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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter July 11, 2023

Kierkegaards Begriff Angst als „gottesfürchtige Satire“

  • Simone Neuber EMAIL logo

Abstract

Kierkegaard՚s The Concept of Anxiety deserves to be treated as a central text on sin, but not because it introduces an ingenious intermediate psychological determination that helps to approach an explanation of the „Fall.“ Its real relevance lies in the way the text enacts the noetic effects of sin through a theoretical reflection on the possibility of sin. This essay unfolds this thesis and assigns a central hermeneutical role to Caput 4.

Kierkegaards 1844 unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis (fortan: VH) publizierte Schrift Der Begriff Angst (fortan: BA) gilt als freiheitstheoretischer und anthropologisch zugespitzter Klassiker[1] der Sündenlehre. Dass eine zentrale Pointe der Schrift bislang übersehen wurde, soll in diesem Artikel gezeigt werden. Zugespitzt lautet meine These: BA ist das, was Kierkegaard eine „gottesfürchtige Satire“[2] nennt, und zwar[3] als Schrift, die in ihrer Reflexion auf die Möglichkeit von Sünde zugleich eine Selbstauskunft des Sünders über seine Situation in Szene setzt, um implizit die theoretische Reflexion zu ironisieren und subvertieren. Der Schlüssel für diese Selbstsubversivität ist v. a. das in der Forschung in seiner Funktion verkannte Caput 4 (= Kap. 4)[4].

Aus hamartiologischer Perspektive liegt die Pointe daher – entgegen gängigen Lektüren – nicht im Was, sondern im Wie des theoretischen Entwurfs von v. a. Caput 1, §5. Dieser zeigt sich nämlich durch die Selbstreflexivität von BA als Selbstartikulation einer sündenexpressiven und sündenbewusstseinsevasiven Denkungsart. BA thematisiert so Sünde indirekt, nämlich hinsichtlich ihrer noetischen Folgen, die anzunehmen BA uns einlädt. Indem uns BA überdies als Komplizen dieser Denkungsart anspricht, zieht es uns in die kritische Selbstreflexivität hinein – wenn wir dies zulassen.

Ist meine These korrekt, so verlangt dies eine Neubewertung dieser breit rezipierten Schrift. Denn dann bietet uns Kierkegaard durch VH keine theoretische Reflexion an, die sich immerhin erfolgreich auf den Sündenfall zuerklärt[5] (um ihn, wie VH selbst betont, als inkommensurablen „Sprung“ unerfassbar zu lassen). Er bietet eine sich selbst unterlaufende theoretische Reflexion an, durch die uns der Text kunstvoll in ein Selbstgespräch darüber verstrickt, inwiefern das Nachdenken über den Ursprung von Schuld Wesentliches über unsere eigene Schuld und unsere Unlust, den Blick auf unsere Wirklichkeit zu werfen, enthüllt.

I „Gottesfürchtige Satire“? – Wie sie hier zu verstehen ist

Den Ausdruck „gottesfürchtige Satire“[6] entnehme ich Kierkegaards Rechenschaft. Kierkegaard benennt damit eine (hier: den ästhetischen bzw. pseudonymen Schriften zugewiesene[7]) Art des Schreibens, welche dem Ziel diene, die Leser dahin zu bringen, sich selbst in Freiheit „Einräumungen und Zugeständnisse … vor Gott“ zu machen[8]. Erreicht würden diese Zugeständnisse (wenn sie erreicht werden) durch etwas, was „jederzeit das Gegenteil von angreifen“[9] sei, bzw. von direktem und konfrontativem Angreifen. Entsprechend enthielten die Schriften zwar einen „Stachel der Wahrheit“[10], der aber nur behutsam und „milde“[11] ins Werk gesetzt werde.

Zu- bzw. Eingeständnisse werden auch im Gesichtspunkt als Ziel des (mit den Pseudonymen verbundenen) Schreibens genannt, wenngleich dies nicht in einer Praxis des Namens ‚gottesfürchtige Satire‘ fundiert wird, sondern in einem Vorgehen, welches (umwillen der Destruktion eines „Sinnentrugs“) zunächst versuche, „in Rapport mit den Menschen zu kommen“; das heißt, der Autor „muss mit einer ästhetischen Leistung anfangen“[12]. Ziel sei, das Gegenüber dahin zu bringen „mitzugehen“[13]. Doch bleibt es nicht bei einem solchen Mitnehmen bzw. Mitgehen-Lassen. Denn „im Dienste der Wahrheitsliebe“[14] werde ein „mittelbares Verfahren“, das für den Verstrickten alles dialektisch zurechtrückt„[15] gewählt, wobei es diesen „dialektischen Zurechtrückungen“ verdankt sei, dass sich der Autor (wenn es denn zum durch sie angeregten Eingeständnis kommt) schamhaft zurückziehe und das Eingeständnis „in der Einsamkeit vor Gott“[16] geschehe.

Auch wenn der Titel ‚gottesfürchtige Satire‘ hier fehlt, könnte die knappe Skizze durchaus eine solche näher erhellen. Wäre dem so, dann wäre zu sagen: Besagter „Rapport“ leistet zunächst eine scheinhafte Affirmation des Bestehenden, wenn diese auch durch „dialektische Zurechtrückungen“ gebrochen und mit Widersprüchen behaftet ist, und zwar so, dass in dieser Dialektik ein „Stachel der Wahrheit“ enthalten ist, wenn er auch nur „milde“ ins Werk gesetzt wird. Die „Satire“ ist, wenn man will, also subtil, nicht überzeichnet. Dient der Rapport dazu, den Leser „mit dem Schwunge der Hingebung an das Ästhetische“[17] mitgehen zu lassen, so bremsen die wahrheitsstacheligen „Zurechtrückungen“ diese Hingabe aus, um im guten Fall eine Transzendenz ihrer zu evozieren – wenn der Leser dies denn zulässt. Da die Eingeständnisse durch den Text nur nahegelegt, nicht aber mit einer Peitsche der Wahrheit aufgezwungen werden, geschehen sie in Freiheit. Der Leser kommt je selbst zu ihnen. Genau darin zieht sich der Autor beim Zugeständnis „schamhaft“ zurück.

Eine solche Transzendenz wird optional sein (die Zugeständnisse sollen ja in Freiheit geschehen). Festzuhalten bleibt, dass der Leser im „Schwunge der Hingebung an das Ästhetische“ verharren und das Eingeständnis unterlassen kann. In der Entscheidung angesichts der offenen Möglichkeit „Transzendenz des Ästhetischen oder nicht?“ wird somit etwas vom Leser je selbst offenbar. Ist dem aber so, dann wird ersichtlich, warum eine Fußnote in der Rechenschaft das diese (und den Gesichtspunkt) prägende maieutische Verfahren auf das beziehen kann, was die Einübung im Christentum unter einer doppelt reflektierten Mitteilung versteht also auf eine widerspruchsvolle Mitteilungsweise, durch die „einander entgegengesetzte Verständnisse gleich möglich“[18] sind, „sodass der Urteilende offenbar wird darin, wie er urteilt“[19]. Eine so verstandene doppelte reflektierte Mitteilung nennt dann nichts dem Gesichtspunkt und der Rechenschaft methodisch Fremdes.[20] Sie erhellt viel eher in ihrer Weise, was es mit den „dialektischen Zurechtrückungen“ auf sich haben könnte, die auf die Transzendenz des Ästhetischen nur hinarbeiten wollen.[21]

Die (zugegeben: recht gedrängten) Vorbemerkungen erinnern an aus den späten Methodenschriften Bekanntes, allerdings auch an Umstrittenes. Umstritten ist, dass die dort angestellten Reflexionen eine adäquate Perspektive auf das Werk erlauben, sei es auch nur mit Bezug einer mutmaßlichen Abbildung eines „direkten“ und „indirekten“ Verfahrens auf das pseudonyme Werk einerseits und das orthonyme Werk andererseits; und umstritten ist, ob es in den dortigen Ausführungen überhaupt gelingt, die Notwendigkeit eines indirekten Verfahrens zu begründen. Diese Fragen sind wichtig und haben mit guten Gründen die Aufmerksamkeit der Interpreten gefunden. Meine aber müssen sie an dieser Stelle für das Folgende nicht finden, da die These dieses Aufsatzes mit Bezug auf allgemeine Methodenfragen recht bescheiden, mit Bezug auf die Interpretation von BA aber umso unbescheidener ist. Ihr zufolge erhellt das, was hier knapp gesammelt wurde, zwar nicht unbedingt „das“ Verfahren „der“ pseudonymen Schriften (wenn es dieses überhaupt gibt), wohl aber das von BA. Anders gesagt: BA verdient meiner Ansicht nach genau darin, „gottesfürchtige Satire“ genannt zu werden, dass BA scheinbar affirmativ einen „Rapport“ mit einem „ästhetischen“ Standpunkt sucht und durch diesen den Leser zum Mitgehen bewegt, um dabei jedoch so kunstvoll „dialektische Knoten“[22] zu schnüren und „dialektische Zurechtrückungen“ zu betreiben, dass die scheinbare Affirmation des „ästhetischen“ Standpunktes immer wieder diskreditiert wird. Just hierdurch wird der Leser vor die (hermeneutische) Wahl gestellt, auf dem ästhetischen Standpunkt zu bleiben oder ihn zu transzendieren. Dass dies im konkreten Fall von BA heißt: in der ästhetisch-theoretischen Reflexion auf die Möglichkeit der Sünde zu verharren (sei es auch durch eine theoretische Kritik der diesbezüglichen Position von BA) oder diesen Standpunkt durch Sündenbewusstsein zu transzendieren, wird sich im Folgenden zeigen.

