Systematik der Geisteswissenschaften im Kreis der Berliner Dilthey-Schüler weiterzuführen. Ein förderlicher Arbeitskontakt zu ihnen kam jedoch nicht zustande, und so hielt Rothacker sich an den bekannten Literarhistoriker Richard M. Meyer:

R. M. Meyer habe ich nicht gehört, wohl aber des öfteren besuchen dürfen. Er hatte damals eine Reihe methodologischer Arbeiten geschrieben, welche den ›Moden‹ in der Entwicklung der modernen und antiken Sprach- und Literaturwissenschaften, auch der Religionswissenschaft nachgingen. Sie öffneten mir lehrreich den Blick für den Parallelismus und die Gleichzeitigkeit solcher Wandlungen. Das war eine Sicht, die sich noch in meiner ›Logik und Systematik‹ auswirkte.Footnote 76

Der Kontakt zu Meyer könnte für Rothacker auch in begriffsgeschichtlicher Hinsicht nützlich gewesen sein, denn Meyer beschäftigte sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert intensiv mit der Funktion und Bedeutung von Begriffen in historischen und systematischen Kontexten.Footnote 77 Den »ganz entscheidenden Gewinn« der Berliner Zeit brachte Rothacker aber ein anderer Kreis:

Durch die Vermittlung einer Münchner Bekannten lernte ich dort die beiden Erich-Schmidt-Schüler Sigbert Elkuss und Hugo Bieber kennen, die wieder mit der Gräfin Sigrid von der Schulenburg befreundet waren. […] Elkuss und Bieber waren bedeutende junge Gelehrte, beide von universalem, weit über ihr Fach hinausreichendem Horizont. Beide äußerlich vom Unglück verfolgt. An ihnen wurde mir für meine ganze weitere Entwicklung klar, was mir noch fehlte. Obwohl ich sie, genau besehen, nur einige wenige Male je ein paar Stunden sah, haben sie mir doch einen neuen Niveauanspruch vermittelt, zu neuen Maßstäben der Gelehrsamkeit verholfen.Footnote 78

Es ist nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet der Antisemit Rothacker das Gedächtnis zweier jüdischen Literaturwissenschaftler und einer Gelehrten bewahrte,Footnote 79 die in der Fachgeschichte vergessen sind, obwohl Elkuss einen grundlegenden Beitrag zur Romantikforschung beigesteuertFootnote 80 und Bieber »das vielleicht beste Buch über die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts geschrieben« hat.Footnote 81 Elkuss starb 1916, Bieber wurde 1933 ins Exil getrieben. Die Arbeiten der 1920 bei Franz Schultz und Edmund Husserl promovierten Gräfin Schulenburg sind ebenfalls vergessen.Footnote 82

Rothackers »Erinnerungen« dokumentieren, dass sein an Dilthey anknüpfendes Interesse an den Geisteswissenschaften von vornherein ein die einzelnen Fächer übergreifendes war, das historische und systematische Aspekte verbinden sollte. Mit Dilthey war Rothackers wissenschaftshistorisches ProgrammFootnote 83 auch in der Auffassung verknüpft, dass es gelte, die Geschichte und Philosophie der Geisteswissenschaften aus deren Praxis in Interpretation und Geschichtsschreibung zu rekonstruieren, nicht aber lediglich aus deren eigener Theorie oder Programmatik. Zum Zeitpunkt der Zeitschriftenplanung war Rothacker, um es knapp zusammenzufassen, ein an allen theoretischen und methodologischen Problemen der Philosophie, Künste und WissenschaftenFootnote 84 vielseitig interessierter, höchst ambitionierter versatiler Geist, der zum einen noch mit Folgearbeiten seines wissenschaftshistorischen Programms beschäftigt warFootnote 85, zum anderen mit dem Plan, seiner wissenschaftshistorischen »Einleitung« eine wissenschaftstheoretische »Logik und Systematik der Geisteswissenschaften«Footnote 86 folgen zu lassen.

Als potenzieller (Mit‑)Redakteur der geplanten Zeitschrift hatte Rothacker sich bei Hermann Niemeyer vor allem empfohlen, weil er aus Straßburg, Berlin und Heidelberg über »grosse Personalkenntnisse u. gute Beziehungen« verfügte und »wertvolle Beiträge in Aussicht«Footnote 87 gestellt hatte. Worum es dabei ging, berichtete Rothacker Ernst Troeltsch nicht ohne Stolz. Zum einen sei es ihm gelungen, »Professor Burdach für das Unternehmen zu gewinnen und ihm einen Beitrag zu entlocken«, zum anderen habe er »bei einem mehrtägigen Aufenthalt in Klein-Oels die Korrespondenz Diltheys mit dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg erobert« und außerdem habe er noch »Aussicht auf die Korrespondenz Diltheys mit Scherer und Usener.« Das aber seien nur seine »Paradepferde«.Footnote 88

