Einleitung

„Bei all dem gebe ich wohl gerne zu dass ich das Vorurtheil habe, dass es mit Ihrer Ansicht über die Chinesen seine Richtigkeit haben könnte. Nur bin ich noch nicht recht überzeugt dass dieser Punkt historisch schon entschieden ist.“Footnote 1 Mit diesen Worten beendete der deutsch-britische Indologe Rudolf Hoernle am 1. Januar 1912 einen Brief an den Wiener Pflanzenphysiologen Julius Wiesner. Hoernles Kritik bezog sich auf die jüngste papierhistorische Publikation von Wiesner zu den Ursprüngen des Hadernpapiers, das im Mittelalter als Schreibstoff gebräuchlich war (Wiesner 1911). Wiesner argumentierte darin, dass das Hadernpapier ursprünglich aus China kam und nicht, wie bisher angenommen wurde, aus den arabischen Ländern. Hoernle war zwar geneigt Wiesners These zuzustimmen, hielt diese aber für noch nicht ausreichend belegt.

Wie kam es dazu, dass ein Philologe mit einem Botaniker über den Ursprung bestimmter Papiersorten diskutierte? Im Jahre 1884 hatte sich Wiesner zum ersten Mal mit altem Papier beschäftigt, als der Wiener Orientalist Josef Karabacek ihn um die mikroskopische Analyse der Papierfasern alter arabischer Schriftstücke bat. Als Pflanzenphysiologe, Warenkundler und Mikroskopiker war Wiesner für diese Aufgabe prädestiniert. Bald schon entwickelte er ein erhebliches Eigeninteresse an dem Gebiet und erweiterte und verfeinerte seine Methoden der Papieranalyse. Über die nächsten etwa dreißig Jahre folgten weitere Kooperationen, in denen Wiesner sich allmählich von der bloßen Zuarbeit emanzipierte und selbstständig für historische Thesen eintrat. Durch seine außergewöhnliche Kompetenz in der mikroskopischen und mikrochemischen Papieranalyse stieg Wiesner schließlich zur international anerkannten Autorität in der historischen Papierforschung auf.

Es waren vor allem drei Personen, mit denen Wiesner zusammenarbeitete: von 1884 bis 1888 mit Karabacek, von 1900 bis 1903 mit Hoernle und in den Jahren 1902 bis 1904 und 1910 bis 1911 mit dem deutsch-ungarischen Archäologen Aurel Stein. Die Dynamik und Form der Kooperationen ist in reicher Korrespondenz dokumentiert; zudem entstanden breit rezipierte Publikationen von Wiesner zur Papiergeschichte (Wiesner 1887, 1902, 1904b, 1911). Es handelt sich dabei um frühe und besonders interessante Beispiele für die erfolgreiche Zusammenarbeit von Wissenschaftlern über die Grenze der so genannten „Zwei Kulturen“ hinweg. Seit der Physiker und Schriftsteller C. P. Snow diesen Begriff 1959 prägte (Gloy 2002; Jost & Rohbeck 2007; Jardine 2010; Welsh 2008), wurde seine These einer Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften von der Wissenschaftsgeschichte vielfach diskutiert (u. a. Bod & Kursell 2015: 337–340; Krämer 2018: 5–14). Einigkeit besteht inzwischen darüber, dass diese Kulturen sich vergleichsweise spät ausprägten; ein übliches Narrativ verortet diesen Prozess in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit der Teilung philosophischer Fakultäten als Ausdruck vollzogener Demarkation (Krämer 2018; Hamann 2018; Bouterse & Karstens 2015). Nur selten fiel dabei der Blick auf Grenzgänge, Transferprozesse und Zusammenarbeit, wie sie aus dem hier betrachteten Beispiel hervorgeht.

Die Kooperation, zum Teil auch Konkurrenz, von Biologie und Geschichtswissenschaften bei der Erklärung von Sachverhalten der Vergangenheit wurde jüngst zunehmend zum Gegenstand historischer, aber auch gegenwartsbezogener Wissenschaftsreflexion (Bösl 2017; Jones 2018; o.A. 2014).Footnote 2 Unser Beispiel zeigt, dass diese Zusammenarbeit kein neues Phänomen ist, sondern spätestens im 19. Jahrhundert begann. Im hier untersuchten Fall waren es Historiker, die die Kooperation mit einem Botaniker suchten. Vor dem Hintergrund des damaligen Prestigegefälles der Disziplinen mag dies überraschen, da sich die „historischen Wissenschaften […] im späteren 19. Jh. auf der Höhe ihres Ansehens“ befanden (Mommsen 1997: 32), während sich die noch junge Disziplin der Pflanzenphysiologie gerade erst zu legitimieren versuchte (Wiesner 1910).Footnote 3 Wiesner war einer der namhaftesten Vertreter dieses neuen Feldes (Gabriel 2007: 55–56; Babler 1935: 463); in diesem Aufsatz geht es darum, wie er zudem zum europaweit gefragten Experten für altes Papier aufstieg. Wie kam es zur Zusammenarbeit von Wiesner mit Paläographen und Orientalisten um 1900? Und welche Bedingungen begünstigten den erfolgreichen Verlauf dieser Kooperation?

Zu drei Bereichen möchte dieser Aufsatz einen Diskussionsbeitrag leisten: erstens zur Geschichte der historischen Papierforschung; zweitens zu Varianten kooperativer Forschung und ihrer Dynamik; drittens zu den besonderen Anforderungen an interdisziplinäre Kooperationen, insbesondere über die Grenze der Wissenschaftskulturen hinweg. Im Folgenden etablieren wir zunächst unser begriffliches Inventar zur Beschreibung interdisziplinärer Kooperationen, insbesondere werden wir verschiedene Arten von Expertise sowie zwei Typen wissenschaftlicher Kooperation einführen. Vor diesem Hintergrund werden wir dann untersuchen, auf welche Weise und zu welchen Fragen Wiesner mit Karabacek, Hoernle und Stein zusammenarbeitete. Dabei wird sich zeigen, dass auch der besondere lokale Kontext von Bedeutung war, die Wissenschaftslandschaft in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Wir schließen mit einigen Überlegungen zur Kooperation über die Grenzen von Disziplinen und Wissenschaftskulturen hinweg.

Kooperation zwischen Disziplinen

Kooperation verstehen wir in diesem Aufsatz als „das Zusammenwirken von zwei oder mehreren Akteuren […], in Form bewusst gewählter Handlungen“, deren Ziele positiv interdependent verknüpft sind; das heißt beide Parteien können ihre Ziele nur dann erreichen, wenn auch die je andere Partei die ihren erreicht (Nickelsen 2014: 356; Nickelsen & Schürch 2020).Footnote 4 Oft geht es bei diesem Zusammenwirken darum, Ziele zu erreichen, die alleine nicht oder nur ungleich mühsamer erreicht werden können. So lassen sich umfangreiche und zeitaufwändige Projekte besser (oder überhaupt nur) bewältigen, indem man die Arbeit auf viele Hände und Köpfe verteilt, etwa die naturhistorische Beschreibung der Welt oder die Sequenzierung des menschlichen Genoms (Daston 2007; Daston & Park 2002; Gannett 2019; Parker et al. 2013). Doch gibt es auch kleinräumige Forschungsfragen, die nur bearbeitet werden können, indem man verschiedene Expertisen kombiniert, das heißt verschiedene Wissensbestände und methodische Kompetenzen, auch über Disziplinengrenzen hinweg (Andersen 2016; Andersen & Wagenknecht 2013; Wray 2002). Um diese Form der Zusammenarbeit geht es uns im Folgenden. Disziplinen verstehen wir dabei konservativ und deflationär im Sinne intellektuell und institutionell abgegrenzter akademischer Fächer, so wie sie um 1900 vorlagen.