Meine These ist freilich unabhängig von entsprechenden Thesen für andere pseudonym gesetzte Schriften und daher für die diesbezügliche Forschung folgenlos. Folgen aber hat sie für viele Annäherungen an BA, vor allem solche, die VH als „unechtes Pseudonym“[23] handeln, um den theoretischen Entwurf (v. a. aus Caput 1) auf dieser Basis zu evaluieren. So gediegen und gelehrt die so fundierten Reflexionen auch sein mögen, so verfehlen sie nach meiner Lektüre den eigentlichen Ort, an dem Sünde in dieser Schrift aufscheint.[24]

II „Dialektisch zurechtgerückt“ – Stolpersteine in BA

Wenn eine gottesfürchtige Satire darin „dialektisch zurechtrückend“ verfährt, dass sie eine (ästhetische) Stellung „nachahmt“, diese aber nicht ungebrochen präsentiert, dann muss – ist BA eine solche – auch BA „ästhetisch“ mitnehmen, wenn auch nicht ungebrochen. Da der Text uns in unserem theoretischen Interesse an der Möglichkeit ursprünglichen Schuldigwerdens anspricht, ist die theoretische Neugier (sei sie auch hamartiologische Neugier) ein guter Kandidat, um den Ort des ‚Rapports‘ mit den ästhetisch lebenden Menschen dingfest zu machen. Dann aber ist zu vermuten, dass just dieser Standpunkt im Text „dialektisch zurechtgerückt“ präsentiert wird, um sich als Unwahrheit zu erweisen.

Das Folgende wird diese Hypothese stützen. Unter Punkt IV werde ich Caput 4 als eine Problematisierung dieser Perspektive präsentieren, die besonderes Augenmerkt verdient, wenn sie auch die Fülle an Binnenproblematisierungen nicht erschöpft, mit denen BA aufwartet. Unter dem Titel „Stolpersteine“, den sie hier erhalten sollen, weil sie unseren „Schwung der Hingabe“ an den theoretisch-ästhetischen Standpunkt ausbremsen und uns aufmerken lassen sollen, will ich im Folgenden einige solche Problematisierungen versammeln. Dass es derartige Stolpersteine in BA gibt (und dass sie auch in besonderer Weise den neugierig-theoretischen Standpunkt problematisieren) sehe ich dabei als erste Stützung meiner These, dass BA ein Text ist, dessen Wirkungsweise bislang unzureichend bedacht wurde.

A Das „Wasserzeichen“

Stolpersteine sind schon über die Einleitung und Caput 1 verstreut, um ab ovo den theoretischen Entwurf zu subvertieren. Begonnen sei hier mit einem Passus, dessen Irritationspotential Kierkegaard eigens hervorhebt. Er werde „vermutl. den ein oder anderen stören“, gehöre jedoch „mit dazu“[25] und sei „gleichsam ein Wasserzeichen in der Arbeit“: gemeint ist die Selbstpräsentation des Psychologen zu Beginn von Caput 2. VH notiert diesbezüglich:

So wie der psychologische Beobachter geschmeidiger sein muss als ein Seiltänzer, um sich den Menschen einschmiegen und ihre Stellungen nachahmen zu können, wie sein Schweigen (Taushed) im Augenblick der Vertraulichkeit verführerisch und wollüstig sein muss, damit das Verborgene Gefallen daran finde herauszukriechen und mit sich selbst zu plaudern in dieser kunstreich zuwege gebrachten Unbeachtetheit und Stille, ebenso muss er auch eine dichterische Ursprünglichkeit in seiner Seele tragen, um alsogleich das Ganze und der Regel Gemäße aus dem erschaffen zu können, was im Individuum nur geteilt und unregelmäßig vorhanden ist … Zu dem Ende bildet er bei sich selbst jede Stimmung, jeden seelischen Zustand nach, den er bei einem anderen entdeckt. Darauf sieht er zu, ob er den anderen mit der Nachahmung täuschen kann, ob er ihn in weitergehende Ausführung hinreißen kann, welche seine eigene Schöpfung in kraft der Idee ist.[26]

Warum sollte die Passage stören? Drei Gründe lassen sich nennen. Störend ist der Passus für Leser, welche die Selbstpräsentation des Psychologen der Einleitung im Ohr haben, denn zu dieser passt diese nicht recht.[27] Der Psychologe ist dort Kontemplierer der Möglichkeit (genauer: der Möglichkeit der Sünde)[28], der weder ein Beobachter seiner Umwelt zu sein scheint noch ein Nachahmer von „Stellungen“ oder gar ein hinreißender Verführer. Dem „Interesse des Wirklichen“[29] überhaupt scheint er fern zu stehen. Die Abweichung also irritiert und lässt uns aufmerken.

Wer aufmerkt, begegnet BA mit Fragen, die – eben: wie ein Wasserzeichen – durch die weitere Lektüre (und die Relektüre) des Textes schimmern: Worin könnte eine BA eigene „Nachahmung“ liegen? Was wird im Text verschwiegen? Wodurch stiftet der Text eine Vertraulichkeit mit uns? Und: Wie ist zu verstehen, dass dort, wo etwas Verborgenes aus uns „herauskriecht“, auch ein „Mit-sich-selbst-Plaudern“ des Verborgenen anhebt? Wodurch verstrickt uns der Text in ein Selbstgespräch – und: tut er dies überhaupt? Diese Fragen zu stellen, birgt ein zweites störendes Potential. Denn indem wir sie an den Text richten, sind wir nicht länger nur Leser, die ein theoretisches Angebot prüfen (und auf alternative Angebote beziehen). Wir sind immer auch schon (detektivische) Beobachter, die den Text auf mögliche Antworten hin abhören – eine ungewohnte Lektüreperspektive.

Besonderes Irritations- bzw. Faszinationspotential birgt der Passus jedoch für Leser, die Kierkegaards Gesichtspunkt kennen. Denn so fern diese Selbstpräsentation der Einleitung steht, so nahe steht sie der Verfahrensbeschreibung des Gesichtspunktes, die oben auszugsweise referiert wurde. Wo dort Kierkegaard einen „Rapport mit den Menschen“ und ihrem ästhetischen Standpunkt sucht, schmiegt er sich ihnen nun an, um „ihre Stellungen nachahmen zu können“. Dient dies im Gesichtspunkt (wie zitiert) dazu, den Anderen ‚mitgehen‘ zu lassen, so dient es nun parallel dem Zweck, ihn „in weitergehende Ausführung hinreißen“ zu lassen (und zur „Vertraulichkeit“). Ist der Rapport laut Gesichtspunkt eine Täuschung, so ist die Nachahmung dies auch für VH. Soll laut Gesichtspunkt durch sie uns je offenbar werden, dass wir nur in einer Einbildung gelebt haben[30], so geht es auch VH ums Offenbarwerden, nämlich ums „Herauskriechen“ von „Verborgenem“. Betont schließlich der Gesichtspunkt die (dank „dialektischer Zurechtrückungen“) gewahrte Intimität und Stille des Eingeständnisses[31], so legt es auch VH auf „Unbeachtetheit“ und „Stille“ an. Kurzum: Die Parallelen sind zu deutlich, um nicht zumindest die Hypothese zu erwägen, dass der Psychologe des „Wasserzeichens“ eines Geistes Kind mit dem Kierkegaard der maieutisch-taktischen Methodenschriften ist – mindestens darin[32], dass er auf ein Offenbarwerden von etwas zielt und die evokative Kraft in einem Zusammenspiel von Vertraulichkeit, Betrug und Verschweigen des eigentlichen Problems fundiert. Auch dies stört.

Die eben genannte Hypothese zu prüfen, heißt BA mit den gesammelten Fragen zu begegnen. Dass dies aufschlussreiche Antworten birgt, zeigt sich schon bei dem nächsten Punkt, was die These meines Aufsatzes weiter stützt.