Keines dieser ›Pferde‹ stammte aus Rothackers Stall. Die genannten Verbindungen und in Aussicht gestellten Beiträge verdankte er ausnahmslos Sigrid von der Schulenburg, mit der er aus der VorkriegszeitFootnote 89 in Berlin befreundet war und, wie aus der Korrespondenz der Jahre 1917 bis 1924 hervorgeht, auch zusammenarbeitete. Die Gräfin stellte den Kontakt von Rothacker zu Burdach her,Footnote 90 sie vermittelte die Edition von Burdachs »Kleinen Schriften« für die Buchreihe der Deutschen Vierteljahrsschrift,Footnote 91 sie transkribierte und edierte mit Rothackers Unterstützung die Briefe Diltheys an den Grafen Yorck von Wartenburg,Footnote 92 die 1923 in der von Rothacker mitherausgegebenen Schriftenreihe der Deutschen Vierteljahrsschrift publiziert wurden,Footnote 93 und ihr Plan war es, die Briefe Diltheys an Usener und Scherer zu edieren.Footnote 94 Diese Details wären nicht erwähnenswert, wenn nicht vor allem die von der Gräfin hergestellte Verbindung Burdachs zu Rothacker – und damit auch zu Niemeyer und Kluckhohn – die geistesgeschichtliche Orientierung der Zeitschrift in deren Anfangsjahren prägend beeinflusst hätte.

Bereits im Juni 1922 hatte Hermann Niemeyer Rothacker aufgefordert, die Gelegenheit eines persönlichen Gesprächs zu nutzen, um sich Burdachs Mitarbeit an der Zeitschrift zu versichern.Footnote 95 Am 18. Juli konnte Rothacker Burdach eröffnen: »Ich habe soeben mit den Herren Kluckhohn und Niemeyer die entscheidende Aussprache über unsere Zeitschrift gehabt und bitte Sie nun ganz offiziell um Herausgeberschaft und Mitarbeit an dem literarhistorischen Unternehmen.«Footnote 96 Zugleich bot er im Namen Niemeyers Burdach an, dessen »Kleine Schriften« in den projektierten »Beiheften« der Zeitschrift erscheinen zu lassen; Rothacker ließ Kluckhohn wissen, dass Burdach für die neue Zeitschrift »kaum entbehrlich wäre«.Footnote 97 Am 15.8.1922 akzeptierte Burdach das Angebot.Footnote 98 Daraus entwickelte sich eine bis in die Mitte der 1920er Jahre dauernde enge und überaus arbeitsintensive Verbindung zwischen dem Niemeyer-Verlag und Burdach.Footnote 99

Burdach bot der geplanten Zeitschrift großzügig seinen Aufsatz »Faust und die Sorge« an, den Rothacker freudig mit der Bemerkung akzeptierte: »Mit ›Faust und die Sorge‹ wollen wir das 1. Heft und damit die ganze Zeitschrift einleiten«Footnote 100 – das Einverständnis Kluckhohns mit dieser Entscheidung setzte er in einem Brief an diesen voraus.Footnote 101 Wie aus Rothackers Briefen hervorgeht – die Gegenbriefe sind nur in spärlichen Resten erhalten –, war Kluckhohn mit dieser Entscheidung durchaus nicht einverstanden, er befürchtete, dass Burdachs Aufsatz an der Spitze der neuen Zeitschrift eine programmatische Signalwirkung haben könnte. Kluckhohns Opposition richtete sich nicht etwa gegen Burdach oder gar dessen Beitrag,Footnote 102 sondern dagegen, dass ausgerechnet der bekannteste Repräsentant der Ideen Wilhelm Scherers, des Schulhaupts des literaturwissenschaftlichen Positivismus, das erste Heft der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte mit einem Aufsatz eröffnen sollte, der nicht allein ein glänzender Forschungsbeitrag zur Faust-Philologie war, sondern zugleich die ostentative Demonstration einer ideengeschichtlich aufgeklärten empirischen Konzeption der Philologie des 19. Jahrhunderts. Kluckhohn plädierte aus diesem Grund dafür, die Zeitschrift mit einem AufsatzFootnote 103 aus der Feder eines erklärten Antipositivisten wie Rudolf Unger zu eröffnen. Rothacker jedoch insistierte auf seiner Entscheidung; er suchte ihr lediglich ein wenig vom programmatischen Gewicht zu nehmen, indem er Kluckhohn vorschlug, Burdach »in dem Hefte so zu sagen das Ehrenpräsidium zu lassen und dann mit Unger den regulären Betrieb zu beginnen«.Footnote 104 Da indes auch Niemeyer Rothackers Vorschlag akzeptierte,Footnote 105 blieb es bei der Spitzenstellung des Aufsatzes. Dass Burdach in der Deutschen Vierteljahrsschrift später nicht häufiger zu Wort kam, lag eher an der zu rascher Verstocktheit neigenden Empfindlichkeit des temperamentvollen GelehrtenFootnote 106 als an mangelnden Angeboten von Seiten Rothackers und Kluckhohns.Footnote 107

