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Natürlicher Wille, Zwang und Anerkennung – Medizinethische Überlegungen zum Umgang mit nicht selbstbestimmungsfähigen Patienten in der Psychiatrie

Natural will, coercion and recognition – ethical considerations regarding incompetent patients in psychiatric hospitals

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Zusammenfassung

In der neueren deutschen Rechtsprechung wurden die Anforderungen an die rechtliche Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen verschärft und der Berücksichtigung des natürlichen Willens nicht selbstbestimmungsfähiger Patienten ein höherer Stellenwert eingeräumt. So ist der behandelnde Arzt etwa verpflichtet, einen letzten Versuch zu unternehmen, eine auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erhalten. In Anbetracht dessen, dass ein solches Gespräch im Kontext informellen Zwangs stattfindet, ergibt sich ein medizinethisches Dilemma: Entweder wird eine Zwangsbehandlung durchgeführt und somit direkter körperlicher Zwang angewendet, oder eine Zustimmung wird erzielt, jedoch gegebenenfalls um den Preis, dass informeller Zwang – z. B. in Form einer Drohung, Täuschung oder Manipulation – ausgeübt wird. Es wird dafür argumentiert, dass die Antwort auf dieses Problem im philosophischen Begriff der Anerkennung zu finden ist, der im vorliegenden Kontext als eine spezifische Haltung aufgefasst wird und sich in einem respektvollen Umgang des Klinikpersonals mit den betroffenen Patienten zeigt. Die Ausübung von (informellem) Zwang ist in solchen Fällen kaum zu vermeiden. Dennoch kann man in dieser Situation besser oder schlechter mit dem Patienten umgehen – und besser heißt hier, dem Patienten Anerkennung entgegenbringen.

Abstract

Definition of the problem

In recent German jurisprudence, the requirements for compulsory treatment were tightened up and more emphasis is laid on the consideration of the so-called “natural will” of incompetent patients. Before taking recourse to compulsory treatment, physicians are accordingly obliged to make a last attempt to obtain an assent based on trust. Taking into account that such an attempt tends to take place against a background of informal coercion, an ethical dilemma arises: either physicians administer compulsory treatment and hence use straightforward physical coercion or they succeed in obtaining a trust-based assent yet only at the price of using some form of informal coercion, such as threatening, deceiving or manipulating.

Arguments

We argue that the solution to this dilemma can be found in the philosophical concept of recognition. In the current context, recognition should be understood as a specific attitude that manifests itself in a respectful interaction with patients on the part of the hospital staff.

Conclusion

Although in many cases of the type described above it is impossible to completely refrain from using (informal) coercion; in these cases one can nevertheless interact in a better or in a worse way with patients – and the better way is to give recognition to patients.

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Notes

  1. Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird nur die männliche Form verwendet, obwohl beide Geschlechter gemeint sind.

  2. Es handelt sich hier um ein sog. praktisches Dilemma, bei dem sowohl eine spezifische Handlung als auch deren Unterlassung eine zumindest ungünstige Konsequenz zur Folge haben. Siehe dazu etwa: Quante (2012, S. 5).

  3. Im vorliegenden Beitrag wird der in der Medizinethik gebräuchliche Begriff der Selbstbestimmungsfähigkeit verwendet. Wir betrachten ihn als synonym mit dem entsprechenden juristischen Begriff der Einwilligungsfähigkeit.

  4. Eine Problematisierung des natürlichen Willens findet sich u. a. bei Jox (2013).

  5. Siehe auch: Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) vom 23.03.2011: 2 BvR 882/09, Rn. 59.

  6. BVerfGE vom 23.03.2011: 2 BvR 882/09, Rn. 58 (Hervorhebung durch die Autoren). Vgl. außerdem die folgenden Landesgesetze: § 20, Abs. 4, Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) Baden-Württemberg vom 25.11.2014 (GBl. S. 534) und § 18, Abs. 5, des am 06.12.2016 neu gefassten Psychisch-Kranken-Gesetzes (PsychKG) Nordrhein-Westfalen (GV. NRW. 2016 S. 1062).