B Die „verschwiegene“ Sünde

Eine der aufgegebenen Fragen gilt im Text Verschwiegenem, genauer solchem, das auch bei uns verborgen ist und durch das kunstvolle Verschweigen in eine Art Selbstgespräch gebracht werden soll. Doch wird in BA etwas notorisch von VH verschwiegen? Ein Passus der Einleitung bejaht dies, wenn auch in überraschender Weise. Dort heißt es: „Gegenwärtige Schrift hat sich die Aufgabe gesetzt, den Begriff ‚Angst‘ psychologisch … abzuhandeln. Insofern bekommt sie denn also auch, wiewohl stillschweigend, mit dem Begriff der Sünde zu tun.“[33] Sünde – bzw. ihr Begriff – sind hier als nur schweigend abgehandelt ausgesagt.[34]

Wer dies liest, stolpert erneut (darin ist auch dieser Passus Stolperstein). Denn von Sünde ist ab Caput 1 so deutlich und explizit die Rede, dass eine Interpretin BA jüngst als Schrift mit irreführendem Titel bezeichnete, gehe es doch weniger um Angst als um Sünde.[35] Man muss diese These nicht teilen, um bemerkenswert zu finden, dass ein Text, der mit Überschriften aufwartet wie Begrebet „Arvesynd“ (Caput 1, § 1), Begrebet den første Synd (Caput 1, § 2) und bei dem auch eine Vokabelsichtung belegen würde, dass er das Wort Sünde gern im Mund führt, sich ausgerechnet ein diesbezügliches Schweigen bescheinigt. Als Leser müssen wir mit dieser Spannung umgehen: entweder indem wir das Schweigegelübde nicht ernstnehmen und es übergehen – oder aber, indem wir VHs offenkundiges Thematisieren (das wir nicht leugnen können) mit einem dennoch irgendwie waltenden Verschweigen engführen. Dann aber bietet sich folgende These an: VH behandelt den wahren Begriff der Sünde tatsächlich ‚stillschweigend‘. Allerdings verschweigt er diesen nicht dadurch, dass er überhaupt schweigt oder von ganz Anderem redet. Er ‚verschweigt‘ ihn, indem er davon redet, was der wahre Begriff der Sünde zu sein scheint. These wäre hier also, dass das Bereden der Sünde (mute es auch noch so theoretisch an) nicht mit der Offenlegung des wahren Begriffs zusammenfällt. Dieser kann viel eher auch dort – und vielleicht sogar gerade dort – „verschwiegen“ sein, wo das Wort „Sünde“ die Exposition dominiert. „Die Theorie, die Doktrin dient – zu verbergen, dass das Praktische fehlt“[36], wäre eine Bemerkung aus Kierkegaards Mund, die ein solches Verfahren glossiert.

Wenn diese These darauf hinausläuft, dass die Sünde indirekt verhandelt wird, dann nähert sie sich einer Perspektive an, die etwa auch Hermann Deuser favorisiert, wenn er dafür plädiert, dass BA indirekt sei, da es Sünde nur im Medium der Möglichkeit[37] reflektiert. Doch bleibt es bei einer bloßen Annäherung, da Deuser nicht weit genug geht. Die relevante Indirektheit nämlich liegt nicht in der Möglichkeitsform als solcher. Sie liegt viel eher darin, dass sich in dem theoretischen Kaprizieren auf die Möglichkeit der Sünde – folgen wir Caput 4 – eine evasive und für die Angst gefallener Subjektivität typische Denkungsart bekundet; eine, die von der Wirklichkeit der Sünde in die beruhigende Reflexion auf die bloße Möglichkeit fliegt. Anders gesagt: Die Sünde führt selbst das Wort, und zwar durch die Art, wie sie VH über Sünde denken bzw. reden lässt, wenngleich sie dabei auch verschweigt (und nur durch Caput 4 und weitere Stolpersteine uns zu folgern einlädt), dass eben sie das Wort führt. Just darin bleibt sie durch ihr eigenes und hinter ihrem eigenen Thematisiertwerden verborgen.

Dies jedoch war ein Vorgriff. Zunächst zum nächsten Stolperstein, der in eine ähnliche Richtung deutet und gleichfalls auf Caput 4 vorausweist.

C Von der Angst und evasiven Neugier des Autors

In der Einleitung reflektiert VH auf die Relevanz von Stimmungen für die Wissenschaft.[38] Auch für sie gelten, dass sie eine „Stimmung voraussetzt sowohl beim Schaffenden wie beim Empfangenden“[39], was darum übersehen werde, weil „Innerlichkeit und die Bestimmung der Zueignung“[40] übergangen würden. VH betont also die bedingte Relevanz der Stimmung, sofern sie die unbedingt relevante Aneignung eines Themas fundiert. Sie entscheide darüber, ob jemand zu denen gehört, „die über jedwedes Ding viel zu sagen vermochten“[41], aber letztlich nur Worte verstehen, oder ob er „das Hinweisendedarin … verstehen“[42] kann, um „sich selbst [zu] verstehen in dem Gesagten“[43].

Wenn VH die Stimmungen verschiedener Wissenschaften im Verhältnis zur Sünde benennt und ausführt, dass die der Sünde adäquate Stimmung der Ernst sei[44], erfahren wir, dass dieser nicht die Stimmung der Psychologie ist. Daher gelte für die Psychologie „Der Begriff wird ein anderer; denn die Sünde wird ein Zustand. Aber die Sünde ist kein Zustand.“[45]

Dass ein Autor die Unangemessenheit seiner – für Aneignung, Innerlichkeit und Begriff zentralen – Stimmung zugesteht, irritiert erneut.[46] Was ist der Sinn einer psychologischen Approximation, wenn sie mit Verzerrungen kalkuliert? Dürfen wir am Ende durch die Verzerrung kürzen? Gilt, dass sich die Sache auf dem Weg der Entstellung indirekt als sie zeigt? Oder gilt, dass sich die Psychologie den Ernst und die Aneignung des Themas nicht zumutet? Erneut wird die „Hingabe“ an den theoretischen Entwurf gebremst, der umso mehr ins Zwielicht gerät, wenn wir merken, dass der Text Andeutungen auf die letzte Antwort gibt (wobei diese auch die zweite stützt).

Eine erste Andeutung findet sich in einem weiteren Irritationsnest. Es wird sichtbar, erfragen wir die Stimmung des Psychologen. VH nennt nämlich gleich vier Kandidaten[47]: die „anhaltende Beobachtung“, die „spionierende Unerschrockenheit“, die „antipathetische Neugier“ und die „aufdeckende Angst“[48]. Dass nicht jede dieser Einstellungen ohne Weiteres als ‚Stimmung‘ bezeichnet werden kann, ist hierbei irrelevant. Entscheidend ist, dass VH sie als „Stimmungen“ einbringt – und damit erneut Fragen anregt: Ist die Stimmung der Psychologie komplex? Unterliegt der Psychologe Stimmungsschwankungen? Gibt es die eine Stimmung der Psychologie gar nicht? Wer diese Fragen stellt, merkt, dass die Vielfalt reduzibel ist: teils mit gesundem Menschenverstand, teils durch den Text. Dass „anhaltende Beobachtung“ und „spionierende Unerschrockenheit“ Momente der Neugier sind, ist zu vermuten. Damit ist eine erste Reduktion durch Rekurs auf Naheliegendes erreicht: Der Psychologe lebt entweder in Angst oder in Neugier.

Allerdings gibt VH Hinweise, dass die theoretische Neugier (auf die Sünde) auf die Angst reduzierbar ist, um die These zu stützen, dass eigentlich sie es ist, die sich im Entwurf des VH artikuliert. Ein zentrales Indiz hierfür ist Caput 4. Doch scheint die evasive Problematik der (theoretischen) Neugier auch an anderen Stelle auf – etwa wenn VH auf die Neugier Anderer kritisch zu sprechen kommt, wie in Caput 1, §4. Zwei Stellen sind dort von Interesse. Zum einen kritisiert VH hamartiologische Reflexionen, „die bloß das Interesse der Neugierde … hatten“[49], um damit die Frage aufzuwerfen, was seine eigene neugierige Annäherung von diesen unterscheidet. Sieht hier jemand nicht den Balken im eigenen Auge? Zum anderen weist VH Fragen wie Was, wenn Adam nicht gesündigt hätte? brüsk zurück, da man durch sie nur beweise,

dass man eine verkehrte Stimmung und somit auch einen verkehrten Begriff mitbringt. Der Unschuldige kann nie darauf verfallen, solchermaßen zu fragen, der Schuldige aber sündigt, wenn er so fragt; denn er möchte in seiner ästhetischen Neugierde ignorieren, dass er selbst die Verschuldung in die Welt gebracht, selber die Unschuld verloren durch Schuld.[50]

Die Stelle ist bemerkenswert. VH erkennt hier an, dass bestimmte theoretische Fragen eine verkehrte Stimmung bekunden, wobei „verkehrt“ heißt: eine, die vom Unwillen zur Selbsterkenntnis (bzw. Sündenerkenntnis) zeugt. Nahegelegt ist überdies, dass gerade diese Selbsterkenntnisaversion die Attraktivität besagter Fragen fundiert (vgl. auch II.D.) – eben zwecks Ablenkung. Der Reiz des Einen erwächst also aus dem Unwillen zum Anderen. Derart neugierig zu fragen heißt nichts anderes als: den Blick nicht auf die je eigene Schuld richten zu wollen.

Auch dieser Passus gibt Fragen auf. Wenn VH selbst durch theoretische Neugier getrieben ist: Warum sollte dann die Frage nach der Möglichkeit der Sünde nicht auch als eine bewertet werden, durch die der Blick von der eigenen faktischen Schuld gelenkt wird? Dass VH nach eigenem Bekunden von aller Wirklichkeit abstrahiert, keinen erstpersonalen Ton anschlägt und mehr darum bekümmert ist, Adam ins Geschlecht zu integrieren, als darum, auf sich selbst zu blicken, spricht für eine solche Kritikwürdigkeit der eigenen Fragerichtung. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass VH Sätze schreiben kann wie: „Wie die Sünde in die Welt gekommen ist, das versteht ein jeder Mensch einzig und allein aus sich selbst; will er es von einem anderen lernen, so will er es eben damit missverstehen.“[51] Denn auch wenn dabei Wichtiges ausgesagt ist, so ist Wichtiges gesagt, was VH gerade nicht vormacht.[52] Recht deutlich also wird die Problematik der Perspektive des VH unterstrichen – auch durch folgenden Stolperstein.