In interdisziplinären Kooperationen wirken Wissenschaftler mit unterschiedlichem disziplinärem Hintergrund und fachlicher Expertise zusammen, um neue Forschungsergebnisse zu produzieren (Andersen & Wagenknecht 2013: 1881; Nickelsen & Schürch 2020). Mindestens einer der Kooperationspartner verfügt dabei über Kompetenzen und Wissensbestände, über die der andere nicht verfügt, diese aber benötigt, um die eigenen Ziele zu erreichen.Footnote 5 Hanne Andersen bezeichnet dies in ihrer Analyse als contributory expertise: die inhaltliche Expertise, mit der zum gemeinsamen Projekt beigetragen wird (Andersen 2016: 2–3).Footnote 6 Um die Kooperation zum Erfolg zu bringen, muss diese ergänzt werden durch interlocking expertise, im Folgenden (etwas holperig) übersetzt als „Integrationsexpertise“, die es ermöglicht, dass die unterschiedlichen inhaltlichen Expertisen mit Blick auf das Erkenntnisziel produktiv ineinander greifen (Andersen 2016: 3). In der Regel muss dazu mindestens eine Person mit den Fragestellungen, Methoden und Kategorien der anderen Disziplin soweit vertraut sein, dass sie diese mit eigenen Beiträgen und Fertigkeiten verknüpfen kann. Im besten Fall sind beide Partner in diesem Sinne kompetent (Andersen 2016: 4). Je unterschiedlicher die Disziplinen sind, und je enger die Befunde integriert werden sollen, desto höher ist der Anspruch an diese zweite Form der Expertise (Andersen 2016: 6).Footnote 7 Je deutlicher die Integrationsexpertise ausgeprägt ist, kann man anders herum schließen, desto fruchtbarer und erfolgsversprechender ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Die meisten wissenschaftshistorischen Studien zur Dynamik interdisziplinärer Kooperation beziehen sich auf Beispiele des 20. und 21. Jahrhunderts; zudem richten sie den Blick ganz überwiegend auf kooperative Großprojekte (z. B. Galison 2003; Parker et al. 2013). Interdisziplinäre Kooperationen in den Natur- und Geisteswissenschaften wurden vergleichend betrachtet, in ihren je spezifischen Formen der Zusammenarbeit (Real 2012).Footnote 8 Die direkte Zusammenarbeit zwischen Geistes- und Naturwissenschaften fand bislang vorwiegend in Beispielen aus dem 20. und 21. Jahrhundert Beachtung (Davidson & Savonick 2017; Guerra 2008). Eine Ausnahme bildet die Technical Art History, die anhand von Beispielen die Zusammenarbeit von Kunsthistorikern, Künstlern und Chemikern Anfang des 19. Jahrhunderts und damit die Ursprünge der Konservierungswissenschaften untersucht (Dupré 2017; Bol 2017). Detailanalysen der Kooperationsform über die Grenzen der Wissenschaftskulturen hinweg liegen bisher jedoch nicht vor. Dies mag daran liegen, dass diese Form der Kooperation vergleichsweise selten und nur in Ausnahmefällen – wie im vorliegenden Beispiel – umfassend dokumentiert ist; zugleich sind diese Konstellationen besonders instruktiv. Unter anderem stellen sie besonders hohe Anforderungen an die erwähnte Integrationsexpertise. Wir werden daher besondere Aufmerksamkeit darauf richten, wie es gelang, die fachliche Expertise der Paläographen, Archäologen und Orientalisten mit der des Pflanzenphysiologen Wiesner zu verbinden. Es wird sich zeigen, dass auf beiden Seiten Integrationsexpertise vorlag, wobei Wiesner sich im Laufe der Zeit deutlich stärker auf die Paläographie zubewegte als anders herum.

Denn Wiesners Rolle in diesen Kooperationen änderte sich im Laufe der Zeit erheblich; damit eignet sich unser Beispiel auch dafür, Muster und Varianten der wissenschaftlichen Kooperation zu unterscheiden. So antwortete Wiesner anfangs nur reaktiv auf spezifisch formulierte Forschungsfragen und arbeitete seinem Kooperationspartner zu. Wir schlagen vor, in diesen Fällen von einer „geschlossenen Kooperation“ zu sprechen, die in klar vorgespurten intellektuellen Bahnen bleibt. Im weiteren Verlauf zeigte Wiesner zunehmend Eigeninitiative, wartete nicht mehr auf Aufträge, sondern begann, sich selbstverantwortlich und innovativ in die Zusammenarbeit einzubringen. Hier lässt sich von einer „offenen Kooperation“ zwischen Wiesner und den Paläographen sprechen: Beide Kooperationspartner entwickelten Methoden und Fragestellungen weiter, was neue, unvorhergesehene Forschungsrichtungen und Ergebnisse ermöglichte – auch über den Gegenstand der eigentlichen Kooperation hinaus. So bereicherte Wiesner die Paläographie um methodische Zugänge und papierhistorische Befunde, nutzte aber die mikroskopische Untersuchung der alten Manuskripte auch für seine botanischen Interessen.

Diese Entwicklung von einer geschlossenen Kooperation, in der Wiesner den Paläographen lediglich zuarbeitete, zu einer (ergebnis-)offenen Kooperation lässt sich auch damit erklären, so unsere These, dass Wiesner seine Integrationsexpertise zunehmend weiterentwickelte, das heißt ein immer besseres Verständnis dessen gewann, wie er seine eigenen botanischen und warenkundlichen Kenntnisse mit den Befunden und Interessen der historischen Papierforscher verknüpfen konnte. Doch wie wir sehen werden, blieb Wiesner auch dabei nicht stehen. Über die Integrationsexpertise hinaus erarbeitete er sich umfassende inhaltlich-sachliche Expertise der Papiergeschichte – bis an die Grenze der eigenen disziplinären Mobilität. Denn im Ergebnis seiner jahrzehntelangen Zusammenarbeit sah Wiesner sich schließlich selbst als Papierhistoriker, nicht mehr nur als interdisziplinär beitragender Experte.Footnote 9 Betrachten wir nun die drei Phasen dieser Entwicklung am Fall.

Pflanzenfasern und Paläographie – Wiesner und Karabacek

In der Papyrus-Sammlung der kais. Hoheit Herrn Erzherzog Rainer befinden sich, wie ich Ihnen einmal schon mitzutheilen die Ehre hatte, auch Proben des ersten von den Arabern erzeugten Papieres (8–10 Jhdt.), von welchem ich vermuthe, daß sie aus Baumwollfasern hergestellt sind. Eine genauere Untersuchung derselben, welche Sie mir zuzusagen bereits die Güte hatten, würde über diese sehr wichtige Frage Licht verbreiten (Karabacek 1884: MA8, 3.5.83.A1.18, Hervorhebung im Original).

Dieser Brief des Wiener Orientalisten Josef Karabacek (1845–1918) aus dem Jahre 1884 an Julius Wiesner (1838–1916) dokumentiert die zwischen den beiden Wissenschaftlern getroffene Vereinbarung zur mikroskopischen Untersuchung von Papierproben. Es folgte eine mehrjährige Zusammenarbeit bis zum Jahre 1888 sowie zahlreiche weitere Briefe bis 1915.Footnote 10 Die Kooperation mit Karabacek markiert den Beginn von Wiesners Karriere in der Papiergeschichte. Nichts deutet darauf hin – etwa Bemerkungen in Briefen oder erhaltene Rechnungen –, dass Wiesner für diese Arbeit bezahlt wurde, seinen Beitrag also als Dienstleistung und Auftragsarbeit verstand. Von Anfang an war es ein Angebot zur wissenschaftlichen Kooperation, das Wiesner auch hätte ablehnen können.

Wiesner blickte zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine lange, erfolgreiche Karriere zurück (Wininger 1979: 282; siehe auch: Kisser 1963; Linsbauer 1917; Wurzbach 1888). Von 1872 bis 1909 hielt er an der Universität Wien den weltweit ersten Lehrstuhl für Pflanzenphysiologie, zugleich war er bis 1880 Professor für technische Warenkunde und technische Mikroskopie am Wiener Polytechnikum. Wiesner trug erheblich zur Entwicklung und Etablierung all dieser Fachgebiete bei. Er publizierte auf nahezu allen Bereichen der Pflanzenphysiologie und war aktiv daran beteiligt, den Gegenstandsbereich des noch jungen Faches zu umreißen (vgl. Wiesner 1877, 1881, 1892, 1896, 1904a, 1907).Footnote 11 Sein pflanzenphysiologisches Institut galt als eines der „best eingerichteten seiner Art“ (Molisch 1916: 83). In diesem Institut führte Wiesner auch die mikroskopischen Analysen für Karabacek und seine späteren Kooperationspartner durch (Wiesner 1910: LHAS, 10/fols. 115). Dabei hatte Wiesner sich schon vorher, in seiner Tätigkeit am Polytechnikum, als Experte für die mikrochemische Analyse von Pflanzenfasern und deren Verarbeitung zu industriellen Produkten wie Papier profiliert. Auch nach seiner Emeritierung mikroskopierte Wiesner noch in den Räumen des Instituts Papierproben, wie wir aus einem Brief von Wiesner an Aurel Stein erfahren:

Ich habe – dank dem freundlichen Entgegenkommen meines Nachfolgers im Amte, Prof. Molisch, der einer meiner fähigsten und liebsten Schüler ist – im pflanzenphysiol. Institute meinen eigenen Arbeitsraum und stehen mir die Mittel des Institutes weiter zur Verfügung, so dass ich meine Arbeiten, auch die mikroskopische, nach wie vor auszuführen in der Lage bin. (Wiesner 1910: LHAS, 10/fols. 120)

Wie und wo Wiesner und Karabacek sich kennenlernten, ist nicht genau zu bestimmen. Die Wiener Wissenschaftslandschaft um 1900 war klein und überschaubar, und die Professorenschaft in vielfacher Weise vernetzt – nicht zuletzt wurde die Philosophische Fakultät der Universität Wien erst 1975 in einzelne Fachbereiche geteilt (Mühlberger 2009: 97).Footnote 12 Weiterhin waren Karabacek und Wiesner beide Mitglieder der Akademie der Wissenschaften in Wien und trafen demzufolge auch in diesem Kontext regelmäßig aufeinander. Es ist daher gut möglich, dass Karabacek um Wiesners Kompetenz als technischer Experte von Papier und Mikroskopie wusste und ihn persönlich auf diese Fragen ansprach.