  7. Zudem wird darauf hingewiesen, dass die Entwicklung von Kriterien notwendig ist, nach denen die genannten Bemühungen als gescheitert abzubrechen sind und eine Zwangsbehandlung einzuleiten ist (DGPPN 2014, S. 1428).

  8. Im vorliegenden Beitrag kann an theoretischem Hintergrund nur eingebracht werden, was zum Verständnis der hier dargestellten These unbedingt notwendig ist. Eine einschlägige Theorie von Anerkennung ist z. B. die Theorie Honneths (Honneth 2003).

  9. Im vorliegenden Beitrag wird auf den traditionsreichen und sehr komplexen philosophischen Begriff der Person nur insoweit eingegangen, wie es für die Argumentation unbedingt notwendig ist. Für eine ausführliche Darstellung siehe z. B. Sturma (2001).

  10. Der Personenbegriff wird im vorliegenden Beitrag ausschließlich deskriptiv verwendet. Zur Unterscheidung zwischen deskriptivem und normativem Personenbegriff siehe Quante (2007, S. 1–3); Ikäheimo (2014, S. 19).

  11. Diese Terminologie ist Ikäheimo (2014) entnommen, siehe insbesondere Ikäheimo (2014, S. 19).

  12. Diese Formulierung ist bewusst grob gehalten. Ausgeklammert sind u. a. die Fragen, ob Anerkennung als kausal oder ontologisch konstitutiv betrachtet wird und ob sie konstitutiv für denjenigen ist, der anerkannt wird, für den Anerkennenden oder für beide?

  13. Fichte entwickelt seine Anerkennungstheorie in den §§ 1–7 seiner Grundlage des Naturrechts (Fichte 1979 [1796], S. 17–91).

  14. Die These Fichtes, Kinder seien zunächst potenzielle, nicht schon aktuale Personen, ist entwicklungspsychologisch zu verstehen. Hier darf nicht das Missverständnis entstehen, unser Beitrag würde davon ausgehen, dass Kinder keine Personen in einem rechtlichen Sinne wären.

  15. Streng genommen ist diese Redeweise unterbestimmt. Ikäheimo unterscheidet zwischen Einstellungen, was am ehesten dem hier verwandten Begriff der Haltung entspricht, komplexen Gefügen von Einstellungen und weiteren mentalen Zuständen, spezifischen interpersonalen Relationen und institutionellen Kontexten (Ikäheimo 2014, S. 11).

  16. Siehe auch DGPPN (2014, S. 1430).

  17. Die Leitlinie ist mittlerweile abgelaufen und zum Update als S3-Leitlinie Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen angemeldet. Die Fertigstellung wird für 2018 erwartet. (Siehe: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/038-022.html, zugegriffen: 22. Mai 2017.).

  18. In den Niederlanden ist aufgrund von rechtlichen und kulturellen Unterschieden Isolierung weitaus häufiger als Zwangsmedikation, während in Deutschland vergleichsweise wenig isoliert wird (Steinert et al. 2014).

  19. Hier darf nicht das Missverständnis entstehen, dass schwer kranken und aktual nicht selbstbestimmungsfähigen Patienten das Personsein in einem allgemeineren Sinne oder gar in einem rechtlichen Sinne abgesprochen werden soll.

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Wir danken unseren Kollegen Astrid Gieselmann und Matthé Scholten für wertvolle Anregungen zu diesem Beitrag.

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A. Nossek, J. Gather und J. Vollmann geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.

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Nossek, A., Gather, J. & Vollmann, J. Natürlicher Wille, Zwang und Anerkennung – Medizinethische Überlegungen zum Umgang mit nicht selbstbestimmungsfähigen Patienten in der Psychiatrie. Ethik Med 30, 107–122 (2018). https://doi.org/10.1007/s00481-018-0478-8

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