D Von törichten Fragen und der versuchenden Möglichkeit

Die „Falls nun Adam nicht gesündigt hätte“–Frage wird in Caput 1, §6 erneut Thema, wenn nun auch ein neues durch die Faktizität der Sünde fundiertes (ablenkendes) Attraktivitäts-Moment (vgl. II.C.) im Fokus steht: die versucherische „Möglichkeit“. Wir lesen:

Wofern es mir hier erlaubt wäre, einen Wunsch zu tun, so möchte ich wünschen, es gebe keinen Leser, der so tiefsinnig wäre zu fragen: falls nun Adam nicht gesündigt hätte. In dem Augenblick, da die Wirklichkeit gesetzt ist, geht die Möglichkeit beiseite als ein Nichts, welches alle gedankenlosen Menschen anlockt. Dass doch die Wissenschaft sich nicht entschließen kann, die Menschen in Zucht und sich selbst in Zaum zu halten! … Mittlerweile ist die Wissenschaft doch ab und an gefällig genug gewesen, um sentimentalen Wünschen mit grübelnden Hypothesen entgegenzukommen, von welchen sie dann zuletzt einräumte, eine zureichende Erklärung seien sie nicht. Das ist nun durchaus wahr; aber die Verwirrung ist, dass die Wissenschaft törichte Fragen nicht nachdrücklich abgewiesen … hat.“[53]

Die Möglichkeit („Was wäre wenn“) wird hier zum versucherischen „Nichts“ (bzw. Schein) erklärt, das (bzw. der) post lapsum die Aufmerksamkeit anlockt und von der Wirklichkeit abzieht (vgl. das Zitat unter III.C.). Auch dies lässt aufhorchen. Denn in der Einleitung ordnet VH der (neugierigen) Psychologie genau eine Kategorie zu: die der Möglichkeit. Sie sei erklärende Möglichkeitswissenschaft und untersuche „die disponierende Voraussetzung, die reale Möglichkeit der Sünde“[54]. Von der Wirklichkeit sehe sie ab und könne sie nur durch ein Missverständnis[55] thematisieren.

Wo die Möglichkeit als irreführendes Faszinosum angesprochen ist, zugleich aber im Zentrum der theoretischen Rückfragen steht, wird unsere „Hingabe“ an die theoretische Skizze erneut gebremst. Sieht VH nicht, dass er selbst möglicherweise nur möglichkeitsverführt denkt? Ist er unfähig, die Anderen entgegengebrachte Kritik auch auf sich selbst beziehen? Dass VH in die kritisierten Wissenschaften jene aufnimmt, die zugeben, „eine zureichende Erklärung“ nicht zu leisten, schneidet die Kritik noch mehr auf das eigene Unterfangen zu. Denn VH betont ja nachdrücklich, nur auf eine Erklärung zuzuerklären[56]: „Die einzige Wissenschaft, die ein bisschen tun kann, ist die Psychologie, und diese gesteht selbst zu, dass sie mehr nicht erklärt, und nicht erklären kann und nicht erklären will.[57]

Doch liegt ein Einwand nahe. Denn VH kritisiert die Hingabe ans bloß Mögliche (also Kontrafaktische – „was wäre wenn…“). Er selbst aber widmet sich dem Ermöglichenden und damit Notwendigen. Die Kritik – so könnte man einwenden – trifft ihn nur bei begrifflicher Unschärfe. Der Einwand ist wichtig, ruft aber nur dazu auf, die Kritik auf einem Umweg zu erheben. Dieser zieht den Perspektivismus der schon erwähnten wissenschaftstheoretischen Reflexion der Einleitung in Betracht. Denn VH unterscheidet dort nicht nur Annäherungen anhand ihrer Stimmungen und des damit korrelierten Begriffs der Sünde. Er reflektiert auch darauf, wie das Vorgehen der einen Wissenschaft aus Perspektive einer anderen erscheinen kann. Dabei erfahren wir etwa, dass eine psychologische Erklärung der Sünde im Rückgang auf die Natur des Menschen die Ethik „empört“[58] und für die Dogmatik „eine Lästerung“[59] sei. Überdies erfahren wir, dass diese beiden Wissenschaften relativ zu Sünde und Freiheit eine megarische[60] Konzeption vertreten, nach der Sünde und Freiheit überall da, wo sie möglich sind, auch wirklich sind. Für sie gelte: „die Freiheit ist niemals möglich: sobald sie ist, ist sie wirklich, in gleichem Sinne, wie man in einer älteren Philosophie gesagt hat, wenn Gottes Dasein möglich sei, sei es notwendig“[61].

Jenseits theoretischer Fragen, die hier aufgeworfen werden, birgt dies Ressourcen, um den eben vorgebrachten Einwand zu bewerten. Denn wenn VH als Psychologe Sünde (und Freiheit) als etwas konzipiert, das nur möglich war, ehe es wirklich war, dann konzipiert er Sünde (und Freiheit) als etwas, das aus der Perspektive von Ethik und Dogmatik eine kontrafaktische Chimäre ist. Aus deren Perspektive zehrt seine Annäherung von der Hypothese: Angenommen, die Sünde wäre nicht, was sie ist. Entsprechend wird für diese Wissenschaften der Psychologe in vergleichbarer Weise von der Möglichkeit versucht wie die für törichte Fragen allzu offene Wissenschaft der obigen Kritik.

Wiederum gerät das Unterfangen des VH ins Zwielicht – zumindest, wenn man die Sichtweise der beiden Wissenschaften teilt. Aber sollte man das tun? Ein abschließend betrachteter Stolperstein weist uns darauf hin, dass es zumindest fatal wäre, den Standpunkt des VH zu teilen.

E Der „ungestörte“ Archimedes

Eine Stelle mahnt uns in ihrem subversiven Potential besonders nachdrücklich und geistreich dazu, die Möglichkeitsreflexion des VH als Inszenierung nahezu grotesker Wirklichkeitsblindheit zu betrachten. Leider wird sie meist überlesen oder fehlgedeutet.[62] Sie findet sich in der Einleitung in unmittelbarem Anschluss an die Perspektivismus-Reflexion und verteidigt dem Schein nach das Vorgehen des Psychologen mit den folgenden Worten:

Ethisch gedacht, kommt natürlich die Möglichkeit der Sünde überhaupt nicht vor, und die Ethik lässt sich nicht narren und vergeudet ihre Zeit mit solch einer Überlegung. Die Psychologie hingegen liebt sie, sitzt da und zeichnet die Umrisse nach und berechnet die Winkel der Möglichkeit, und lässt sich ebenso wenig stören wie Archimedes.[63]

VH präsentiert sich hier auf den ersten Blick als jemand, der in archimedischer Ungestörtheit und Hingabe im theoretischen Arkadien seine Überlegungen anstellt. Wo Archimedes der Legende nach dem römischen Soldaten ein noli turbare circulos meos entgegenruft, ruft VH sinngemäß ein „infiziere meine Hingabe an die reine Möglichkeit nicht“ dem entgegen, was ihm Ethik und Dogmatik als stets schon vorauszusetzendes Faktum entgegenhalten. An die Stelle des Soldaten also tritt die störende Faktizität der Sünde, die aber – so scheint es – der hingebungsvollen Überlegung nichts anhaben kann.

Der zweite Blick sieht Anderes. Denn Kierkegaard erwartet von uns, dass wir ebenso wie er darüber im Bilde sind, dass es mit der archimedischen Ungestörtheit der Legende nach nicht weit her ist. Was ihn nicht stören sollte, störte dennoch und schlug in Gestalt des römischen Soldaten zu. Wie Kierkegaard an anderer Stelle notiert, ist Archimedes jener, der „in seine Berechnungen vertieft, dasaß und nicht merkte, dass er erschlagen war“[64]. Wer ihm ähnlich agiere, schulde „sein Wohlbehagen ja dem Umstand, dass man Mittel hat, mit denen man das Erschrecken fernhält“.[65]

Was hat es mit dieser sonderbaren Selbstpräsentation auf sich? Ich schlage vor, die Stelle als ein bildhaftes Vorzeichen zu betrachten, dessen Überlesen BA in der falschen „Tonart“ lesen lässt. Wer das Vorzeichen überliest, nimmt für bare Münze, dass in BA die Möglichkeit der Sünde in Abstraktion von ihrer Faktizität und deren noetischen Folgen reflektiert wird. Wer das Vorzeichen bemerkt, geht stattdessen voller Erwartung an den Text – und mit Hypothesen, die ihm das Bild an die Hand gibt. Dazu gehören die folgenden:

  1. VH wird zwar versucht sein, mit einem „Störe meine Möglichkeits-Reflexion nicht“ die eigene Faktizität fernzuhalten. Doch wird sich das Faktum davon so unbeeindruckt zeigen wie der römische Soldat. Auch es wird in seiner Weise „zuschlagen“, und es ist unsere Aufgabe, als Leser die Frage zu stellen, wo und in welcher Form es dies tut.

  2. Auch VH՚s Möglichkeitskontemplation ist ein Mittel, das Erschrecken angesichts der Faktizität fernzuhalten. Dass seine Neugier evasiv ist, wird auch hierdurch unterstrichen.

  3. Auch der „Archimedes aus BA“ wird durch sein verkehrtes Wohlbehagen angesichts der Möglichkeitskontemplation um das (gute) Leben gebracht, welches damit als eines skizziert ist, das nicht damit verträglich ist, der eigenen Faktizität ein „störe mich nicht“ entgegenzuschleudern – nicht einmal für den Moment, in dem ein hamartiologischer Klassiker verfasst oder gelesen wird.