Der eingangs zitierte Brief nimmt Bezug auf die „Sammlung Papyrus Erzherzog Rainer“ (PER). Diese umfasste etwa 10.000 Papyri und andere Papiere aus Ägypten (El-Fajiûm), die 1883 auf Karabaceks Initiative hin erworben und ins k.k. Österreichische Museum für Kunst und Industrie in Wien überführt worden waren (Karabacek 1883, 1885; Selander 2008). Sie ist heute Bestandteil der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, eine der bedeutendsten und größten Manuskriptsammlungen der Welt. Karabacek war mit der Sichtung, Bearbeitung und wissenschaftlichen Auswertung der orientalischen Handschriften betraut. Er war Experte für arabische Münzen, Papyri und Textilien, Gründungsmitglied des orientalischen Instituts in Wien, Professor für die Geschichte des Orients und ihrer Hilfswissenschaften sowie später Direktor der Wiener Hofbibliothek. Karabacek war aber kein rein philologisch arbeitender Orientalist, sondern verband quellenkundliches mit materialkulturellem Interesse (Troelenberg 2011: 233; Hauser 2005: 77; Marchand 1994: 109; auch zu Karabacek: Ali-de-Unzaga 2012: 75–86; Becker 1920: 233–238; Bihl 2009; Gottschalk 1977; Mauthe 1999: 11–42; Rhodokanakis 1919: 188–198). In seiner Forschung interpretierte Karabacek Schrift- und Materialquellen unter Rückgriff auf ihren kulturhistorischen Kontext. So setzte er etwa in der Kooperation mit Wiesner die Materialität von Manuskripten mit der Geschichte des Papiers und seiner Herstellung in Beziehung.

Dieser „Einbezug von Realstudien in die orientalistische Leitdisziplin“ (Troelenberg 2011: 234) ist symptomatisch für eine breitere Transformation und Entwicklung der historischen Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Teile der Altertumswissenschaften ergänzten zunehmend ihre philologische Ausrichtung mit einer Untersuchung materieller Überreste, und als Gegengewicht zur politischen Geschichtsschreibung richtete sich das Interesse auf eine weit gefasste Kulturgeschichtsschreibung (Hauser 2005; Mehr 2009; Schleier 2003). Eine Reihe historischer Disziplinen wie die Archäologie, die Kunstgeschichte und die Orientalistik erkannten, dass sie zur Beantwortung bestimmter Fragen mit Naturwissenschaftlern kooperieren mussten – insbesondere, wenn es um die materielle Dimension ihrer Forschungsgegenstände ging (Caley 1967: 121).Footnote 13

Viele Beispiele dokumentieren den Aufstieg einer naturwissenschaftlichen Analyse archäologischer Artefakte im deutschsprachigen Raum um 1900. 1888 wurde in den königlichen Museen zu Berlin sogar ein eigenes chemisches Labor zur Untersuchung materieller Quellen eingerichtet, unter Leitung des Chemikers Friedrich Rathgen (1862–1942). Seine Hauptaufgabe war die Konservierung und Restaurierung archäologischer Artefakte, er gilt als der Vorreiter der Konservierungswissenschaft (Caldararo 1987; Clavir 1998; Corfield 1988; Plenderleith 1998; zu Rathgen auch: Bracchi 2014; Brittner 1943: 19–20; Gilberg 1987: 105–20; Hiecke 1942: 91; Riederer 1976). Rathgens Materialuntersuchungen dienten aber auch analytischen Fragestellungen (Unger & Debbert 1988). Er untersuchte Tonscherben aus Babylon (Rathgen 1903, 1908), Glasperlen aus Ägypten (Rathgen 1913) und prüfte Gemälde und Skulpturen der Berliner Sammlung auf ihre Echtheit (Unger & Debbert 1988). Etwa zur gleichen Zeit bemühte man sich in Berlin auch um die Analyse von Glasuren aus Assur. Walter Andrae (1875–1956), Kurator der Vorderasiatischen Abteilung der Berliner Museen, beauftragte damit das Preußische Materialprüfungsamt (Andrae 1923; Bär 2003). Der Wiener Kunsthistoriker Josef Strzygowski (1862–1941) versuchte den Einfluss Persiens auf chinesische Textilkunst nachzuweisen und bat dafür den uns bereits bekannten Pflanzenexperten Wiesner um die Analyse von Seidenstoffen (Stein 1911: LHAS 9/fols. 55; Strzygowski 1911: LHAS 9/fols. 69 und LHAS 9/fols. 78; siehe auch: Marchand 1994).

Die Anwendung naturwissenschaftlicher Analysen veränderte maßgeblich die Ausrichtung einiger historischer Disziplinen. Dies gilt auch für die Paläographie, die sich neuen Forschungsansätzen und Methoden öffnete (Härtel 2002; Henning 2000; Koch 2005). Die Zusammenarbeit von Wiesner und Karabacek bietet insofern auch Einblicke in die Geschichte der historischen Hilfswissenschaften, die im späten 19. Jahrhundert ihre Rolle im akademischen Betrieb zu definieren suchten. Die gezielte Anfrage von Karabacek deutet darauf hin, dass er wusste, was er von Wiesner zu erwarten hatte und wie er diesen Input mit seinen Befunden zu kombinieren gedachte. Neben einer weitgehenden Offenheit gegenüber naturwissenschaftlichen Daten ist dies Zeichen erheblicher Integrationsexpertise: Karabacek trat gut vorbereitet in diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ein.

Fragen zur materiellen Grundlage von Papier stellten sich in Wien mit besonderer Dringlichkeit: Wien wurde ab den 1870er Jahren „geradezu überschwemmt mit den Produkten des Orients“ (Lessing 1900: 22), und dazu zählten auch die zahlreichen Papyri und andere Manuskripte aus El-Fajiûm, die Wiesner untersuchte. Die Sammlung PER entwickelte sich zu einer der umfangreichsten Papyrussammlungen der Welt. Die Bedingungen für die materielle Analyse dieser Papiere waren nahezu optimal: 1854 war in Wien das Institut für österreichische Geschichtsforschung (IÖG) gegründet worden, im Bestreben, die historischen Hilfswissenschaften auf eine neue Grundlage zu stellen und zu professionalisieren (Lhotsky 1954). Dies erwies sich als überaus erfolgreich, und das IÖG war bald für seine Untersuchungen europaweit bekannt und vernetzt. Mit dem Direktor, Theodor Sickel (1826–1908), pflegte Wiesner sehr gute Beziehungen, auch begünstigt durch die räumliche Nähe ihrer Institutionen (zu Sickel: Erben 1926; Redlich 1927; zum Verhältnis von Wiesner und Sickel: Musil-Gutsch 2020). Darüber hinaus war Wiesner mit führenden technischen Papierexperten im deutschsprachigen Raum vernetzt, so korrespondierte er etwa mit Wilhelm Herzberg (1861–1936) (Herzberg 1893: MA8, 3.5.83.A1.18). Seit 1884 leitete Herzberg die Abteilung für Papierprüfung der Königlichen Mechanisch-Technischen Versuchsanstalt in Berlin (ab 1900: Königliches Materialprüfungsamt; vgl. Ruske 1971, 79.).

Zurück zur Anfrage von Karabacek. Ihn interessierten vor allem Proben der sehr frühen, von Arabern hergestellten Papiere der Sammlung PER aus dem 7. und 8. Jahrhundert n. Chr. Karabacek vermutete, dass diese Proben unverarbeitete Baumwollfasern enthielten. Damit bargen sie für ihn das Potenzial, eine in der Paläographie der Zeit „lebhaft ventilirte“ (Wiesner 1887: 180) Frage zu beantworten: Ob das älteste, zu jener Zeit bekannte Papier wirklich aus roher Baumwolle gefertigt worden war oder aber aus Hadern bestand, also Textilresten, dem vor allem im europäischen Spätmittelalter gebräuchlichen Schreibstoff (Lupi 1875; Briquet 1884). Die Datierung des ältesten bekannten Papiers war auf diese Weise eng verbunden mit der Frage nach den kulturhistorischen Anfängen der Papierherstellung; davon abgeleitet konnten auch jüngere Papiere datiert werden, was wiederum eine genauere zeitliche Einordnung von Textquellen erlaubte.