Rothacker, der im Hinblick auf die Literaturwissenschaft eher der in Berlin gepflegten empirisch fundierten Ideengeschichte zuneigte als der idealistischen Geistesgeschichte Münchner PrägungFootnote 108, hielt Burdach überhaupt für den kompetentesten germanistischen Wissenschafts- und Literarhistoriker seiner Zeit, mit dem ihn ein breiter Grundkonsens in allen historischen und aktuellen Fragen der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte verband. Beide hielten nicht viel von metaphysischen Geisteshistorikern wie etwa Herbert Cysarz,Footnote 109 beide lehnten den Geschichtssubjektivismus des – von Burdach als »Georginen-Bund«Footnote 110 oder »Georgiasten«Footnote 111 bezeichneten – George-Kreises ab.Footnote 112 Aber Rothacker besaß daneben auch idiosynkratische Vorlieben, von denen er sich nicht abbringen ließ: Er bewunderte die Fähigkeiten seines Heidelberger Kollegen Friedrich Gundolf,Footnote 113 er schätzte die erwähnten Literaturwissenschaftler Siegbert Elkuss und Hugo Bieber,Footnote 114 deren Arbeiten er dem harthörig bleibenden Kluckhohn vergeblich für die Zeitschrift empfahl, und er setzte sich bei Kluckhohn bekanntlich ebenso nachhaltig wie vergeblich für die Aufnahme von Beiträgen Martin HeideggersFootnote 115 und Walter BenjaminsFootnote 116 in die Zeitschrift ein.

»... lassen sie mich explodieren...«

Im Grundsätzlichen lagen Rothackers und Kluckhohns weltanschauliche und wissenschaftliche Auffassungen einander recht naheFootnote 117 – desto weiter entfernt lagen jedoch die Vorstellungen, die sie von ihrer Tätigkeit für die geplante Zeitschrift hatten. Kluckhohns Ziel war es, die neue literaturwissenschaftliche Zeitschrift aufgeschlossen, seriös und professionell zu gestalten. Rothacker war bereit, bei dieser Aufgabe mitzuwirken, recht eigentlich aber sah er sich als spiritus rector und Herausgeber einer parallel zur Zeitschrift erscheinenden Reihe »Philosophie und Geisteswissenschaften«, mit der er kein geringeres Ziel verfolgte, als »die rollende Kugel der gegenwärtigen Philosophie um ein Wesentliches aus ihrer jetzigen in eine gesündere Bahn zu lenken«.Footnote 118 Seine Versuche, diesen ehrgeizigen Plan zu verwirklichen, blieben zunächst jedoch schon deshalb erfolglos, weil er keinen Redakteur für seine Reihe »Philosophie und Geisteswissenschaften« fand.Footnote 119 Kluckhohn hingegen nahm die Planung der ersten Hefte der Deutschen Vierteljahrsschrift zügig in Angriff und war Rothacker bei der Einwerbung von Beiträgen und der Konzeption der Hefte meist voraus.Footnote 120 Zugleich musste Rothacker feststellen, dass er für seine eigenen Autoren-Vorschläge – unter anderen die erwähnten Elkuss, Bieber, Schulenburg – keine Gegenliebe bei Kluckhohn fand, und schließlich blieb auch seine Kritik an einigen von Kluckhohn eingeworbenen Beiträgen unberücksichtigt. Obwohl die beiden Redakteure schon mit den – neben ihren akademischen Verpflichtungen betriebenen – Vorbereitungen der Deutschen Vierteljahrsschrift überlastet waren, hielt Rothacker zäh am Plan einer eigenen Zeitschrift oder zumindest einer parallel zu ihr erscheinenden Reihe »Philosophie und Geisteswissenschaften« fest und unterbreitete Hermann Niemeyer am 7. Dezember 1922 ein ProgrammFootnote 121 – samt einem Realisierungsvorschlag für das folgende Jahr. Dass dieses – nicht verwirklichte – Programm partiell durchaus mit konkreten Vorhaben unterfüttert war, geht aus einem 14 Seiten langen, unvollständig überlieferten MemorandumFootnote 122 hervor, mit dem Rothacker schon im Juli 1922 um Eduard Spranger als Mitherausgeber der Reihe geworben hatte.