Auch dieser Passus lädt uns also ein, dem Text nicht nur zu folgen, sondern den Autor detektivisch zu beobachten. Dabei gibt er uns insbesondere die Frage auf, was es denn heißen könnte, dass die faktische Sündhaftigkeit in einer ihr eigentümlichen Weise „zuschlägt“, worauf die These dieses Aufsatzes eine Antwort gibt: Der „Zuschlag“ liegt darin, wie die Gefallenheit die Denkungsart des VH prägt. Das aber beschert Caput 4 eine Zentralstellung, da hier illustriert wird, welche noetischen Effekte (durch die Angst der Gefallenheit) für BA anzunehmen sind.

F Vorläufige Schlussnotiz

Knapp nachgetragen sei vor dem Sprung in Caput 4, dass die Liste möglicher Stolpersteine damit freilich nicht erschöpft ist. Man denke daran, dass VH ironisierend schreibt, eine Reflexion auf die Möglichkeit der Sünde führe in ein „Zwielicht, da Hexen und Projektenmacher um die Wette reiten auf einem Besenstiel und einem Wursthölzchen“[66] – und dass in sein Rekurs auf den „träumenden Geist“ in der Tat erstens ins Halbdunkel[67] der Übergangssphäre von seelischer Bestimmtheit zur Geistbestimmtheit führt und zweitens zu Hegel, obwohl VH schreiben kann, man müsse, um mit der Sünde theoretisch weiterzukommen, alles vergessen, was dieser sagte. Hegel – oder doch nicht?[68] Auch dass VH Hegel dafür rügt, dass er als Philosophieprofessor „in deutschem Sinne“[69] unbedingt „alles erklären muss“, während Schleiermacher das fromme Selbstbewusstsein als Artikulationsschranke setzte und „nur von dem redete, was er wusste“[70], irritiert. Denn VH folgt in seiner Erklärungswut eindeutig Hegel; und er unterstreicht das Unbedingt-Erklärenmüssen eigens, wenn er sich auf eine Erklärung zuerklären will. Dies ist nicht bescheidener – es ist verstiegener. Auch hierüber ließe sich viel sagen. Doch war hier nicht Vollständigkeit intendiert, sondern der Nachweis, dass BA in seiner Weise „dialektisch verknotet“ und gespickt mit Irritationsmomenten ist.

III Caput 4 und die unvollzogene Selbstreflexivität von BA

Die bisher betrachteten „Stolpersteine“ irritieren und diskreditieren vielfach schon den Standpunkt des VH. Caput 4 unterscheidet sich darin von ihnen, dass die Diskreditierung durch explizit artikulierte Theorie erfolgt. Für den Leser ergibt sich daher folgende Situation. Nimmt er Caput 4 ernst, kommt er nicht umhin, das Angebot aus (v. a.) Caput 1, §5 f, als wirklichkeitsevasive Selbstartikulation der komplexen Angst gefallener Subjektivität zu sehen. Lässt er das Angebot hingegen als „neutralen“ Entwurf gelten, muss er die Überlegungen aus Caput 4 (und die zahlreichen Stolpersteine) ignorieren. Da die erste Perspektive Caput 1 integrieren kann (nämlich: als gottesfürchtige Satire) ist sie mindestens komprehensiver, wobei sie den Text für eine Erhellung der Sünde nicht minder relevant sein lässt. Daher ist sie umso ernster zu nehmen. Der hierdurch Caput 4 zufallende Sonderstatus überrascht nicht. Denn wenn Caput 4 sich jener Angst widmet, die nicht mehr die der Sünde eigene prädisponierende Voraussetzung aus Caput 1 sein soll, sondern den Einzelnen post lapsum schon ergriffen hat, dann folgt zwingend (wenn Caput 4 nicht inhaltlich falsch ist), dass sie auch VH ergriffen hat. Wenn Caput 4 aber noetische Folgen dieser Angst benennt, dann sind es Folgen, die wir bei VH vermuten müssen.

Da Caput 4 sehr lang ist, werde ich mich hier auf jene (wenigen) Stellen konzentrieren, die zentrale Aufschlüsse für die BA eigene Selbstreflexivität bergen. Dass ich dabei von Ressourcen zehre, die sowohl die „Angst vor dem Guten“ als auch die „Angst vor dem Bösen“ betreffen, ist nur zu erwarten. Denn auch wenn laut VH post lapsum „der Unterschied zwischen Gut und Böse im Konkreten gesetzt ist“[71], womit sich die Angst zu beiden distinkt verhalten könne, so ist doch für VH diese intensionale Differenz nicht mit einer extensionalen Differenz korreliert. Das begrifflich Differenzierbare differenziert sich also nicht über unterschiedliche Individuen hinweg, sondern ist je koinstantiiert.[72] Dies erlaubt VH nicht nur die Forderung, dass „man jegliche phantastische Vorstellung … von einer Verschreibung an das Böse“[73] aufzugeben habe. Es legt auch nahe, dass die Angst – sofern sie sich als Angst wirklicher Subjektivität artikuliert – in komplexer und überlagernder Hinsicht artikulieren wird. Dies ist in der Tat der Fall, wobei ich mich für den entsprechenden Nachweis zunächst dem Reflex der Angst vor dem Bösen, sodann jenem der Angst vor dem Guten zuwende.

A Eine ‚sophistisch‘ die Möglichkeit ‚hervorbringende‘ Angst vor dem Bösen

In der Reflexion auf die Angst vor dem Bösen fällt eine Angst-Gestalt besonders auf. Sie verhält sich laut VH zum Bösen, insofern es gesetzte Wirklichkeit ist, wenn auch (da Angst sich immer zu Möglichem verhält) zu diesem hinsichtlich der Möglichkeit seiner Aufhebung. Laut VH arbeitet sich diese Angst an der Aufhebung gleichsam selbst ab: indem sie die gesetzte Wirklichkeit verleugnet, um das Interesse dem Wirklichen nur hinsichtlich seiner (Einstweilen-nur‐)Möglichkeit zu widmen. Wie VH notiert, ‚erzeugt‘ diese Angst „mit Lug und Trug und der Beredsamkeit der Verblendung“[74] aus der Wirklichkeit der Sünde „sophistisch die Möglichkeit …, indessen sie ethisch gesehen, sündigt“[75]. Damit invertiere sie die Bewegungsrichtung aus Caput 1, denn dort werde durch die Angst „aus der Möglichkeit der Sünde deren Wirklichkeit erzeugt“[76].

Der Gedanke ist nicht unvertraut, sondern verweist zurück auf Punkt II.D., wo die bloße Möglichkeit der Sünde bereits als nichtshafter Reflex ihrer Gesetztheit eingeführt wurde. Neu ist nun, dass der Reflex explizit in Angst fundiert wird; in einer Angst, die das Faktum als unberechtigt spürt und sich angesichts seiner um Aufhebung bemüht, wenn auch freilich um eine höchst groteske, besteht sie in der Verleugnung der Faktizität und der Hingabe an die vermeintlich reine Möglichkeit der Sünde. VHs Perspektive gerät hier wiederum unter Beschuss – und zeigt sich als nicht weniger als die schlechte Alternative zum Ergreifen der Versöhnung. Das Bild des Archimedes, der um sein gutes Leben gebracht wird, gewinnt seine Relevanz.

Caput 4 enthält hier bereits ein deutliches Angebot dazu, was sich wirklich artikuliert, wenn sich VH seiner Möglichkeitswissenschaft hingibt: es ist seine Angst.[77] Dass VH dies nicht selbst zugibt und blind dafür ist, dass seine Überlegungen auf Caput 4 zurückstrahlen (obwohl er in der Einleitung doch die Angst als Stimmung des Psychologen gehandelt hatte), spricht nicht gegen meine These, sondern nur dafür, dass BA durch Caput 4 de facto selbstreflexiv ist, wenn die Reflexion auch im Text unvollzogen bleibt. Gerade dadurch aber gibt der Text uns die Chance, diese Selbstreflexion eigenständig für den Text und anhand seiner nachzuvollziehen – in Unbeachtetheit und Stille eben, wie es oben versprochen war. Dass wir dabei auch selbst in den Fokus unserer (dadurch je genuin eigenen) Kritik geraten, wird sich gleich zeigen.

B Die Angst vor dem Guten

Da die Ausführungen über die Angst vor dem Guten – VH führt sie unter dem Alias ‚das Dämonische‘ – von üppigen Einlassungen geprägt sind, ist das Folgende erneut selektiv. Es geht nur darum, den Ankerpunkt für die eigentümliche Selbstreflexivität der Angstabhandlung zu identifizieren. In den Blick kommen zunächst zwei Nebengedanken, die implizit Leerstellen in Caput 1 kritisieren (B.1), sodann die beiden von VH angeführten Kriterien für das Dämonische (B.2). Nach ihnen nämlich fällt der Zugang zur Sünde der psychologischen Betrachtung unter diesen Begriff.

1 Bemängelte Leerstellen in Caput 1

Zwei Nebengedanken bergen besondere Munition zur Kritik des Entwurfs aus Caput 1, wenn diese bei VH auch unterbleibt: Sie finden sich im Kontext einer Begriffsbestimmung des Dämonischen, die als ‚Richtschnur‘ eine Trias möglicher (und nach VH faktisch auch eingenommener) Perspektiven auf das Dämonische wählt: die medizinische, die ästhetisch-metaphysische und die ethische Betrachtung seiner. Die letzten beiden sind Anlass für die Nebengedanken. Den ersten veranlasst die These, dass das Dämonische ästhetisch-metaphysisch unter den Kategorien „Unglück, Schicksal“[78] verhandelt werde, weshalb man ihm mit Mitleid begegne. Für VH ist dieses „die elendste von allen gesellschaftlichen Kunstfertigkeiten“[79], da es schlechtes Surrogat des Mutes sei, „über dergleichen in tieferem Sinne nachzudenken“[80]. Der mutige Betrachtende aber „begreift, es gehe hier um seine eigene Sache“[81].