Die These vom Papier aus roher Baumwolle stammte aus den Anfängen der Paläographie im 18. Jahrhundert, vorgebracht von namhaften Pionieren des Faches wie zum Beispiel Lodovico Antonio Muratori (1672–1750) und Bernard de Montfaucon (1655–1741). Seither hatte sich diese These im Feld gehalten und war zumeist ungeprüft übernommen worden. Doch seit den 1870er Jahren wurde in der Paläographie vermehrt daran gezweifelt, denn überzeugende Belege für die Fertigung von Papier aus unverarbeiteter Baumwolle gab es nicht – insbesondere gab es keine Bestätigung für die Existenz dieses Papiers auf Grundlage einer botanisch sachkundigen, mikroskopischen Untersuchung der Fasern. Bislang hatte man entweder von Bezeichnungen in historischen Quellen auf das Material einer Handschrift geschlossen oder eine Materialbestimmung mit bloßem Auge vorgenommen, das heißt die Optik der Gewebestruktur in durchscheinendem Licht geprüft (Wiesner 1887: 189; Sickel 1872: 446). Um die tatsächliche Beschaffenheit der ältesten Papiere zu klären, war diese Vorgehensweise unzureichend.

Karabacek und andere erkannten, dass „[h]ier […] also die Grenzscheide [lag], wo der Historiker vor dem Physiologen sich zurückziehen musste“ (Karabacek 1885: 165). Die Anfrage von Karabacek an Wiesner war dabei nicht die erste ihrer Art. An verschiedenen Standorten in Europa bildeten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts Zweiergespanne aus Paläographen und Naturwissenschaftlern, die in altem Papier nach Baumwollfasern suchten. Der Schweizer Papierhändler und -forscher Charles-Moïse Briquet (1839–1918) etwa versuchte gemeinsam mit dem Pharmakologen Jaques Brun (1826–1908) die Baumwollfrage zu beantworten. Er stand darüber mit Wiesner in Kontakt und berichtete ihm von weiteren Kooperationen:

Il est très curieux qu’une recherche de ce genre ait été poursuivre presque simultanément et sans que de part ou d’autre, nous en eussions réciproquement connaissance, par vous, a Vienne, par MM les profs Girard et Giry à Paris, et par moi à Genève. Que nous soyons tous arrivés au même résultat, cela fait honneur au microscope. (Briquet 1886: MA8, 3.5.83.A1.18)Footnote 14

Briquet berichtete Wiesner von der Zusammenarbeit des französischen Paläographen Arthur Giry (1848–1899) mit dem Chemiker Aimé Girard (1830–1898) (siehe auch o. A. 2019; Demeulenaere-Douyère & François 2019). Unerwähnt ließ er den italienischen Paläographen Clemente Lupi (1840–1919), auf den die ersten Versuche zur mikroskopischen Analyse von Papier mit Botanikern zurückgehen (Capannelli & Insabato 2000: 166–168; Capannelli & Lenzi o. J.; Pagliai 1919). Lupi arbeitete bereits 1872 zu diesem Zweck mit Teodoro Caruel (1830–1898) und Antonio Mori (1847–1902) zusammen (Wiesner 1902: 3; Lupi 1875: 45–46). Diese interdisziplinären Zusammenschlüsse sind Beispiele für geschlossene Kooperationen, wie sie eingangs eingeführt wurden: Die Paläographen stellten eine Frage, die von den Naturwissenschaftlern mit Hilfe mikroskopischer Methoden zu beantworten war, nämlich: Gibt es in diesem Papier rohe Baumwollfasern oder nicht? Die Antwort lautete: ja; aber wie Wiesner zeigen konnte, hatten seine Vorgänger unzureichende Methoden verwendet und die Ergebnisse falsch ausgewertet, da es ihnen an Hintergrundwissen mangelte.Footnote 15 Wir haben zudem keine Hinweise darauf, dass sich in diesen Konstellationen die Naturwissenschaftler für die epistemischen Ziele der Paläographen interessierten oder gar eigene Fragestellungen an das Material verfolgten. Es waren klare Fälle geschlossener Kooperationen, deren Ergebnisse, wie sich zeigen sollte, die Frage nach dem Baumwollpapier nicht umfassend beantworteten.

In ihrer Anfangsphase folgte die Kooperation von Wiesner und Karabacek demselben Muster. Karabacek trat mit einer konkreten Frage zur Papierzusammensetzung der arabischen Manuskripte an Wiesner heran: „Baumwolle oder Hadern?“; und zwischen diesen Alternativen sollte Wiesner entscheiden. Wiesner griff dafür auf seine Kenntnis botanischer und warenkundlicher Verfahren zurück und nutzte sie zur Analyse des alten Papiers. In der Veröffentlichung eines Zwischenstands seiner Untersuchungen von 1886 erklärte Wiesner: „Alle mir bisher übergebenen Objecte bestehen im Wesentlichen aus demselben Fasernmateriale […] und wurden, allem Anscheine nach, auf gleiche Weise erzeugt. […] Diese Papiere sind durchwegs aus Hadern (Lumpen) bereitet“ (Wiesner 1887: 45). Damit widersprach sein Befund der ursprünglichen Annahme von Karabacek – und den naturwissenschaftlichen Experten vor Wiesner.

Die umfassenden Abhandlungen erschienen 1887: Karabacek veröffentlichte einen Aufsatz über „Das arabische Papier“ (1887) und Wiesner seine „Faijûmer Papiere“ (1887). Die Publikationen waren zwar – wie beide Wissenschaftler oft betonten – unabhängig voneinander entstanden, aber eng aufeinander bezogen. Die Abhandlungen erschienen zudem in derselben Zeitschrift, nämlich den „Mitteilungen der Sammlung Papyrus Erzherzog Rainer“ (Karabacek 1887; Wiesner 1887). Dabei folgte der Aufsatz von Wiesner direkt demjenigen von Karabacek, quasi als technischer Appendix.Footnote 16 Die Tatsache, dass es nicht zur Ko-Autorenschaft kam, sollte nicht überbewertet werden (Csiszar 2018).Footnote 17 Während wissenschaftliche Kooperation sich im 20. und 21. Jahrhundert vor allem in gemeinsamen Publikationen manifestiert (Wray 2006), gilt dies für das 19. Jahrhundert nicht in gleicher Weise. Die hier gewählte Form der Publikation dokumentiert aber, dass es sich um eine geschlossene Kooperation mit klar definierter Hierarchie handelte – Karabacek ging voran und formulierte die historische Interpretation, Wiesner ergänzte die Datengrundlage.

Erst in späteren Phasen der Zusammenarbeit publizierte Wiesner eigenständig zu seinen papierhistorischen Materialuntersuchungen (Wiesner 1902, 1911). Schon die „Faijûmer Papiere“ (1887) zeigen aber, dass Wiesner nicht bei der Bearbeitung der ihm zugedachten Frage stehen blieb, sondern den Gegenstand aus seiner eigenen Perspektive und Sachkenntnis heraus neu durchdachte. Wiesner untersuchte nicht nur die arabischen Papiere aus der Sammlung PER, sondern zahlreiche weitere orientalische und europäische Papierproben, die ihm von namhaften Paläographen aus ganz Europa zugeschickt wurden (Wiesner 1887: 255, 260).Footnote 18 Unterstützung erfuhr er dabei vor allem durch Theodor Sickel, den bereits erwähnten Direktor des IÖG, der über sein hervorragendes Netzwerk Papierproben aus acht italienischen ArchivenFootnote 19 für Wiesner beschaffen konnte (Wiesner 1887: 260; ÖNB, 567/2–4).Footnote 20 Keine einzige dieser Proben bestand aus roher Baumwolle. Dieser Befund diente Wiesner als Grundlage, um die These vom Baumwollpapier zurückzuweisen und eigenverantwortlich Aussagen über historisch relevante Fragen zu treffen.

Wiesner untersuchte zudem nicht nur die Art der Pflanzenfasern, wie ursprünglich von Karabacek beabsichtigt. Unter Rückgriff auf seine spezifische, auch warenkundliche Expertise prüfte er zahlreiche weitere Bestandteile des Papiers, die in der Paläographie bis dahin nur wenig Aufmerksamkeit erfahren hatten: die zwischen das Fasergewebe gedrückte Füllung des Papiers, die Inkrustierung, die Länge der Fasern, die Tinte, den Staub, der den Papieren anhaftete, sowie die Leimung der Papiere. Gerade dieser letzte Punkt erwies sich als aufschlussreich. Indem Wiesner die Papiere systematisch einer chemischen Analyse unterzog, fand er heraus, dass alle Papiere bis zum Ende des 13. Jahrhunderts mit Stärkekleister geleimt waren.Footnote 21 Erst danach wurde Tierleim verwendet.Footnote 22 Wiesner wandte zur Beweisführung zwei einfache chemische Testverfahren an: Die Jod-Stärke Reaktion und die „Millon-Reaktion“. Verfärbte sich eine mit einer Jodlösung beträufelte Papierprobe bläulich, so war dies der Nachweis dafür, dass das Papier Stärke enthielt. Verfärbte sich das Papier rot beim Aufträufeln einer Lösung von Quecksilbernitrat in salpetriger Säure, zeigte dies Proteine an und somit tierischen Leim.