Gegen Rothackers Planungen für dieses zweite Periodikum hatte Kluckhohn schon zuvor mehrfach Bedenken angemeldet, weil er befürchtete, dass die beiden Zeitschriften einander ins Gehege kommen und schlimmstenfalls sogar Konkurrenz machen könnten. Rothacker wies dieses Argument ebenso wie alle übrigen Einwände Kluckhohns zurück:

Ich habe mir nun Ihre Bedenken gegen »Philosophie und Geisteswissenschaften« sehr ernstlich durch den Kopf gehen lassen, vermag sie aber nicht zu teilen. Zunächst war doch mein geisteswissenschaftliches Projekt mein erstes und dauernd in umfangreichen Korrespondenzen und Entwürfen gepflegtes, ohne dass ich die Gründung der Vierteljahrsschrift je als bedenklich für dasselbe empfunden hätte. Und Konkurrenz beruht doch auf Gegenseitigkeit. Inzwischen habe ich aber die Sache unserer Zeitschrift doch zu meiner eigenen gemacht, dass ich mir ja selbst ins Fleisch schnitte, wenn ich sie irgendwie benachteiligen wollte. […] Ph. und Gw. werden eine rein philosophische Zeitschrift und zwar genau die, die ich seit Jahresfrist im besten Einvernehmen mit Ihnen organisiere, denn wenn ich unsere Korrespondenz zurückblättere, so haben sie mich mehrfach aufs freundlichste zu einer neuerreichten Etappe beglückwünscht. Meine Pläne haben sich gar nicht geändert, sondern aus rein praktischen Erwägungen heraus nur endlich eine adäquate Form gefunden.Footnote 123

Hermann Niemeyer aber geriet durch Rothackers Realisierungsvorschlag für die zweite Zeitschrift in beträchtliche Schwierigkeiten, zumal er, so gestand er Kluckhohn am 22.12.1922, »Rothacker nach langem hin und herschwanken [!] gestern geschrieben habe, dass ich die Sache machen könnte«.Footnote 124 Niemeyer ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass er – schon aus ökonomischen Erwägungen – in dem Konflikt über die Gründung einer zweiten Zeitschrift auf Kluckhohns Seite standFootnote 125; er gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Kontroverse sich irgendwie beilegen lassen würde – das solle bei einem Gespräch mit Kluckhohn und Rothacker im Januar 1923 erfolgen.Footnote 126 Schon vor diesem Gespräch hatte Rothacker aber, der sich um die Realisierung seines eigentlichen Plans betrogen und in seiner Ehre gekränkt sah, seiner Frustration in dem im Anhang abgedruckten ›Verstimmungs‹-BriefFootnote 127 an Kluckhohn Luft gemacht. Bei ihm handelt es sich um einen strategischen Brief, dessen wohlkalkulierter Temperamentsausbruch – »lassen Sie mich explodieren« – die Verletztheit des Verfassers ebenso dokumentieren sollte wie dessen Entschiedenheit als potenzieller Gegner. Zugleich und nicht minder deutlich lässt der Brief die Absicht des Verfassers erkennen, es nicht zum Abbruch der geplanten redaktionellen Zusammenarbeit an der Deutschen Vierteljahrsschrift kommen zu lassen: Rothackers detaillierte Einlassungen »zur Sache« zeigten, dass er nicht allein als gekränkter Kampfhahn, sondern auch als verantwortungsbewusster Mitarbeiter erscheinen wollte – und sein Schlussseufzer läßt alles zuvor Geschriebene in milderem Licht erscheinen: »Gott sei Dank habe ich mir jetzt einiges vom Herzen geredet, leben Sie wohl.« Mit diesem Brief schien Rothackers Bedürfnis nach Identitätswahrung Genüge getan. Dass Niemeyer kurz darauf die konkrete Planung der Zeitschrift oder Reihe »Philosophie und Geisteswissenschaft« ad calendas graecas verschobFootnote 128 und schließlich einstellte, irritierte Rothacker nicht mehr; immerhin wurde er der alleinige Herausgeber der Beihefte zur Deutschen Vierteljahrsschrift. In der Folgezeit gab es zwar immer wieder heftige Kontroversen, die sich meist an der mangelnden Unterstützung Kluckhohns durch Rothacker entzündeten, aber keine die Zusammenarbeit grundsätzlich infrage stellenden Zerwürfnisse; mit der Zeit entwickelte sich eine professionelle produktive Zusammenarbeit der beiden Redakteure, die bis zum Abschied aus der Redaktion 1956 Bestand hatte.Footnote 129 Kluckhohn identifizierte sich mit dem informellen Amt des geschäftsführenden Redakteurs einer an Bedeutung rasch wachsenden Zeitschrift: Er trug, wie auch Niemeyer wusste,Footnote 130 bei Weitem die Hauptlast der Redaktionsarbeit. Was Rothacker bewog, an der Redaktion einer Zeitschrift mitzuarbeiten, die weder seine Interessen noch seinen Ehrgeiz befriedigen konnte, schilderte er Konrad Burdach in einem offenherzigen Brief:

Ich führe meine Redaktionsgeschäfte (ich gebe ja auch noch Sammlungen heraus!) z. Zt. mit recht gemischten Gefühlen. Gewiss eine gewisse Organisationsfreudigkeit scheint sich bei mir immer wieder ein Ventil zu suchen, meine Kollegen wählen mich ja auch mit Hartnäckigkeit immer wieder in Fakultät und Senat, auch macht mir meine wachsende Personalkenntnis, die Berührung mit vielerlei Wissenschaften Freude, das erweitert den Horizont. Aber wenn man sich mit diesen Geschäften schon in der ruhigen Arbeit stören lassen will, dann lob ich mir schon mehr das Glück Werner Richters.Footnote 131 Ich kann nicht sagen wie sehr ich ihn und seinen künftigen Nachfolger – wissen Sie etwas Genaues über die Kandidaten?? – manchmal im Stillen um dieses großartige Wirkungsfeld beneide. Und fluche oft dem unglücklichen Zufall, der mich in die Provinz verbannte, während Posten verteilt werden, in denen ich mich ausleben könnte.– Nun ich habe mich da zu Konfessionen hinreissen lassen, die Sie eigentlich nicht interessieren können.Footnote 132

Rothacker ging es in der Tat darum, sich wissenschaftsorganisatorisch und -politisch gehörig »auszuleben«.Footnote 133 Er hatte indes auch eine philosophische Agenda, die er auf diese Weise zur Geltung bringen wollte. Ihm ging es darum, seine in Anknüpfung an Dilthey konzipierte »Einleitung« und »Logik und Systematik der Geisteswissenschaften« historisch und systematisch fortzusetzen und auf eine neue Grundlage zu bringen mithilfe eines begriffsgeschichtlichen Wörterbuchs.Footnote 134 Dieses Projekt, dass seine Arbeiten aus den 1920er Jahren mit denen aus der Zeit nach 1945 verbindet, stand unter keinem geringeren Anspruch, als »die Einzelwissenschaften und Philosophie mittels der Begriffe in einem inneren und ›notwendigen‹ geisteswissenschaftlichen Zusammenhang zu erweisen.«

II.

anmerkungen zur epistemischen situation der literaturwissenschaft zum zeitpunkt der gründung der VIERTELJAHRSSCHRIFT

Als das erste Heft der Deutschen Vierteljahrsschrift 1923 erschien, hatte die unter dem Namen der Geistesgeschichte zusammengefasste Bewegung, etwa gleichzeitig mit dem literarischen Expressionismus, ihren Zenit überschritten. Als »Bewegung, die aus einer zunächst ziemlich unbestimmten Interessenrichtung und Fragestellung erwachsen ist«Footnote 135, charakterisierte Eduard Spranger die Geistesgeschichte im Rückblick. Die Kennzeichnung als »Bewegung« lenkt den Blick auf die vor- und mitunter auch antiwissenschaftlichen weltanschaulichen Triebkräfte der Geistesgeschichte, die in zahlreichen Manifesten der Zeit Ausdruck, aber auch in wissenschaftliche Arbeiten Eingang fanden. Zugleich macht Sprangers Bestimmung verständlich, weshalb die Geistesgeschichte als eine einheitliche Richtung aufgefasst werden konnte – auch in der Literaturwissenschaft, obwohl hier die »Geistesgeschichte« eher als Sammelname für eine Reihe kaum vereinbarer und miteinander konfligierender Ansätze und Strömungen fungierte.

Ihren Ursprung hatte die geistesgeschichtliche Bewegung bekanntlich in der als »Kulturkrise« vielbeschworenen Umbruchsituation von Gesellschaft, Bildung und Wissenschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. In der Literaturwissenschaft formierte sie sich anfänglich als Opposition gegen die manifesten Degenerationserscheinungen der Philologien des ausgehenden 19. Jahrhunderts: mikrophilologische Fragestellungen, Anhäufung und Zersplitterung von heterogenen Wissensbeständen,Footnote 136 Analyse ohne Synthese, einzelwissenschaftliche Abschottung vor allem gegen die Philosophie, weltanschaulicher Orientierungsverlust usw. Prägnant zusammengestellt und in der Folgezeit lediglich dramatisiert fanden sich die Schwächen und Folgeerscheinungen des philologischen Positivismus bereits 1892 in der Habilitationsschrift »Kuno Fischer und die litterarhistorische Methode«Footnote 137 des Kuno-Fischer-Schülers Hugo Falkenheim. Die ›Befreiung aus den Fesseln des Positivismus‹ galt als die entscheidende Leistung der Geistesgeschichte, die – weit stärker als irgendeine ihrer späteren wissenschaftlichen Konzeptionen – bis weit in die gebildete Öffentlichkeit wirkte.Footnote 138 Die Opposition richtete sich aber weit stärker gegen den westeuropäischen Rationalismus, gegen Materialismus und Historismus als gegen die spezifische Theorie und Methodologie des philologischen PositivismusFootnote 139 – Erich Rothacker war der erste, der die »idealistisch-romantisch-historische« Grundeinstellung der positivistischen Wissenschaftskonzeption Wilhelm Scherers genauer rekonstruierte und damit einen angemessenen Beitrag zur Analyse des Positivismus in der deutschen Germanistik lieferte.Footnote 140

Als eine einheitliche Bewegung erschien die idealistische Opposition nur in ihrer Frontstellung gegen den Positivismus. Spätestens im Zuge der Herausbildung von Gegenentwürfen zur positivistischen Kunst- und Literaturwissenschaft zerfiel diese Einheit und spaltete sich auf in verschiedene Lager und Strömungen, die den Begriff von Kunst und Literatur sowie die Theorien zu ihrer Beschreibung und Interpretation auf sehr verschiedene Weise neu zu bestimmen suchten.

Die KunsterziehungsbewegungFootnote 141 etwa forderte, dass an die Stelle der auf die Genese und Wirkung des Kunstwerks gerichteten historischen Kunstwissenschaft bzw. der herkömmlichen Philologie eine stärker auf Intuition als auf wissenschaftliche Analyse gegründete Betrachtung der Kunstwerke selbst treten solle; die Bewegung, die sich auf Kunst‑, Musik- und Literaturwissenshaft erstreckte, richtete sich polemisch gegen die traditionelle »kunstgeschichtliche und kunsttheoretische Unterweisung«, welche »die ästhetische Kultur, statt sie zu fördern, tief geschädigt«Footnote 142 habe.

War die auf eine Reform der ästhetischen Erziehung gerichtete Kunsterziehungsbewegung gesellschafts- und bildungspolitisch motiviert, so resultierte die Forderung nach Konzeption und Institutionalisierung einer Allgemeinen KunstwissenschaftFootnote 143 aus einer Problemsituation der Wissenschaften selbst. Ziel der Allgemeinen Kunstwissenschaft war es, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene tiefe Kluft zwischen der philosophischen Ästhetik und den mit der Kunst befassten Einzelwissenschaften, insbesondere der wissenschaftlichen Kunstgeschichte und Kunstpsychologie, zu schließen. Die neu zu schaffende Disziplin einer Allgemeinen Kunstwissenschaft sollte daher interdisziplinär all die theoretischen und empirischen Fragen umfassen, die weder von den etablierten kunstwissenschaftlichen Disziplinen noch von der psychologischen Ästhetik bearbeitet wurden. Die Forderung nach der Institutionalisierung der neuen Disziplin wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der – auf Initiative des Dilthey-Schülers Max Dessoir gegründeten – Gesellschaft für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft und von der seit 1906 erscheinenden gleichnamigen Zeitschrift vorgetragen. Dessoir vertrat die Konzeption eines »ästhetischen Objektivismus« im Rahmen einer Kunstwissenschaft, die von den künstlerischen Gegebenheiten des ästhetischen Objekts ausgehen sollte. Im Hinblick auf die Literaturwissenschaft sprach sich Dessoir daher nachdrücklich gegen die werkgenetische Interpretation im Allgemeinen und den BiographismusFootnote 144 im Besonderen aus und forderte kategorisch, dass die ästhetische Analyse ausschließlich von »den gesetzmäßigen Eigenschaften der künstlerischen Objekte selbst«Footnote 145 ausgehen müsse.

Mit der Allgemeinen Kunstwissenschaft weist die phänomenologisch orientierte Literaturwissenschaft der Zeit zumindest in der Konzentration auf das Werk selbst einige Berührung auf,Footnote 146 obwohl sie, sich selbst »in der Mitte zwischen objektivistischer Ästhetik und der Psychologie des Subjekts«Footnote 147 positionierend, zu ihr vor allem methodologische Differenzen aufweist und als eigener philosophischer Zugang zum Kunstwerk betrachtet werden muss.

In den weiteren Kontext der Allgemeinen Kunstwissenschaft gehört schließlich auch der Aufsatz über »Wesen und Methoden der Literaturwissenschaft«,Footnote 148 den August Herrmann Kober für die literarische Sektion des Internationalen Kongresses für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 1913 vorbereitet hatte und der in systematischer Hinsicht die – dann reichlich 30 Jahre später allmählich sich herausbildende – Konzeption der sogenannten Werkimmanenten Interpretation begründete.Footnote 149 Kober räumte der biographischen und der psychologischen Methode eine lediglich heuristische Funktion ein; als »die eigentliche Zentralaufgabe der Literaturwissenschaft, genauer, der literaturwissenschaftlichen Interpretation« bezeichnete er die Methode, das »künstlerische Denkmal völlig ohne Rücksicht auf seinen Entstehungsprozess [zu] untersuchen«.Footnote 150 Für die Literaturgeschichtsschreibung schwebte Kober die Konzeption einer »Geschichte der Dichtungen ohne die der Dichter«Footnote 151 vor, die sich auf formale und semantische Merkmale der einzelnen Werke beschränken sollte.

Wie unterschiedlich die von verschiedenen Seiten entwickelten Vorschläge zu einer Neubestimmung des literarischen Werks und der zu seiner Interpretation vorgeschlagenen neuen Methoden sein mochten – sie stimmten zumindest in der Forderung überein, das literarische Werk, seine formalen und semantischen Merkmale als das Zentrum der Literaturwissenschaft zu betrachten. Diese Forderung ließ sich nun aber kaum mit der Auffassung der Geistesgeschichte in Übereinstimmung bringen, die das literarische Werk eher als Symptom im Hinblick auf die religiösen, philosophischen oder existentiellen Ideen in den Blick nahm, die sich in ihm manifestierten.

Generell war die deutsche Literaturwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Problemen überfordert, die sich aus den verschiedenen Perspektiven einer Neudimensionierung des literarischen KunstwerksFootnote 152 ergaben; die Grundlagen einer Theorie zur Bestimmung des literarischen Gegenstands fehlten ebenso wie die einer Theorie der Ziele und Methoden der Interpretation. »Vielleicht schenkt uns ein speziell für methodologische Prinzipienfragen veranlagter Kopf«, schrieb Rudolf Unger 1925, »in nicht allzu ferner Zeit eine Theorie oder gar eine Philosophie der Textkritik und Textinterpretation und füllt damit eine weitere Lücke aus zwischen Literaturwissenschaft und Philosophie, den lange Zeit feindlichen, nun aber so glücklich versöhnten Schwestern.«Footnote 153 Erst nach dem Ersten Weltkrieg setzten allmählich Versuche ein, die Philologie des 19. Jahrhunderts und die Konzeption einer neuen Literaturwissenschaft ebenso zu unterscheiden wie verschiedene wissenschaftliche Zugangsweisen zum literarischen Werk und seiner Geschichte.Footnote 154 Weithin aber herrschte in der deutschen Literaturwissenschaft um 1920 eine durch persönliche InvektivenFootnote 155 gesteigerte große Unklarheit im Hinblick auf die Ziele, Begrifflichkeit und die Bedeutung der verschiedenen Ansätze innerhalb der Disziplin. Josef Körner, einer der aufgeklärtesten Kenner der Szene charakterisierte diese Situation der Ungewissheit 1918 mit den Sätzen:

Glückselig die Wissenschaften und ihre Meister und Jünger, die schon so weit gekommen sind, dass sie mit der Lösung der ihnen gestellten Aufgabe beginnen können! Die Literaturgeschichte, deren lang verhaltene Krisis mit dem Tode zweier bedeutender Forscher, Minors und Erich Schmidts, jäh ausgebrochen ist, weiss noch nicht mal um ihre Aufgabe rechten Bescheid.Footnote 156

Eines der hervorstechenden Merkmale der programmatischen Debatte in der deutschen Germanistik der 1910er und 1920er Jahre war die Personalisierung: sie war – mangels einer der Verständigung dienenden Theoriesprache – das bevorzugte Medium für die Austragung programmatischer Auffassungsunterschiede. So ging es bei der Auseinandersetzung der Geistesgeschichte mit dem Positivismus weniger um theoretische oder methodologische Fragen als um »Dilthey oder Scherer«Footnote 157. Beide mussten in dieser zugespitzten Gegenüberstellung für Prinzipien herhalten, die für ihre Konzeptionen kaum charakteristisch waren. Dilthey war in dieser Konfrontation nicht der Dilthey des 19. Jahrhunderts, der gegen Schulphilosophie und Empirismus eine »Erfahrungswissenschaft des menschlichen Geistes«Footnote 158 zur Grundlage der Geisteswissenschaften machen wollte, sondern ein bereits geistesgeschichtlich interpretierter Dilthey, der mit den – meist dekontextualisierten – Aufsätzen aus Das Erlebnis und die Dichtung auf die »frische Lebenslust und Erlebnisempfänglichkeit des neuen an der Lebensphilosophie eines Nietzsche, Bergson und Simmel herangereiften Geschlechts«Footnote 159 wirkte »wie eine Offenbarung«Footnote 160. Dass die Dilthey-Rezeption zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht allein in der Literaturwissenschaft, sondern auch in der Philosophie anderen Traditionslinien folgte, als sie sich aus dem historischen und systematischen Zusammenhang seiner Arbeiten rekonstruieren lassen,Footnote 161 ist durch die Dilthey-Forschung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts demonstriert worden;Footnote 162 das aus dieser Forschung resultierende Dilthey-Bild hat sich freilich bis heute nicht durchgesetztFootnote 163 – auch in der Literaturwissenschaft nicht, obwohl hier die Legitimität der Berufung der Geistesgeschichte auf Dilthey schon seit den 1960er Jahren mit sehr starken Argumenten bezweifelt wurde.Footnote 164

Dilthey wurde indes nicht allein als »Begründer der Geistesgeschichte«Footnote 165 und »Führer«Footnote 166 der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft reklamiert, sondern auch als Schöpfer einer spezifischen Epoche der deutschen Literaturgeschichte, die unter der Bezeichnung »Deutsche Bewegung«Footnote 167 bekannt ist. Diltheys Basler Antrittsvorlesung »Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770–1800« (1867) wurde von Hermann Nohl – zunächst in seinem rhapsodischen Logos-Aufsatz von 1911,Footnote 168 dann in einer Reihe von Aufsätzen aus den 1920er JahrenFootnote 169 – einer grundlegenden konzeptionellen Veränderung unterzogen, die wohl besser als Umfunktionierung denn als Interpretation des Dilthey’schen Texts zu charakterisieren ist.Footnote 170 Der Kern dieser Umfunktionierung besteht darin, dass Nohl die von Dilthey im historischen Zusammenhang charakterisierte, von der Aufklärung bis zur Romantik reichende geschlossene und kontinuierliche BewegungFootnote 171 zunächst in eine systematische Opposition verwandelte, in der er einer als rationalistisch abgewerteten Aufklärung die »Deutsche Bewegung« als Gegenbegriff gegenüberstellte; diese Bewegung wurde sodann zum Wesensausdruck des »Deutschen Volkes« hypostasiert,Footnote 172 der emanatistisch die deutsche Literatur- und Geistesgeschichte weit über die Romantik hinaus bis zur Gegenwart der Konservativen Revolution im Ausgang der 1920er Jahre bestimmte.Footnote 173 Dieses seit Nohl von einem antiwestlichen Ressentiment getragene Denkschema gehört zum Kern der geistesgeschichtlichen Literaturgeschichtsschreibung in der Germanistik, und zwar nicht allein in völkisch orientierten Kreisen der Deutschkundebewegung, sondern, in verschiedenen Varianten, auch bei den Schulhäuptern der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft wie etwa Rudolf Unger, August Hermann KorffFootnote 174 und den Herausgebern der Deutschen Vierteljahrsschrift, Paul Kluckhohn und Erich Rothacker. Die »Deutsche Bewegung« gehörte zweifellos zum unpolitischen Erbe der idealistischen deutschen Bildungsidee, doch Paul Kluckhohn stand nicht allein mit der Überzeugung, die er 1934 in die Sätze fasste: »Die Bewegung unserer Tage steht der deutschen Bewegung um 1800 näher, als es den meisten Menschen heute bewußt ist. Man kann geradezu sagen: der deutschen Bewegung von heute ist durch die um 1800 geistig stark vorgearbeitet worden […].«Footnote 175

Als das erste Heft der Deutschen Vierteljahrsschrift 1923 erschien, zeichnete sich bereits ab, dass auf die idealistische »Revolution in der Literaturwissenschaft«Footnote 176 nicht das wissenschaftliche Programm einer einheitlichen literaturwissenschaftlichen Geistesgeschichte gefolgt war, auf das sich die Hoffnungen gerichtet hatten. Die im Kampf gegen den Positivismus noch einheitliche geistesgeschichtliche Bewegung spaltete sich auf in den mainstream einer wissenschaftlichen Geistesgeschichte, die sich der ideengeschichtlichen Tradition des 19. Jahrhunderts zu versichern suchte. Rudolf Unger, einst Pionier der geistesgeschichtlichen Revolte in der Literaturwissenschaft, zählte nun nicht allein Rudolf Haym und Hermann Hettner,Footnote 177 sondern auch Konrad BurdachFootnote 178 zu den Vorläufern der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft. Mit ihr konkurrierte eine Reihe von neuen Ansätzen wie etwa, um nur einige zu nennen, Walzels Formgeschichte, Strichs Stiltypologie und Nadlers Stammesgeschichte. Mit weiteren Ansätzen aus Philosophie, Kunstwissenschaft und anderen Disziplinen fanden sie alle einen Platz in der vielseitigen Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, die sowohl den Anhängern der einstigen geistesgeschichtlichen »Bewegung« als auch denen einer neuen, noch wenig konturenscharfen »Literaturwissenschaft« eine Plattform bot.