Auch diese mutige Perspektive wird von VH ‚Mitleid‘ genannt, wenn auch „das wahre menschliche Mitleid“[82]. Ihr Wesenszug sei erstens, „sich mit dem Leidenden so in eins zu setzen“[83], dass der Mitleidende „mit seinem Kampf um eine Erklärung für sich selber kämpft“[84]; zweitens eigne ihr eine kritische Haltung gegenüber der Schicksals-Kategorie. Der Human-Mitleidige müsse „erst ins Reine kommen, wieweit es sich um Schicksal handelt und wieweit um Schuld. Und diese Unterscheidung muss vollzogen werden mit der Freiheit … energischer Leidenschaft, dass man sie festzuhalten sich getraue, ob auch die ganze Welt einstürzte“[85]. Wozu die genannte leidenschaftliche Analyse? Eine Fußnote zur ethischen Perspektive gibt hierüber weitere Aufschlüsse. Demnach nimmt laut VH die ethische Perspektive auf das Dämonische die oben ausbleibende Identifikation vor. Hierdurch werde der Andere auf seine Freiheit hin wahrgenommen. „Trost und Linderung“[86] darin zu suchen, sich als schicksalsbestimmt zu denken, lehne diese Perspektive strikt ab. Sie wolle „das Kleinod, … die Freiheit“[87] unter allen Umständen bewahren.[88] Warum es sich lohnt, mit Leidenschaft um die Freiheitsdimension dessen zu kämpfen, was ästhetisch betrachtet schicksalsbestimmt scheint, ist damit angedeutet. Es geht darum, sich als Freiheit (und Handlungssubjekt) auch in dem, was das Leben an Widerfahrnissen mit sich bringt, wiederzufinden, um das eigene Tun undialektisch als Selbstartikulation von Freiheit zu betrachten. Anders gesagt: Es geht darum, als Freiheit eine Geschichte zu haben.[89]

Die beiden Nebengedanken zum humanen Mitleid und zur ethisch entwickelten Individualität sind theoretisch interessant. Hier sind sie es, weil sie auf Leerstellen in Caput 1 ff. verweisen. Denn VH kämpft dort zwar dafür, Adam ins Geschlecht zu integrieren. Aber VH ist niemand, der bei der abstrakten Reflexion auf die Möglichkeit der Sünde, ‚mit seinem Kampf um eine Erklärung für sich selber kämpft‘. Im Gegenteil präsentiert er sich als jemand, der – sofern er vom Faktum der eigenen Schuld abstrahiert – für sich höchstpersönlich gar nicht kämpfen kann.

Dies knüpft an die zweite Leerstelle an: das Fehlen eines theoretischen Entwurfs, in dem sich eine ethisch entwickelte Individualität (oder eine, die deren Leidenschaft für das Kleinod, wenn auch mit anderen kategorialen Rahmungen, teilt) wiederfinden kann. Freilich: Von Freiheit handelt der theoretische Entwurf in der Tat. Doch wo, so wie in Caput 1, §5, eine nur embryonale und noch nicht als Wirklichkeit gesetzte Freiheit im Angesicht ihrer Möglichkeit (bzw. möglichen Verwirklichung) ohnmächtig[90] und aufgrund der ihr eigenen Ambivalenz immer auch wider Willen[91] in die Schuld taumelt, ist das ‚Kleinod‘ zwar erwähnt, aber in einer Weise, dass eine undialektische Übernahme der Widerfahrnisse als Selbstartikulationen von Freiheit kaum möglich ist. Gäben wir dieser so fallenden Freiheit für den Moment eine Stimme, dann käme sie wohl viel eher dem nahe, was Kierkegaard den jungen Mann in der Wiederholung sagen lässt. Dort lesen wir:

Alles, was in meinem Wesen enthalten ist, schreit auf in Widerspruch zu sich selbst. Wie ist es zugegangen, dass ich schuldig ward? Oder bin ich etwa nicht schuldig? … Ist mir nicht einfach etwas zugestoßen, ist das Ganze nicht eine Widerfahrnis? Hätte ich vorauswissen können, dass mein ganzes Wesen eine Veränderung erfahren würde, dass ich ein anderer Mensch werden würde? Ist vielleicht etwa hervorgebrochen, was dunkel schon in meiner Seele lag? Jedoch, lag es im Dunkeln, wie hätte ich es dann voraussehen sollen? Konnte ich es aber nicht voraussehen, so bin ich ja unschuldig. Falls ich einen Schlaganfall erlitten hätte, wäre ich dann auch schuldig gewesen?[92]

Wenn der Sündenfall psychologisch betrachtet immer „in Ohnmacht“[93] vor sich geht, dann artikuliert sich jener, der so fällt, in der beschriebenen Weise. Dann aber ist der Entwurf aus Caput 1 keiner, der sich für eine Hermeneutik der Freiheit andient. Ist diese wiederum Desiderat (wobei offen ist, ob sie aus theoretischer Perspektive möglich ist), ist der Entwurf aus Caput 1 zurückzuweisen. Das heißt: Caput 4 führt Nebengedanken ein, welche Leerstellen in Caput 1 anklagen. Damit problematisieren sie dessen Entwurf. Überdies wird sich zeigen, dass Caput 4 Kriterien für das Dämonische einführt, die erlauben, diese Leerstellen auf die Angst vor dem Guten zurückzuführen. Damit kann der Entwurf aus Caput 1 auch als deren Selbstartikulation gelesen werden.

2 Kriterien der Angst vor dem Guten und ihr Rückstrahl auf Caput 1 und dessen Leerstellen

Zur Üppigkeit der Reflexionen in Caput 4 gehört, dass VH zwei Kriterien für das Dämonische nennt, die nicht ohne Weiteres koinzidieren. Beide markieren jedoch Caput 1 in unterschiedlichen Hinsichten als Manifestation der Angst vor dem Guten: die erste hinsichtlich der letzten Leerstelle, die zweite hinsichtlich der ersten. Das erste Kriterium wird im Kontext des Versuchs einer kategorialen Bestimmung des Begriffs – a) der Form nach (das Dämonische als Verschlossenheit), b) der Zeit nach (als das Plötzliche) und c) dem Inhalt nach (als das Langweilige) – genannt. Das relevante Kriterium findet sich im Verschlossenheits-Kontext. VH notiert: „Was darüber entscheidet, ob die Erscheinung dämonisch ist, ist die Stellung des Individuums zum Offenbarwerden, ob er jenes Faktum mit der Freiheit durchdringen will, es in der Freiheit auf sich nehmen will. Sobald er das nicht will, ist die Erscheinung dämonisch.“[94]

Zum hier genannten ‚Offenbarwerden‘ (hier: Aabenbarelse) ließe sich manches sagen. Ich beschränke mich um der Kürze willen auf den Hinweis, was damit unter anderem gemeint ist. Vor allem gehört „Offenbarung“ in einen Zusammenhang des Sich-Bekennens und meint das befreiende Offenbarwerden eines belastenden Sachverhalts durch erlösende Worte. Eingeschlossen ist dabei die befreiende Bereitschaft, ein Faktum durch die begriffliche Anerkennung seiner als das gelten zu lassen, was es ist, nämlich (ich gehe hier mit textuell Naheliegendem über explizit Gesagtes hinaus): (i.) unberechtigt und (ii.) durch den jeweils Betroffenen selbst verschuldet. Man könne, so schreibt VH, auch von „Durchsichtigkeit“[95] reden, womit „die Offenbarung“ sowohl hinsichtlich (a) des Durchsichtigmachens des Sachverhalts auf sein Verhältnis zu je meiner Freiheit als auch (b) als ein Sich-selbst-Durchsichtig-Werden der konkreten Individualität hinsichtlich der eigenen Freiheit und ihrer möglichen Verstrickungen angesprochen ist. Dämonisch ist es damit, wenn ein das Faktum anerkennendes Sich-zu-sich-selbst-Bekennen ausbleibt. Nicht-dämonisch ist es, wenn es statthat. Damit sind wir im Kontext der zweiten Leerstelle. Denn wenn zu diesem Sich-Bekennen ein undialektisches Sich-zu-sich-als-Freiheit-Bekennen einschließlich der dafür nötigen Schuld-Übernahme gehört, dann ist der Entwurf aus Caput 1 Manifestation des Dämonischen.