Gerade das Beispiel der eigeninitiativ angewandten chemischen Methoden zur Untersuchung der Leimung zeigt, dass Wiesner seine Integrationsexpertise im Laufe der Zeit erheblich erweiterte – insbesondere mit Blick auf die hohe Bedeutung einer unabhängigen Methode der Datierung für die Paläographie. Für seinen Beitrag in der Zusammenarbeit hatte Wiesner die Datierung des Papiers durch die Paläographen übernommen, mit den Resultaten seiner Materialanalysen verknüpft und eine neue Korrelation von Datierung und Leimung etabliert. So konnte Wiesner eine weitere bisher unhinterfragt übernommene Grundannahme der Papiergeschichte widerlegen; denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte Tierleim als das älteste Leimungsmaterial gegolten. Diese Einsicht hatte direkte Auswirkung auf die Paläographie. Ausgehend von Wiesners Befund, dass sich die Leimung europäischer Papiere vom 13. ins 14. Jahrhundert wandelte, ließ sich nun die Datierung mittelalterlicher Handschriften und Urkunden unabhängig von ihrem Inhalt überprüfen (Mühlbacher 1888: 481).

Tatsächlich führte das von Wiesner entdeckte Leimungskriterium dazu, dass Handschriften umdatiert wurden. So hatte Wiesner in einer hebräischen Handschrift aus der Pariser Nationalbibliothek tierischen Leim nachgewiesen (Wiesner 1887: 256); in der Folge wurde die bisherige Datierung (auf das Jahr 1271) korrigiert und ein paar Jahrzehnte später angesetzt (Mühlbacher 1888: 481). Wiesners Analyse der Papierleimung zeigt insofern den Mehrwert einer offenen Kooperation. Beide Seiten konnten ihre Kenntnisse, Fähigkeiten und Interessen einbringen, und in der Folge ging das Ergebnis weit über die ursprüngliche Frage an Wiesner hinaus. Karabacek war gar nicht auf die Idee gekommen, Wiesner nach Leimungen, Füllung und anderen Details zu befragen; Wiesners Befunde dazu waren jedoch für ihn von höchstem Interesse. Zudem sieht man die Bedeutung der Integrationexpertise; denn nur indem Wiesner bereit war, sich in Forschungsfragen der Paläographen hineinzudenken, konnte er seine eigenen Ansätze dazu produktiv in Beziehung setzen.

Wiesners Forschung, vor allem die Widerlegung der These vom Baumwollpapier, wurde mit Begeisterung aufgenommen.Footnote 23 So rückte sogar der deutsche Paläograph Wilhelm Wattenbach (1819–1897), ein Vertreter der Baumwollpapierthese (Wattenbach 1875: 92–93), von seinem ursprünglichen Standpunkt abFootnote 24 und bezeichnete Wiesners „Faijûmer Papiere“ (1887) als „epochemachend“ (Wattenbach 1888: 667; zu Wattenbach: Löwenfeld 1889; Rodenberg 1898; Zeumer 1889). Bemerkenswert ist Wiesners Beitrag jedoch nicht nur durch seine sachkundige Analyse sämtlicher Papierbestandteile. Wiesner hatte sich überdies kritisch mit dem Stand der Forschung in Paläographie und Papiergeschichte auseinandergesetzt und verstand es, sich darin zu positionieren. So hatte er festgestellt, dass Paläographen durchaus botanische Werke konsultierten (Wattenbach 1875). Zur Baumwoll- und Bastfaserunterscheidung in alten Handschriften verwendeten sie etwa die Bücher von Matthias J. Schleiden (1804–1881) oder Siegfried Reissek (1819–1871) und griffen auf die darin angegebenen Kennzeichen für Pflanzenfasern zurück. Aufgrund seines eigenen, inzwischen umfassenden Papierwissens befand Wiesner diese Methode als zutiefst unzureichend für paläographische Materialuntersuchungen: Botaniker wie Schleiden zogen nur unverletzte Pflanzenfasern als Referenz heran – bei der Papierherstellung wurden Pflanzenfasern aber gequetscht und zerstampft, und sie veränderten sich dadurch grundlegend in ihrem Erscheinungsbild. Dies war bei der mikroskopischen Analyse zu berücksichtigen.Footnote 25 So konnte man in aufgelockertem Zustand die Baumwollzellwand leicht mit der Wand einer zerstampften Lein- oder Hanfbastzelle verwechseln. Wiesner nutzte daher ergänzend mikrochemische Methoden. So wurde etwa durch Zugabe von Kupferoxyd-AmmoniakFootnote 26 die Zellulose aufgelöst; die charakteristische Kuticula, also die äußere Schutzhaut der Zellwand, blieb jedoch unversehrt. Diese konnte Wiesner dann unter dem Mikroskop prüfen und eindeutig zuordnen (Wiesner 1877: 215).

Der solchermaßen kritische Kommentar Wiesners zu den bisherigen Methoden der Paläographie unterstreicht die Dynamik offener Kooperationen. Sie implizieren ein Gespräch auf Augenhöhe, in dem die Kooperationspartner gleichermaßen in ihrer Expertise ernst genommen wurden. In der botanischen wie auch technischen Mikroskopie und Faserkunde hatte Wiesner seinen Kollegen aus der Paläographie etliches voraus. Für die Sachfrage war es insofern gewinnbringend, seine Einschätzung zu hören und die bisherige Praxis zu revidieren. Dass sich die Paläographen in diesem Zusammenhang von Wiesner kritisieren lassen mussten, war Teil des Forschungsprozesses und wurde akzeptiert.

Hadernpapier in Ostturkestan – Wiesner und Hoernle

Wiesners Untersuchungen mit Karabacek wurden europaweit in paläographischen Fachkreisen bekannt; und am 19. Februar 1900 trat der britisch-deutsche Orientalist Rudolf Hoernle an Wiesner heran mit dem Gesuch, „die materielle Untersuchung der ostturkestanischen Papiere zu übernehmen“ (Wiesner 1902: 3).Footnote 27 Dabei ging es zunächst um die berühmten altindischen Bower-Manuskripte, die Hoernle als Indologe untersuchte (Wilhelm 1972: 362; zu Hoernle auch: Grierson 1919: 114–24; Sims-William 2012).Footnote 28 Weiterhin sollte Wiesner Fragmente von Papierfunden der ersten zentralasiatischen Expedition 1900–1901 unter Leitung von Aurel Stein untersuchen, der dritte Kooperationspartner Wiesners, auf den wir im nächsten Abschnitt zurückkommen. Wiesner nahm den Auftrag an und veröffentlichte seine Ergebnisse zu Hoernles Proben in der Abhandlung „Ostturkestanische Papiere“ (1902). Es war das erste Mal, dass die Materialität alten chinesischen Papiers untersucht wurde; zudem handelte es sich um die ältesten bis dahin bekannten Papiere. Sie waren sogar älter als die arabischen Papiere des Fundes von El-Faijûm (Needham & Tsuen-Hsuin 1985: 11).

In der Kooperation mit Hoernle stand Wiesner vor einer komplexeren Ausgangslage als bei den Faijûmer Papieren, denn die zu prüfenden Papiere waren sehr unterschiedlicher Provenienz – nämlich indischen, chinesischen, persischen und islamitischen Ursprungs. Bei dem arabischen Papier hatte Wiesner eine klare Fragestellung zu lösen („Hadern- oder Baumwollpapier?“). In diesem Fall fehlten sowohl Auftrag als auch Arbeitshypothese. Schon mit seiner Anfrage trat also Hoernle mit Wiesner in eine offene Kooperation ein, indem er ihm ohne konkret vorgegebenes Erkenntnisziel Material zur Untersuchung überließ. Hoernle wusste, was er von der Kooperation erwarten konnte: eine umfassende Untersuchung mit den Methoden der Mikroskopie, Pflanzenphysiologie und Warenkunde sowie die Kompetenz, dieses Können und Wissen integrativ in die Kooperation einzubringen.

Wiesner musste für seine Analyse die mögliche Herkunft der Pflanzenfasern erst ermitteln; von Hoernle erhielt er allenfalls vage Anhaltspunkte zu den Rohmaterialien chinesischer Papiere (Wiesner 1902: 8).Footnote 29 So begann Wiesner eine umfassende Erhebung aller in Indien, China und im arabischen Raum nachweislich zur Papierherstellung genutzten Pflanzen sowie aller weiteren Faser- und Kulturpflanzen Turkestans. Nicht für alle diese Fasern lagen verlässliche Angaben zu ihren mikroskopischen Kennzeichen vor; in solchen Fällen musste Wiesner diese Eigenschaften selbst durch histologische Faserstudien erheben (Wiesner 1902: 4). Davon zeugt etwa ein Brief, den Wiesner am 3. Februar 1902 an Hoernle schrieb:

Sie werden aus dem übersendeten Bogen auch ersehen haben, dass nun bezugs Untersuchung der ostturkestanischen Papiere gut vorgearbeitet ist. Denn jetzt können wir die Broussonelia-Edgeworthia-Reis und Bambusfaser mit Sicherheit in den Papieren nachweisen und von ihnen vermeintliche Hadern oder Lumpen Papiere genau unterscheiden. Diese Vorarbeit war aber dringend nötig. (Wiesner 1902: Bodleian, Ms Stein 458, fols. 76–77)

Schließlich konnte Wiesner eine Liste von Fasern erstellen, die für die Analyse des Papiers zu berücksichtigen waren (Wiesner 1902: 9). Von diesen Studien profitierte auch seine pflanzenphysiologische und warenkundliche Forschung. So veröffentlichte Wiesner die mikroskopischen Charakteristika der oben genannten Pflanzenfasern, die Fasern der Edgeworthia sowie Bambusrohrfasern, in der zweiten Auflage seines Werkes „Rohstoffe des Pflanzenreichs, Bd. 2“ (Wiesner 1902: 9). Weiterhin nutzte er die „Ostturkestanischen Papiere“ (1902) als Plattform zur Publikation der von ihm bestimmten Kennzeichen von vier Faser-Typen: der Schilfrohr- und der Stipa-Faser sowie der Faser von Calamus Rotang und Daphne cannabina (Wiesner 1902: 10). Es war nicht das erste Mal, dass Wiesner auch als Naturwissenschaftler von seiner Kooperation mit Paläographen profitierte. Bereits während seiner Arbeit für die „Faijûmer Papiere“ (1887) hatte er aufgrund seiner Studien des alten Papiers die Methoden und Techniken der technisch-industriellen Papierprüfung weiterentwickelt und verbessert.Footnote 30

Nach diesen Vorarbeiten, das heißt der Ermittlung der in Frage kommenden Pflanzenfasern und ihrer mikroskopischen Kennzeichen, verlief die Untersuchung in den „Ostturkestanischen Papieren“ (1902) methodisch nach demselben Prinzip wie jene der „Faijûmer Papiere“ (1887). Wieder präsentierte Wiesner detaillierte Angaben zu den Pflanzenfasern, zum Herstellungsverfahren und zur Leimung der Papiere. Die Befunde wurden dabei zunächst disziplinär nach Botanik und Paläographie getrennt: Der Beschreibung allgemeiner, distinkter Merkmale einzelner Fasern und ihrer entsprechenden Behandlung folgte eine Ergebnisübersicht der Papieranalysen. Im Verlauf der Kooperation hingegen verknüpfte Wiesner seine Materialanalysen mit eigenen historischen Fragestellungen – in der Rolle eines Papierhistorikers, der auf materieller Quellenbasis argumentierte. Von Integrationsexpertise ist in diesen Fällen nicht mehr zu sprechen; vielmehr wurde die interdisziplinäre, hoch integrierte Kooperation für Wiesner zum Katalysator disziplinärer Mobilität.

Überraschenderweise fand Wiesner Hadernbestandteile in den ostturkestanischen Papieren. Bislang führte man die Erfindung des Hadernpapiers auf den arabischen Raum zurück, während man die Anfänge der Papierherstellung aus Seide oder Hanf in China verortete und auf den Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. datierte. In einem Brief an Hoernle schrieb Wiesner, dass er „mit aller Bestimmtheit“ sagen könne, dass es sich bei einem von ihm untersuchten chinesischen Papier aus dem 6. oder 7. Jahrhundert um ein mit Stärkekleister geleimtes Hadernpapier handele, ganz ähnlich den alten arabischen Papieren (Wiesner 1902: Bodleian, Ms Stein 458, fols. 77). Briefe und Publikationen von Wiesner aus dieser Zeit zeugen davon, dass er sich vermehrt den historischen Implikationen seiner Untersuchungen zuwandte. Der Fund von Hadern in chinesischen Papieren deutete für Wiesner und Hoernle darauf hin, dass bereits im China des 2. Jahrhunderts n. Chr. Hadernbestandteile zu Papier verarbeitet wurden.Footnote 31 Dieses Verfahren war dann vermutlich von den Arabern weiterentwickelt worden, bis es schließlich zur Herstellung von reinem Hadernpapier kam, wie es im europäischen Mittelalter gebräuchlich war. Würde man allerdings reines Hadernpapier chinesischen Ursprungs finden, aus einer Zeit vor dem arabischen Hadernpapier, wäre damit der Nachweis erbracht, dass die Chinesen auch dafür als die eigentlichen Erfinder gelten müssten.

Die historische Dimension seiner Ergebnisse war Wiesner bewusst; zudem war ihm bewusst, dass er sich damit auf heikles Terrain begab. Denn Karabacek, Wiesners Kollege und ehemaliger Kooperationspartner, hielt die Araber für die unstrittigen Erfinder des Hadernpapiers. Karabacek hatte deshalb Einwände gegenüber Wiesners Befunde, wie Wiesner in einem Brief an Hoernle berichtete:

Denn wie Karabacek sagt, haben die Araber schon 750 Hadernpapier erzeugt. Er meint mit Rücksicht auf damaligen Verkehre wäre es doch möglich oder schon wahrscheinlich, dass das Papier von den Arabern erzeugt wurde und später chinesisch beschrieben wurde. Nach Kar. haben die Chinesen […] im J. 940 n. Chr. aus Lumpen Papier erzeugt zu welcher Zeit das Hadernpapier schon in Europa und im Orient benutzt war und erzeugt wurde. Doch das sind Dinge, die sich meinem Urtheil entziehen. (Wiesner 1902: Bodleian, Ms Stein 458, fols. 77)

Wiesner begann also, eigene Hypothesen zu formulieren und papierhistorische Zusammenhänge mit Hoernle und Karabacek zu besprechen. Zwar war er zunächst noch bereit, wie aus obigem Zitat hervorgeht, in historischen Fragen den Experten der Disziplin den Vorrang zu lassen. Mit Blick auf seine naturwissenschaftlichen Befunde hingegen ließ er sich durch Karabacek nicht beirren:

Nach reiflicher Überlegung bin ich zu der Meinung gelangt, mich durch eine etwaige Kontroverse über paleographische Fragen nicht korrigieren zu lassen und die Resultate meiner mikroskopischen Untersuchung in den Dienst der historischen Forschung zu stellen und die Zugehörigkeit der Datierung ganz den Historikern anheim gebe. (Wiesner 1902: Bodleian, Ms Stein 458, fols. 79)

Hadernpapier in China – Wiesner und Stein

Von dieser Haltung, in historischen Fragen der Datierung und Hypothesenbildung anderen den Vortritt zu lassen, ist nicht mehr viel zu spüren in der dritten Kooperationsbeziehung, die hier betrachtet werden soll: Wiesners Zusammenarbeit mit Aurel Stein (1862–1943) aus den Jahren 1902–1904, in denen Wiesner weiter an den asiatischen Papieren forschte, die Steins Grabungen zutage förderten.Footnote 32 Stein übermittelte ihm Papierproben tibetanischer und chinesischer Manuskripte zur Analyse; und angesichts seiner Befunde in diesen Fällen kam Wiesner zu dem Ergebnis,

dass die datierten Chines. Mrkpte zu denselben Resultaten führten, wie die […] von Prof. Hoernle zur Untersuchung überlassenen. Ich glaube, dass meine Aufstellungen durch die Untersuchung Ihres [Anm.: Steins] kostbaren Materials eine neue starke Stütze gewonnen haben. Ich für meine Person kann an der Richtigkeit meiner Aufstellung über den Entwicklungsgang der Papiererzeugung nicht zweifeln. (Wiesner 1903: Bodleian, Ms Stein 112, fols 49)

Für Wiesners Rolle als Kooperationspartner war dies ein entscheidender Wendepunkt. Die Untersuchungen für Stein belegten seine Annahmen zum Hadernpapier mit zusätzlichem Quellenmaterial – er war nunmehr überzeugt, dass er recht hatte (und nicht Hoernle oder Karabacek). Wiesner emanzipierte sich von seinen Kooperationspartnern, indem er zur eigenen Hypothesenbildung auf dem Feld der Papiergeschichte überging. Zwar arbeitete er schon lange nicht mehr den Paläographen in geschlossener Kooperation zu, wie einst bei Karabacek; aber auch in der offenen Kooperation mit Hoernle waren die Resultate noch geteilt präsentiert worden: einerseits Wiesners naturwissenschaftlich erhobenen Befunde zu Pflanzenfasern und Papier, andererseits die Interpretation durch die Historiker. Dies war vor allem deswegen möglich, weil Wiesner zunehmend kompetenter wurde, die Felder geeignet zu verknüpfen. Aber in seiner Kooperation mit Stein sprach Wiesner nicht mehr als Botaniker. Er sprach als Papierhistoriker eigenen Rechts, der seine Daten selbst auswertete und auf dieser Grundlage eigenverantwortlich eine Hypothese zur Entwicklung des Papiers verteidigte. Die Ergebnisse präsentierte Wiesner in einem Aufsatz, der aus der Zusammenarbeit mit Stein in den Jahren 1902–1904 hervorging: „Ein neuer Beitrag zur Geschichte des Papiers“ (Wiesner 1904b: 9–23). Hierin widersprach Wiesner nun offiziell der historischen Fachmeinung von Karabacek, als gleichberechtigter Diskussionspartner auf dem ihm ursprünglich fremden Feld der Paläographie.