Das zweite Kriterium steht im Kontext „allgemeiner Bemerkungen“[96] zu mutmaßlichen Varianten des Freiheitsverlusts[97], konkret jener, die VH den „pneumatischen“ nennt. Von Details sehe ich ab, wichtig ist hier nur: VH verlässt den oben dominierenden Rahmen, um das Dämonische existenzial-handlungstheoretisch zu bestimmen. Er hält fest,

dass die Wahrheit nur für den Einzelnen ist, sofern er sie selbst handelnd erzeugt. Ist die Wahrheit auf irgendeine andere Weise im Individuum, und wird sie vom Menschen daran gehindert, auf jene Weise für ihn zu sein, so haben wir eine Erscheinung des Dämonischen. Die Wahrheit hat allezeit viele laute Verkündiger gehabt, aber die Frage ist, ob ein Mensch in tiefstem Sinne die Wahrheit erkennen will, sein ganzes Wesen von ihr durchdringen lassen will, alle ihre Folgen annehmen und nicht für den Notfall ein Schlupfloch für sich selbst und einen Judas-Kuss für die Folgen haben will.[98]

Zwei Fragen stellen sich hier: (i.) Was hat es mit der Kriterien-Verschiebung auf sich? (ii.) Was hat dieses Kriterium mit Caput 1 zu tun? Ich beschränke mich auf die zweite Frage.

Diesbezüglich ist zunächst festzuhalten, dass das neue Kriterium eine Skopus-Erweiterung des Dämonischen birgt, sofern nun beliebige Lippenbekenntnisse und verbale Artikulationen, die praktisch wirkungslos bleiben, als Manifestation des Dämonischen zu werten sind. Dies belegen die Beispiele: VH fasst etwa Versuche, Gott zu beweisen, als unfreiwillige Manifestationen des Dämonischen auf, da hierdurch das Gewicht des Gedankens an Gott – der „sich aufdrängen“[99] wolle „bei jeglicher Gelegenheit“[100] und der „in sich eine Macht, in seinen Folgen ein Gewicht, in seiner Bejahung eine Verantwortung“[101] trägt, „welche vielleicht das ganze Leben auf eine Weise umschaffen werden“[102] – auf Abstand gehalten werde. Ein weiteres Beispiel ist die „Neugierde, die zu nicht mehr als Neugierde wird“[103].

Eine solche Neugierde kennt der Leser an dieser Stelle bereits – nämlich als Stimmung des Psychologen. Die oben nahegelegte Reduktion der Neugier auf die Angst wird so gestützt. Zugleich wird der Mangel der nur theoretischen Reflexion der Sünde artikuliert: Sie zeigt sich als eine Weise, das existenztransformierende Gewicht des Sünde-Gedankens auf Abstand zu halten. Einer „Beschreibung der Freiheit, welche Versuchung als internes Moment begreifbar macht“[104], scheint damit zwar gedient – nach Caput 4 ist diese aber nicht weniger „dämonisch“ als das Gott-Beweisen. Sie beruhigt, verdeckt Unliebsames und ist eben dadurch ein Mittel, das Erschrecken fernzuhalten.

Das benannte ‚Schlupfloch‘ strahlt auf die zweite Leerstelle zurück, denn der Rekurs auf die Ohnmacht ist ein eben solches. Doch strahlt dieses Kriterium auch auf die erste zurück: Denn freilich wird VH zugestehen, selbst auch Sünder zu sein. Wir alle sind es ja. Aber dies zuzugestehen, heißt noch nicht, sich von dem Gedanken mit dem Pathos der Umbildung betreffen zu lassen[105], das doch so nötig wäre. So ist VH zwar jemand, der – wie es vorher im Kontext der Stimmungsreflexion hieß – „über jedwedes Ding viel zu sagen“[106] vermag[107] – aber sich selbst zu „verstehen in dem Gesagten“[108] lässt er nicht zu. Darum kann er nicht wirklich für sich kämpfen.

3 Sprünge der Abwehr

Damit komme ich zum letzten Indiz dafür, dass Caput 1 als Selbstartikulation einer Angst vor dem Guten zu lesen ist. Es führt zurück zum Versuch einer kategorialen Bestimmung des Dämonischen, nun aber zu den Reflexionen auf den Zeitcharakter.

VH bestimmt in Caput 4 das Dämonische als das Plötzliche[109], da Kontinuität nur durch Kommunikation gestiftet würde, welche dem verschlossenen Dämonischen fehle. Es verweigert ja, wie gesehen, u. a. vergangene selbst(‐mit‐)verursachte mit der Freiheit zu durchdringen, was nötig wäre, um eine Vorstellung von sich als kontinuierender und verantwortlicher Freiheit zu haben. Die einzige Schein-Kontinuität, die dem Plötzlichen eigne, sei die des Schwindels[110], die dann gegeben sei, wenn sich ein Individuum – wie ein Kreisel – stetig um die eigene Achse drehe. Plötzliches und Schwindel sind also dem Dämonischen eigen.

Scheinbar exkursfreudig geht VH auf mögliche künstlerisch-ästhetische Darstellungen des Dämonischen ein. Aufgrund der Nicht-Kommunikativität sei eine mimische Form zu wählen. Ideal aufgenommen sei die Abruptheit des Plötzlichen in einer Ballett-Inszenierung, die das Wesen des Mephisto einfange, wenn dieser „zum Fester hineinspringt und in der Stellung des Sprunges verharrend dasteht!“[111] Es sei der Sprung, der, sofern er „die vollkommene Abstraktion vom Zusammenhang, vom Vorgehenden und Nachfolgenden“[112] leiste, das Dämonische erfasse. Der Sprung ist also Repräsentationsform des Dämonischen. In einem als begrifflich relevant markierten Nachtrag hält VH fest, dass nicht nur das Dämonische der Zeit nach das Plötzliche sei, sondern dass „das Plötzliche seinen Grund stets in der Angst vor dem Guten hat, weil da etwas ist, was die Freiheit nicht durchdringen will.“[113]

Sprung und Schwindel kennt der Leser von Caput 4 bereits. Sie sind Zentralbegriffe von VHs produktivem Entwurf bzw. dessen summarischer Rekapitulation zu Beginn von Caput 2. Wenn VH nun aber mit Recht in Caput 4 behauptet, dass einige dieser Bestimmungen zwingend aus einer Angst vor dem Guten emergieren, dann muss der Entwurf aus Caput 1, §5, eine Angst vor dem Guten voraussetzen: entweder, indem diese Angst schon supralapsarisch angenommen wird; alternativ, indem die Theorie nicht von ihren Artikulationsbedingungen abstrahieren kann, also die Tatsache, dass sie post lapsum artikuliert wird, hier dem Zeitcharakter nach durchscheint.

Ist eine Alternative die erkennbar bessere? Die erste würde die u. a. von Wolfhart Pannenberg vorgebrachte Kritik stützen, dass mit der Angst bereits eine Bestimmung gefallener Subjektivität angenommen wird.[114] Die zweite kann sich in die Reihe jener Passagen fügen, die in Caput 1 eine Selbstartikulation von Angst nahelegen, wobei sie in besonderer Weise unterstreicht, dass der „Zuschlag“ des Faktums in Form noetischer Effekte von Gefallenheit erfolgt.

Da sich die zweite Sichtweise nahtlos an das anschmiegt, was bislang entwickelt wurde, ist sie vorzuziehen. Teilt man sie, ist der von Caput 1 betonte Sprung-Charakter des „Falls“ aber nicht Signum der kausalen Nichterklärbarkeit und logischen Unableitbarkeit des freiheitlich einbrechenden Faktums und gleichsam Freiheitsmarker; er wäre vielmehr eine Funktion der postlapsarischen Abwehr des freiheitseigenen Impulses, die eigene Faktizität mit Freiheit zu durchdringen, und also gleichsam Unfreiheitsmarker.[115]

In Schriften, die auf ein Offenbarwerden zielen, seien „einander entgegengesetzte Verständnisse gleich möglich, sodass der Urteilende offenbar wird darin, wie er urteilt“ – so hieß es oben. Dass auch BA vor eine hermeneutische Grundentscheidung stellt (die nichts mit exegetischem Dissens zu tun hat), sollte deutlich geworden sein. Denn durch Caput 4 wird Caput 1, §5 nach zwei Richtungen lesbar: Wer sich mit theoretischer Faszination bzw. aus bloßer Neugierde der Frage nach der Möglichkeit ursprünglichen Schuldigwerdens hingibt, erhält von VH das, was in BA typischerweise gesehen wird: eine nur annähernde Erklärung, welche mit der Angst jene Zwischenbestimmung einführt, die den Übergang von der Noch-nur-Möglichkeit zur Wirklichkeit psychologisch plausibilisieren soll. Eine zweite Leserichtung setzt ihren Anker dagegen in Caput 4, um den zentralen Gegenstand des VH (die Möglichkeit der Sünde) und die Art, diesen (v. a. in Caput 1, §5 f.) zu durchdenken, auf die gedoppelte Angst zurückzuführen, die gemäß Caput 4 auch VH zuzuschreiben ist. Ihr ist die schöne Theorie nur eine Weise, das existenztransformierende Gewicht des Gedankens an die eigene Schuld auf Abstand zu halten. Das Ergebnis dieser Abwehr mag gediegen[116] sein und prima facie wert, in der Forschung breit gewürdigt zu werden – doch ist eine solche Beschäftigung mit Sünde, wie das Archimedes-Bild nahelegt, fatal.[117]

BA stellt uns so vor eine hermeneutische Entscheidung. Doch bleibt es dabei nicht. Denn der Text macht uns nicht nur zu Zeugen dessen, dass VH in eine Denkungsart verstrickt ist, er verstrickt uns auch in diese, bzw. genauer: er spricht uns an, insofern wir in diese verstrickt sind. Denn: Schon indem uns der Text in unserem Interesse an den von ihm aufgeworfenen theoretischen Fragen anspricht, kommt die im Text problematisierte Neugier des VH unserer eigenen Neugier entgegen. Ihr gilt, wie vorher schon vermutet, in der Tat der „Rapport“. Anders gesagt: Wir sind als Leser immer schon als Komplizen dieser Denkungsart angesprochen – und Komplize sind wir schon, wo wir theoretisch neugierig mit dem Lesen beginnen. Wo die Neugier des VH für uns zum Problem wird, wird es daher immer auch: unsere eigene – wenn wir zulassen, uns im Gesagten zu verstehen.

Damit erhellt sich eine zunächst sonderbare Formulierung des „Wasserzeichens“: dass der Psychologe Verborgenes von uns zutage fördert, um uns in Heimlichkeit und Stille mit uns selbst plaudern zu lassen. Denn: Wo wir uns in der Denkungsart des VH wiederfinden, können wir durchaus sagen, dass wir explizit in ein Gespräch mit dem kommen, was BA (nach Caput 4) auch von uns inszeniert bzw. vertont. Implizit freilich sind wir schon im Gespräch, wo wir uns hingebungsvoll der Lektüre widmen. (Der Ernst klappt wohl das Buch zu und wirft es überwindend weg – wie Wittgensteins Leiter.[118])

IV Etwas wie ein Schluss

Dietz zufolge ist BA dem Gedanken verpflichtet, dass ein Verzicht auf rationale Durchdringung der Sünde überhaupt nur dort legitim sei, „wo die Sünde selber als Grenze ihrer Begrifflichkeit gedacht wird“ [119]. Die Bemerkung erfasst Wesentliches – aber m. E. kann eine Lektüre, wie sie hier vorgeschlagen wurde, am ehesten erhellen, was dies in BA heißt und wie das Gemeinte im Text selbst vollzogen wird. Folgt man der Lektüre, so lotet BA die Sünde, sofern sie im Text „verschwiegenes“ Thema ist, hinsichtlich ihrer noetischen Effekte aus, um sie als etwas zu inszenieren, was ein bestimmtes Interessenrelief stiftet und eine Wichtiges ausblendende Art der Weltoffenheit konstituiert. Sünde setzt sich so selbst eine Grenze ihres Begriffs. In BA setzt sie diese, indem sie die Möglichkeit der Sünde zum theoretischen Faszinosum macht und diese auf eine Weise durchdenken lässt, die es dem Reflektierenden ermöglicht, seiner Schuld zumindest in seinen Gedanken zu entgehen.[120]

Kierkegaards Inszenierung der noetischen Effekte der Sünde ist dabei so konventionell wie innovativ. Konventionell ist sie, sofern sie Sünde als etwas skizziert, was Selbsterkenntnis (im Sinne der Sündererkenntnis) unterminiert und eine „Flucht“ vor sich und der eigenen Faktizität anleitet. Neuartig ist sie, weil Kierkegaard nicht etwa Birnendiebstähle[121], die geschlechtliche Liebe oder die Jagd[122] zum problematischen Faszinosum erklärt, sondern die Theoriebildung über die Sünde selbst. Wenn Adorno sich wundert, dass „auch manifest-theologische Schriften“[123] (er nennt unter anderem BA) als ästhetisch ausgewiesen werden, übersieht er diese Option. Überdies ist die Art, uns als Leser betroffen zu machen, innovativ. In BA werden wir durch unsere mitgehende Sympathie Teil dessen, was die Selbstreflexivität des Textes kritisch trifft – dadurch, dass wir Komplizen sind, ehe wir es bemerken, und dadurch, dass uns der Text in diesem Komplizentum anspricht.

Doch spricht der Text uns nicht nur als unheilvoll Verstrickte an – er spricht uns als jene an, denen eine Transzendenz offensteht; eine Transzendenz, die auf textueller Ebene eröffnet wird, wo uns der Text immer wieder über Irritierendes stolpern lässt. Damit erlaubt er uns, was VH versagt ist: die tiefe Problematik seiner (und unserer) Haltung zu durchdenken. In gewisser Weise zielt daher auch BA auf eine hartes Auflaufen[124] auf das Religiöse, wie es im Gesichtspunkt heißt, was erlaubt, nochmals zu Archimedes zurückzukehren. Denn der BA eigene harte Aufprall liegt dort, wo wir das Bild nicht nur als Vorzeichen für den kommenden Text sehen, sondern wo wir eben „das Hinweisende“ darin verstehen. Dann aber ist Archimedes nicht VH, Archimedes sind dann wir. Wir sind es, wenn wir uns in unserer theoretischen Faszination für den Text etwas vom Leibe halten, um – scheinbar friedlich oder nur im Unfrieden theoretischen Dissenses – von uns selbst und der Last, die wir an uns tragen, abzusehen. Doch in diesem Absehen zehren wir von dieser Faktizitäts-Last, die sich darin ausagiert: Sie prägt unser Denken und bringt uns um das (gute) Leben.[125] Es geht, so Kierkegaard in einer Rede von 1844, nicht darum, „durch müßige Reden den Menschen Stoff zu geben zu müßiger Überlegung“[126], sondern ums Begreifen, „die Gefahr gehe ihn an“[127], und zwar jeden höchstpersönlich – auch BA zielt darauf. Wo es BA gelingt, uns dieses Deiktische verstehen zu lassen, versetzt es uns nicht in Angst. In dieser liegen wir gemäß dem Text schon. Doch wird diese Angst dann potenziert, um – so verheißt es Caput 5 – „ein dienender Geist“[128] zu werden; zumindest dann, wenn wir bereit seien, die Möglichkeiten „redlich“[129] zu verwalten.

Gibt die hier geleistete Interpretation Aufschlüsse darüber, was diese redliche Verwaltung heißen könnte? Durchaus, und hier scheint besonders die Möglichkeitsverwaltung im Kontext der Angst vor dem Bösen relevant, die durch eines geprägt ist: durch das Ringen um eine mir selbst je mögliche Aufhebung des Bösen (bzw. der faktischen Sünde), was entweder in Verleugnung bzw. die Transformation in eine bloße Möglichkeit mündete – neben ihr kennt VH noch eine (faktisch je ohnmächtige) Reue. „Unredlich“ kann diese „Verwaltung“ genannt werden, wenn und weil mindestens eine Möglichkeit nicht zugelassen wird: die Möglichkeit, dass mir angesichts dieses Faktums überhaupt nichts möglich ist, sondern die mir eigentümliche Möglichkeit die Anerkennung meiner Ohnmacht ist. Hält man die von dieser letzten Möglichkeit abstrahierende Art der Verwaltung als „unredliche“ fest, so wäre redlich jene, die auch die letztgenannte Möglichkeit zulässt, bzw. die (wie es ein Text des Jahres 1844 ausdrückt) für die Dialektik des Möglichen offen ist: dafür, dass, wo Beliebiges möglich ist, auch möglich ist, dass mir nichts möglich ist. Kierkegaard führt zu dieser Dialektik an: „Wenn einem dies einmal beigebracht wurde, dann werden wir schon Platz machen für Religiosität, und dann wohl auch für das Christentum.“[130]

Warum Caput 5 die Angst als „lehrreich“ und als Wegbereiterin zum Glauben reflektieren kann, zeichnet sich dann ab. Denn erst diese existenziell (und nicht theoretisch) zugestandene Mir-Unmöglichkeit (welche das existenztransformierende Gewicht des Sünden-Gedankens in ihrer Weise unterstreicht) macht den Gedanken Gottes in seinem eigentümlichen Gehalt fassbar: als den Gedanken dessen, der alles vermag, während ich je gar nichts vermag.[131] Und erst vor dem Horizont des angstvollen Zulassens der Möglichkeit, gegenüber dem, der alles vermag, auch alles verspielt zu haben und mit Reue zu spät zu sein[132], kann sich die Möglichkeit existenziell abzeichnen, dass dieser Andere sich eben dennoch „um den Einzelnen kümmern will und die geringste Einzelheit bei ihm, ungeachtet er alles verspielt hat.“[133]

Die dienende Angst zeigt sich hier als Grundlage zur Aneignung und zum Verstehen des Christlichen im eigentlichen Sinne.[134] Damit übernimmt sie strukturell die Funktion, nach der Gnade ‚seufzen und lechzen‘ zu lassen, „die in Christus vor Augen gestellt wird“[135], die nach Luther das Gesetz in seinem usus theologicus seu spiritualis[136] inne hat. Passend lesen wir daher auch bei Kierkegaard:

Vortrefflich ist, was Luther sagt …: dass diese ganze Lehre (von der Versöhnung, und im Grunde das ganze Xstt.) auf den Kampf des geängstigten Gewissens bezogen werden muss. Nimm das geängstigte Gewissen fort, so kannst Du auch die Kirchen schließen und sie zu Tanzplätzen machen. Das geängstigte Gewissen versteht das Xstt. Auf die Weise versteht ein Tier, wenn Du ihm einen Stein und ein Brot vorlegst, und das Tier hungrig ist: dann versteht das Tier, dass das eine essbar ist, das andere nicht. Auf die Weise versteht das geängstigte Gewissen das Xstt.[137]

Der Aufsatz ist im Rahmen des Forschungsprojektes Kierkegaards Angst-Abhandlung als gottesfürchtige Satire, oder die epistemische Unfreiheit im stillen Gespräch mit sich entstanden. Für die Förderung danke ich der Fritz Thyssen Stiftung.

Published Online: 2023-07-11
Published in Print: 2023-07-11

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Downloaded on 26.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/kierke-2023-0003/html
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