Die Titel von Wiesners weiteren Publikationen markieren diese Wende. Betrachtet man die Hauptpublikationen bisher, so hatte er diese eingeleitet als „Resultate naturwissenschaftlicher Untersuchungen, welche allerdings das Ziel verfolgten, einen Beitrag zur Geschichte des Papiers zu liefern“ (Wiesner 1904b: 2). Sie trugen dementsprechend Untertitel, die auf die naturwissenschaftlich-technische Relevanz der Studien verwiesen. Das änderte sich nun: Weder „Ein neuer Beitrag zur Geschichte des Papiers“ (1904), noch die darauffolgende Publikation „Hadernpapiere“ (1911) gaben vor, einen Beitrag zur technischen Papierprüfung oder zur Mikroskopie mit technischen oder naturwissenschaftlichen Zusatzstudien zu leisten. Es ging Wiesner bei seinem „Beitrag zur Geschichte des Papiers“ (1904) ausdrücklich darum, eine „historische Untersuchung“ zu veröffentlichten, die „für den Naturforscher als solchen kaum ein Interesse [hat], wohl aber für den Historiker und […] den Zwecken des Paläographen“ dient; und die deshalb auch in den Schriften der philosophisch-historischen Klasse der Wiener Akademie der Wissenschaften publiziert wurde (Wiesner 1904b: 2–3.).

Auch die Praktiken der Kooperation hatten sich geändert. In der Zusammenarbeit mit Stein war Wiesner nicht mehr nur Empfänger von Material, das sein Kooperationspartner ihm übersandte. Vielmehr ergriff selbst Wiesner die Initiative und bat seinen Kooperationspartner Stein, ihm bestimmtes Material zu schicken. Dabei handelte es sich um Rohmaterial, das seine „Studien zur Geschichte der ostturkestanischen Papiere sehr fördern“ würde und mit Hilfe dessen Wiesner „erfahren könnte, aus welchem Materiale derzeit in Ostturkestan (besonders in Khôtan) Papier erzeugt wird“ (Wiesner 1903: Bodleian, Ms Stein 112, fols. 36–37). Wiesner gab Stein dabei genaue Anweisungen zum Zustand der Pflanze (beblättert und mit Früchten) und zum Transport (in einem Buch getrocknet, durch ein Gewicht beschwert) (Wiesner 1903: Bodleian, Ms Stein 112, fols. 36–37). Zu bedenken ist dabei immer, dass Wiesners mikroskopischen und chemischen Untersuchungen Proben des kostbaren Materials zerstörten. Dass er dennoch mit seinen Anfragen erfolgreich war, bezeugt eindrucksvoll, dass Wiesners neu gewonnenes Selbstbewusstsein zumindest von Stein als legitim anerkannt wurde.

Zwar konnte Wiesner in den „Ostturkestanischen Papieren“ (1902) und dem „Beitrag zur Geschichte des Papiers“ (1904) zeigen, dass Hadernpapier bereits im chinesischen Raum erzeugt worden war. Die Frage, ob die Chinesen die tatsächlichen Erfinder des Hadernpapiers gewesen waren, hatte sich allerdings nicht final klären lassen, da man unter den bislang untersuchten chinesischen Papieren kein reines Hadernpapier gefunden hatte. Auf der zweiten seiner vier großen Expeditionen nach Zentralasien in den Jahren 1906–1908 fand Stein weitere Manuskripte, die er ebenfalls von Wiesner untersuchen ließ. In dieser zweiten Episode seiner Zusammenarbeit mit Stein in den Jahren 1910–1911Footnote 33 baute Wiesner seine Autorität als naturwissenschaftlich arbeitender Papierhistoriker weiter aus: Er unternahm auch in diesem Fall eigene Nachforschungen, formulierte abermals historische Hypothesen und prüfte diese eigenständig am Material. Diese Untersuchungen waren längst nicht mehr Mittel zum Zweck oder ein randständiges Nebenprojekt; wie aus dem ersten Antwortschreiben an Stein hervorgeht, war Wiesner inzwischen von persönlichem Interesse an historischen Fragestellungen motiviert:

Selbstverständlich wird es, wie früher, mir große Freude bereiten, Ihnen dienen zu können; ich erkläre mich mit Vergnügen bereit, die gewünschten mikroskopischen Papieruntersuchungen auszuführen: Sie wissen ja, wie lebhaft mich die Frage der Geschichte des Papieres interessiert. (Wiesner 1910: LHAS, 10/fols. 115)

Die von Stein ausgegrabenen Manuskripte waren sehr alt – sie wurden auf das 2. Jahrhundert n. Chr. datiert. Diese Angaben bekam Wiesner von Stein übermittelt, und das erinnert daran, dass der Informationsaustausch weiterhin in beide Richtungen lief. Wiesner erforschte zwar nun eigenständig historische Fragestellungen auf der Grundlage des von ihm analysierten Materials. Aber für die Datierung und Kontextualisierung der Proben war er weiterhin von Stein abhängig. Steins Befunde über Herkunft und Alter der spezifischen Proben sowie der anderen, zu Vergleichszwecken konsultierten Papiere waren für Wiesner essentiell. So befand sich etwa unter den Manuskripten von Stein die Papierprobe T.XII.a.ü.Ia, mit deren Hilfe Wiesner seine historische Hypothesen zur Erfindung des Hadernpapiers durch die Chinesen validieren zu können glaubte:

[W]as mir sehr am Herzen liegt, das ist das Papier T XII a ü Ia. Es ist das merkwürdigste Papier, das mir unter den Chinesischen Sachen untergekommen ist. Es liefert den directen Beweis, der bis dahin auf Grund der materiellen Prüfungen noch nicht geführt werden konnte, dass die Chinesen aus Hadern allein Papier erzeugten, während ich früher nur nachweisen konnte, dass sie Hadern als Surrogat der Papiererzeugung benutzten. (Wiesner 1910: LHAS, 10/fols. 115, Hervorhebung im Original)

Als Stein ihm bestätigte, dass T.XII.a.ü.Ia chinesischer Provenienz war, bedeutete dies für Wiesner, dass er damit das erste chinesische Hadernpapier in Händen hielt (Stein 1911: MA8, 3.5.83.A1.18). Damit konnte er in seiner Publikation „Hadernpapiere“ (1911) die Chinesen zu den tatsächlichen Erfindern des reinen Hadernpapiers erklären.

Seinem Kollegen und früheren Kooperationspartner Hoernle waren Wiesners Ausführungen in den „Hadernpapieren“ (1911) zu gewagt. In einem Brief an Wiesner kritisierte Hoernle vor allem zwei Punkte: Erstens befand er es als nicht eindeutig bewiesen, dass es sich bei T.XII.a.ü.Ia um reines Hadernpapier handelte (Hoernle 1912: MA8, 3.5.83.A1.18).Footnote 34 Ob man überhaupt nachweisen konnte, mikroskopisch oder auf andere Weise, dass die zerstampfte Füllmasse des Papiers wirklich aus reinen Hadern bestand, fragte Hoernle. Damit war Hoernle nicht allein. Wiesner erhielt zwar größtenteils positive Reaktionen, doch gab es unter Historikern auch Skepsis gegenüber seinen naturwissenschaftlichen Methoden. Bereits 1887 hieß es in den „Notizen der Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung“ (MIÖG): „W. [Anm.: Wiesner] stellt eine eingehendere Abhandlung in Aussicht, welche auch die für die Untersuchung der alten Papiere wichtige, aber noch ungelöste Frage: „Welches sind die Grenzen der Sicherheit bei der mikroskopischen Untersuchung der Papierfasern?“ beantworten wird“ (Mühlbacher 1887: 115).

Zweitens bemängelte Hoernle, dass nur so wenig Material verfügbar war, um Wiesners These zur Brücke zwischen arabischem und chinesischem Papier zu stützen – dass also die Araber die Herstellung reinen Hadernpapiers von den Chinesen erlernt hatten.Footnote 35 Hoernle war „noch nicht recht überzeugt dass dieser Punkt historisch schon entschieden ist“ – dieser Brief wurde bereits am Anfang des Aufsatzes zitiert (Hoernle 1912: MA8, 3.5.83.A1.18). Hoernle hielt es zwar für möglich, dass die Chinesen die Erfinder des reinen Hadernpapiers waren. Die wenigen Überreste reinen Hadernpapiers chinesischer Herkunft deuteten für ihn aber eher darauf hin, dass die Chinesen Hadern meistenteils nur als Zusatzstoff verwendet hatten, während die Araber als die Erfinder des reinen Hadernpapiers breiter Anwendung anzusehen waren.

Für Wiesners Status als Experte war diese Fachdiskussion mit Hoernle von hoher Bedeutung: Indem Hoernle Wiesner für seine historischen Hypothesen kritisierte, erkannte Hoernle ihn zugleich als Papierhistoriker an – als Kollegen auf Augenhöhe, dessen papierhistorische Forschung ernst zu nehmen war. Wiesner seinerseits zögerte nicht mehr, eigenständige Positionen zu vertreten und sich inhaltlich von früheren Kooperationspartnern abzugrenzen. 1902 hatte Wiesner noch abgelehnt, sich auf eine „paläographische Kontroverse“ mit Karabacek einzulassen und sich darauf beschränkt, auf naturwissenschaftlich-technischer Basis begründete Annahmen zu formulieren und zu verteidigen. Bereits 1904, endgültig aber 1911 bewegte Wiesner sich wie selbstverständlich auf dem Feld der Papiergeschichte als anerkannte Autorität, auch wenn renommierte Kollegen wie Karabacek und Hoernle ihm inhaltlich widersprachen. Wiesner hatte sich die Forschungsfragen des ihm ursprünglich fremden Feldes zu eigen gemacht, war in die Riege der Historiker aufgestiegen und konnte sich dort behaupten. Stein nannte ihn schließlich sogar den „Bahnbrecher moderner Forschung in der Geschichte des Papiers“ (Stein 1910: MA8, 3.5.83.A1.18).

Offene und geschlossene interdisziplinäre Kooperationen in der Papierforschung um 1900

Eine umfassende Geschichte der historischen Papierforschung, wie auch der historischen Hilfswissenschaften allgemein, ist noch nicht geschrieben. Unser Aufsatz gibt einen ersten Einblick in die Transformation und Professionalisierung dieses Feldes, vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Dabei ist unser Beispiel in mancherlei Hinsicht außergewöhnlich. So war es kein Zufall, dass die fruchtbare Zusammenarbeit von Paläographie und Pflanzenphysiologie gerade in Wien ihren Ausgang nahm. Wie erwähnt, war hier 1854 das IÖG begründet worden, dass sich bewusst auch naturwissenschaftlich-technischen Methoden gegenüber öffnete. Diese spezifischen lokalen Bedingungen begünstigten es erheblich, dass die Paläographie sich um eine Kooperation mit einem Naturwissenschaftler bemühte. Doch war es ein Glücksfall, dass gerade Wiesner angesprochen wurde. Denn Wiesner war kein üblicher Botaniker; er war ein chemisch versierter Pflanzenphysiologe mit umfassenden Kenntnissen in technischer Mikroskopie und Warenkunde, inklusive Verfahren der Papierherstellung. Damit war Wiesner als fachlicher Grenzgänger der ideale Kooperationspartner für die Paläographie. Wie nur wenige in Europa verfügte er über alle Kenntnisse und Fähigkeiten, um die alten Manuskripte zu untersuchen: Wiesner konnte nicht nur die botanische Identität von Pflanzenfasern feststellen, sondern kannte auch zahlreiche weitere Materialeigenschaften von Papier, die sich mikroskopisch und mikrochemisch analysieren ließen.

Damit kommen wir zu der Frage, inwiefern dieser Fall unser Verständnis wissenschaftlicher Kooperationen erweitert – insbesondere unser Verständnis von heterogenen Kooperationen über Disziplinengrenzen hinweg. Es mag überraschen, dass zwei Disziplinen wie Paläographie und Botanik, die sich in Fragestellungen, Methoden und Kategorien deutlich unterscheiden, erfolgreich kooperierten. Die Anforderungen derart interdisziplinärer Kooperation an Akteure sind erheblich; so ist für den Erfolg neben der inhaltlichen Expertise (contributory expertise) auch ein hohes Maß an Integrationsexpertise (interlocking expertise) gefragt. Wie oben ausgeführt, hatte Wiesner bereits zu Beginn der Zusammenarbeit umfassende Sachkenntnis der mikroskopisch-technischen Papieranalyse anzubieten; zudem war er bereit, sich auf die besonderen Herausforderungen historischer Proben einzustellen und mit Paläographen in ein Gespräch über Fragen der Datierung einzutreten. Mit Hilfe seiner Integrationsexpertise verstand es Wiesner, die disziplinären Differenzen zu überbrücken. So erweiterte er die historischen Methoden der Paläographen und beantwortete ihre Fragestellungen nicht nur, sondern richtete eigene Fragen an die Geschichte des Papiers. Dabei kamen ihm die Kooperationspartner mit ihrer Integrationsexpertise entgegen: Karabacek, Hoernle und Stein – kenntnisreich mit Blick auf die Herkunft und Datierung der Manuskripte – waren bereit, die naturwissenschaftlich erhobenen Daten als Evidenz für historische Interpretationen anzuerkennen und zu nutzen. Durch dieses glückliche Zusammentreffen verlief die Kooperation in allen drei Fällen produktiv, obschon die beiden Arbeitsfelder sich in zentralen Aspekten stark unterschieden.

Im Zuge der beidseitigen Annäherung und Erweiterung der Integrationsexpertise wandelte sich auch die Form und der Charakter der Kooperation. Nicht nur war Wiesner bereit und fähig, seine Expertise mit den Anliegen der Paläographen zu integrieren; er begann zunehmend, die Fragen und Methoden des Feldes auf originelle Weise weiterzuentwickeln und gewann eigenständiges Interesse an dem Gebiet. Im Gegenzug waren die Paläographen zunehmend bereit, das Potential seiner empirischen Befunde anzuerkennen. So antwortete Wiesner anfangs reaktiv auf spezifisch formulierte Forschungsfragen. In einer solchermaßen „geschlossenen Kooperation“ arbeitete Wiesner als Experte seinem Kooperationspartner zu, wobei das Erkenntnisziel bereits abgesteckt und festgelegt war. Wiesner war sich zwar über die Bedeutung seiner Beiträge für die Papiergeschichte bewusst, enthielt sich aber vorerst noch einer eigenen Beteiligung an historischen Fragen.

Schon die Zusammenarbeit von Wiesner mit Karabacek, eindeutig dann die Zusammenarbeit mit Hoernle und Stein entwickelte sich jedoch zu einer „offenen Kooperation“. Hoernle wandte sich an Wiesner mit einem ergebnisoffenen Anliegen. Wiesner konnte Forschungsfragen und Methoden selbständig und eigeninitiativ festlegen; so untersuchte er etwa die verschiedene Leimung des Papiers, woran weder Karabacek noch Hoernle von sich aus gedacht hätten. Offene Kooperationen können zu Ergebnissen führen, die für eine, zuweilen auch für beide Seiten unerwartet sind. Im besten Fall arbeiten die Kooperationspartner dabei auf Augenhöhe, akzeptieren beidseitig die sich ergänzenden Kenntnisse und Fähigkeiten und legen ein hohes Maß an Integrationsexpertise an den Tag. Wiesner erweiterte in der Zusammenarbeit seine Sachkenntnisse sogar so weit, dass er begann, als Historiker eigenen Rechts zu agieren – ohne allerdings seine disziplinäre Identität als Pflanzenphysiologie aufzugeben. Er bereicherte die Methoden und Forschungsansätze der Papiergeschichte, erarbeitete aber zudem Befunde über die Eigenschaften und Verarbeitung von Pflanzenfasern, die für sein ursprüngliches Forschungsfeld von Interesse waren.

Eindrücklich führt diese Episode damit vor Augen, dass Kooperationen dynamische Prozesse sind. Sie formen und entwickeln sich unter dem Einfluss von Expertisen, Eigeninitiative, Rezeptionsbereitschaft und Toleranz der Kooperationspartner; entfalten sich aber zudem in einem spezifischen lokalen Kontext. Die Zusammenführung von Wissensbeständen und Kompetenz ist die Grundlage interdisziplinärer Kooperationen. Um aber beidseitig Initiative und innovative Prozesse zu ermöglichen, also offene Kooperationsformen, bedarf es darüber hinaus weitgehender Integrationsexpertise. Wären Wiesner, Karabacek, Hoernle und Stein in dieser Hinsicht weniger erfolgreich gewesen, hätten Paläographen deutlich länger nach Baumwollpapier gesucht.

Genutzte Archivbestände

  • MA8: Stadt- und Landesarchiv, Wien, Nachlass von Julius Wiesner 3.5.83.A1.18.

  • ÖNB: Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Nachlass von Josef Karabacek.

  • LHAS: Akademie der Wissenschaften, Budapest, Nachlass von Marc Aurel Stein.

  • Bodleian: Bodleian Library, Oxford, Nachlass von Marc Aurel Stein.

Danksagung

Wir bedanken uns herzlich bei Elsbeth Bösl, Fabian Krämer und Caterina Schürch für hilfreiche Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes.