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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter March 11, 2024

Das a-spirierte Selbst

George Pattison und die Reflexion spiritueller Erfahrungen

  • Katharina Opalka ORCID logo EMAIL logo

Zusammenfassung

Die Rezension behandelt George Pattisons Phänomenologie eines christlichen, a-spirierten Leben im ersten Band seiner dreibändig angelegten Philosophy of Christian Life. Dabei wird insbesondere Folgendes fokussiert: Die Art, wie Pattison die von Franz von Sales entlehnte Person der Philothea als Figuration frommen Lebens nutzt; die Frage nach der Möglichkeit von a-spirierten Leben in institutionellen Machtstrukturen und die medio-passive Konstitution des devout life.

Abstract

The review deals with George Pattison’s phenomenology of a Christian, a-spirited life that he establishes in the first volume of his three-volume Philosophy of Christian Life. It focuses in particular on the following: The way in which Pattison uses the person of Philothea, borrowed from Francis de Sales, as a figuration of devout life; the question of the possibility of a-spirited lives in institutional power structures; and the medio-passive constitution of devout life.

1 Anlage und Struktur A Phenomenology of the Devout Life

George Pattison legt mit seiner dreibändigen Reihe eine Philosophy of Christian Life vor. In dieser Programmatik in den Untertiteln der drei Bände sind schon die zwei Perspektivierungen enthalten, unter denen in diesem Unterfangen die Texte und Themen der christlichen Tradition in den Blick kommen: Das ist zunächst die Perspektivierung durch die Phänomenologie, die als dezidiert philosophische Methodologie herangezogen wird. Pattison analysiert das christliche Leben bewusst aus einer philosophischen Haltung heraus: Der Fokus richtet sich damit auf den Wahrheitsgehalt existentieller Erfahrungen und profiliert diese z. B. gegenüber Diskussionen um die propositionale Wahrheit dogmatischer Gehalte (vgl. I 43; 55–58 und als Schlussfolgerung I 202–206)[1]. Dieser theoretische Rahmen korrespondiert mit der zweiten Perspektivierung durch den Materialbestand: Pattison behandelt nicht das Christentum oder Christ*innen an sich, sondern nimmt dezidiert das christliche Leben in den Blick: Damit ist „Christ-Sein“ als Gegenstand der phänomenologischen Analyse bei Pattison keine abstrakte Kategorie, sondern ein existentieller, sich dynamisch verändernder, situativer Prozess des „practising Christian“ (I, 1). Diese Prozesshaftigkeit des christlichen Lebens spiegelt Pattison im Aufbau der drei Bände wieder: Auch wenn es – so Pattisons schematische Einteilung – im ersten Band um die Aspiration eines frommen Lebens, im zweiten Band um die Artikulation dieses Lebens (The Rhetorics of the Word) und im dritten Band um die kosmologisch-metaphysischen Konsequenzen dieser Lebensweise (The Metaphysics of Love) geht, sind die drei Bände in ihrer Verweisstruktur dynamisch; für sie gilt, „that the end is already anticipated in the beginning“ (I, 2).

So unternimmt Pattison es – in allen drei Bänden – „to interpret the character of the God-relationship” (I, 43) innerhalb der phänomenologisch gesetzten Grenzen der menschlichen Erfahrungen und des Bewusstseins. Für den ersten Band schränkt Pattison dieses Ziel sofort ein und fokussiert: „We shall not reach that ultimate goal in this first part of this philosophy of Christian life. The task here is limited to identifying and describing how the devout self or soul understands itself in its God-relationship” (I, 43). Die methodologische Besonderheit von Pattisons Vorgehen ist nun, dass er die Grundannahme des Werkes Philothea: Anleitung zum frommen Leben[2] des französischen Mystikers und Kirchenlehrers Franz von Sales (1567–1622) aufgreift. Pattison grenzt sich – nach einem pointierten historischen Abriss der Religionsphänomenologie – dezidiert davon ab, eine universalistische oder essentialistische Theorie des devout life zu entwerfen oder Religion als allgemein natürliches oder kulturelles Phänomen zu verstehen (vgl. I, 49 f.). Vielmehr greift er mit von Sales „Anleitung“ die Beschreibung eines distinkten Phänomens als Basis seiner Analyse heraus, im Sinne von Nelson Pike’s „phenomenography“ (I, 50). Von Sales – und damit Pattison – perspektivieren den Blick auf Glaubenserfahrungen und Spiritualität durch die Frage nach der Lebbarkeit dieser Phänomene in den je situativen Kontexten, in die sich einzelne über die gesamten Lebensphasen gestellt finden: Die (normative) Grundüberzeugung, die beide Werke eint, ist, dass ein devout life in jedem lebensgeschichtlichen Kontext geführt werden kann. Pattison durchdenkt diese Prämisse nun in ihren existentialistischen und subjektivitätstheoretischen Konsequenzen: Während bei von Sales der Fokus auf der konkreten Durchführung von Frömmigkeitspraxen im Alltag liegt, spürt Pattison der Frage nach, was es für die Konstitution des Selbst unter existentiellen Bedingungen bedeutet, dass es sich auf diese Frömmigkeitspraxen bezogen findet und in solchen Praxen eine Transformation erfährt oder diese aus der Anlage der Praxen heraus erwartet (vgl. I, 62 f.).[3]

Entsprechend nehmen die folgenden Kapitel unterschiedliche Dimensionen desjenigen Selbst in den Blick, das ein devout life führen möchte: Es geht bei Pattison, wie auch schon bei von Sales, eigentlich nur um solch ein Selbst, das den Prozess des devout life vertiefen will oder überhaupt erst anstrebt, in ihn einzutreten (vgl. I, 67). Impliziert ist jedoch, dass damit jegliches Selbst im Christian life beschrieben ist: Denn ein outcome des devout life im Sinne eines dauerhaft abgeschlossenen Prozesses kann unter existentiellen Bedingungen nicht erreicht werden (vgl. I, 67; sowie die kontinuierliche Reflexion der sich durch das gesamte Werk ziehende Metapher des „Pilgerns“, vgl. I, 197). Entsprechend beginnt Pattison die Betrachtung des Selbst mit dem „Aspiring Self“ (I, 67–85) und endet in „The Self in and Before God“ (I, 182–205). Denn gerade der phänomenologische Blick, so Pattisons Anspruch, der sich in Hinblick auf Gott nicht um propositionale Wahrheitsgehalte bemüht, kann die Aussagen, die das Selbst des devout life (in seiner Literatur) über Gott trifft als Aussagen über Gott ernstnehmen – und sie nicht z. B. vorschnell als psychologische oder soziologische Konstrukte interpretieren (vgl. I, 58). Devout life gewinnt damit bei Pattison eine ambivalente Qualität, insofern es sowohl schon jetzt konkret durchgeführte Praxis als auch ein Sehnsuchtsbegriff dieser Praxis ist, um den in jedem Moment seines Vollzuges gerungen werden muss. Auch für die Betrachtung des Selbst im devout life gilt mit dieser religionsphilosophisch grundierten Gliederung also, die übergeordnete Struktur der Reihe auf den einzelnen Band übertragend, that the end is already anticpated in the beginning.

Im Folgenden werde ich drei Aspekte aus Pattisons Betrachtung des Selbst im devout life herausgreifen, die besonders erhellend für aktuelle, spiritualitätstheoretische Diskurse sowie konkrete christlich Praxen sind: Das ist zunächst die Art und Weise wie Pattison mit Philothea eine Figuration nutzt, um die prozesshafte Unabgeschlossenheit des devout life zu narrativieren; dann die Frage nach den Semantiken der Machtstrukturen, in denen sich das Selbst des devout life orientieren muss, und schließlich die Kategorie der Mediopassivität als grundlegend für Praxen des devout life.

2 Philothea als Figuration des devout life

Es ist eine Philosophie des movement, die Pattison für das Christian life vorlegt, und die er in der Anlage aller drei Bände sowie in Band 1 auch auf struktureller Ebene nachvollzieht. Das bedingt die Frage danach – damit eigentlich die Themenstellung des zweiten Bandes vorwegnehmend – wie diese Prozessualität des Selbst im devout life versprachlicht werden kann: Die Dynamik und die Verbindung der Ebenen von (Selbst-)Reflexivität und nachvollzogener Lebenswirklichkeit mit all ihren je spezifischen, situativen, sich verändernden Anfordernissen werden nun von Pattison in narrativierter Form in die theologische Reflexion eingetragen. Das geschieht über die Figuration der Philothea, die Pattison bei von Sales aufgreift und transformiert: Bei von Sales ist Philothea die fiktionalisierte Gesprächspartnerin, für die von Sales in der Rolle des geistlichen Begleiters die Anleitung für ein frommes Leben schreibt. Bei Pattison hingegen ist Philothea die figurierte „geistliche Führerin“ (spiritual guidance) durch die phenomenology of the devout life, der sich die Lesenden anschließen können. Nachdem Pattison den religionsphilosophischen Hintergrund dargelegt hat (Kapitel 1), die methodologischen Prämissen geklärt (Kapitel 2) und das Setting des Frankreich des 17. Jahrhunderts vorbereitet hat (Kapitel 3, bis I, 75), lässt Pattison Philothea als personifizierte Version des Selbst, das sich um ein devout life bemüht, auftreten (vgl. I, 77). Diese Philothea begegnet nun, auf ihrer Suche nach der Bedeutung und der Möglichkeit des devout life, biblischer und spiritueller Literatur, existentiellen Phänomenen, religionsphilosophischen Konzepten sowie einem breiten „cast“ aus Philosophie- und Theologiegeschichte, wie Hartmut von Sass auch für den zweiten Band bemerkt,[4] und tritt mit diesen in den Dialog.

Pattison konstruiert seine Phänomenologie also so, dass sie als Lebensgeschichte erzählt wird, der die Lesenden folgen können – bis hin zu solchen Passagen, in denen die Narrativierung phänomenologischer Erfahrungen fast schon im Sinne einer performance in das Abenteuer des devout life mit hineinreißt:

But what about Philothea? How is she going to find her way through this maze of intrigue and malice, how is she to avoid the darts and arrows of ambition and envy, and how is she to avoid becoming their servant? (I, 129 f.)

Im Durchgang durch das Werk und in diesen Begegnungen verwandelt sich Philothea von einer am Anfang sehr stereotypen Figur des devout life hin zu einer immer komplexeren und mit mehr narrativer Erfahrung gefüllten Figuration, in der auch Ambivalenzen erzählt werden können (vgl. I, 182).[5] Auf der sprachlichen Ebene erweist sich genau darin die nach Pattison für das devout life grundlegende Paradoxie (vgl. I, 181; I, 195 f. u. a. sowie profiliert in Bezug auf den Willen I, 191 ff.), dass Philothea dann am lebendigsten narrativiert erscheint, wenn es um ihr annihilated self geht (Kapitel 9), dass sich nicht anders als in and before God verstehen kann (Kapitel 10) – ohne jedoch als komplexes Selbst in dieser Einheit aufzugehen (in Abgrenzung zur Mystik, vgl. I, 182–191). Die Figuration erweist sich somit bei Pattison als angemessene Form einer Phänomenologie des devout life, indem sie das dialogisch-prozesshafte spiritueller Erfahrungen abbildet und die Unabgeschlossenheit und Offenheit der Narrativierungen solcher Erfahrungen auffängt: Das devout life ist von anderen holistischen Praktiken darin unterschieden, so Pattison, dass seine ganzheitlichen Erfahrungen durch einen relationalen Charakter gekennzeichnet sind, der sie dauerhaft prozesshaft bleiben lässt (vgl. I, 102 f.).

3 Das relationale Selbst in Spiritual Guidance

Denn das Selbst, das sich im Rahmen des devout life erzählt, ist schon in der Figuration der Philothea nicht solipsistisch gedacht, sondern grundlegend durch Beziehung konstituiert. Das ist zunächst natürlich die Gottesbeziehung, auf die Pattison ja sein ganzes Werk hin ausrichtet. Das ist darüber hinaus die Selbstrelationalität des Selbst, die Pattison, in Aufnahme von Søren Kierkegaard, als grundlegende prozesshafte Struktur jedes Aktes des Selbst und damit auch des devout life ansieht (vgl. I, 104 f.). Für das devout life ist jedoch auch das Eingebundensein in eine spezifische interpersonale Beziehung konstitutiv: Bei von Sales ist Philothea nicht ohne ihren spirituellen Führer zu denken, als der durch die Anleitung von Sales selbst auftritt. Und auch wenn Pattison das nicht für seine eigene Figuration der Philothea direkt in Anspruch nimmt, so konstatiert er im einleitenden Kapitel zum Selbst, dass ein devout life nicht ohne solche spiritual guidance gedacht werden könne. Pattison bezieht sich dabei, in Aufnahme von Emmanuel Levinas, insbesondere auf die von uns selbst nicht zu steuernden Lernprozesse in spirituellen Praxen des devout life, die eine spiritual instruction notwendig machen (vgl. I, 40–42). Pattison hält im Eingangskapitel fest, dass in solchen Lehrbeziehungen das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie komplex gedacht werden und Machtstrukturen mit einbeziehen muss (vgl. I, 25–42), für die gilt: „[T]he role of language is crucial“ (I, 41). So vermerkt Pattison z. B. in Kapitel 3 für die Analyse der „Philothea“, dass sich die zeitgeschichtliche Gebundenheit des Werkes schon daran erweise, dass die impliziten Machtstrukturen zwischen Philothea und von Sales ein deutlich anderes Verständnis von gender anzeigen, als es heute vorausgesetzt werden kann (vgl. I, 68 f.).

Das Verhältnis des Selbst zu den ihn umgebenden Machtstrukturen kann als ein sich implizit durchziehendes Thema der Betrachtung des devout life bei Pattison verstanden werden. Pattison setzt nun die Rede von der Liebe (die göttliche Liebe und Philotheas Liebe zu Gott) problembehafteten Machstrukturen entgegen, insofern in dieser Liebe in jedem Moment freedom und commitment bzw. Autonomie und Heteronomie zusammenfielen, im Unterschied zu einem chronologischen Verständnis einer Liebesbeziehung, bei dem in einem Akt der Freiheit die eigene Autonomie zugunsten der Heteronomie einer Beziehung aufgegeben werde (vgl. I, 108). Er geht dann insbesondere der Frage nach, wie solch eine Freiheit gewährende Liebe voluntativ gefunden, erkannt und bewahrt werden kann (vgl. I, 109 f.). Pattison weiterführend kann nun – die Kritik Niklas Luhmanns am Liebesbegriff[6] auf von Sales anwendend – das problematische Potential des Liebesbegriffes in den Blick kommen, der es auch in transzendenten Wendungen verunmöglichen kann, situative Machtstrukturen (in interpersonalen Beziehungen) in den Blick zu nehmen, wenn diese sofort als „Liebe“ interpretiert und legitimiert werden. Das ist bei Pattison in der Analyse des ambivalenten Bildes des Flammenschwertes der Liebe (vgl. I, 112), sowie in der Kontrastierung der Liebessemantik mit der Semantik des Krieges in Bezug auf devout life als spiritual warfare (vgl. I, 145 f.) schon angelegt. Wenn das Narrativ der Liebe kein Korrektiv findet, bietet es – analog zu den Missverständnissen und Unsicherheiten in der Alltagssprache, die ausgenutzt werden können (vgl. I, 127 f.) – die Gefahr, dass Narrativierungen spiritueller Erfahrungen und des devout life unter diesem Narrativ für Manipulationen anfällig sein können. Diese können in spiritual instruction in sinisterer Absicht oder sogar unabsichtlich ausgenutzt werden kann. Denn was Pattison nun für den Umgang von Philothea mit der Welt unter der von René Girard entlehnten Kategorie der mimetic rivalry als eine Tendenz hin zur Gewalt in interpersonalen Beziehungen entwickelt (vgl. I, 118), muss genauso auch für die Beziehungsstrukturen in spiritual instruction wahr- und ernstgenommen werden. Das hat eine hohe Anschlussfähigkeit an aktuelle spiritualitätstheoretische Diskurse zu Macht und Machtmissbrauch in geistlichen Begleitungen.[7]

4 Mediopassivität und erschöpfte Spiritualität

Die Machtstrukturen der spiritual instruction werden noch einmal relevanter für das devout life, insofern Pattison die Reflexion über die spirituellen Erfahrungen als unbedingt notwendig für das Verständnis des Selbst von sich selbst herausstellt, insofern sich dem Selbst ein Teil dieser Erfahrung zunächst verschließt. Eine wichtige Weichenstellung, die Pattison den einzelnen Dimensionen des Selbst im Anschluss an die Überlegungen zu autonomy und volitional necessity von Harry G. Frankfurt voranstellt (vgl. I, 36–39), ist die Frage nach Aktivität oder Passivität: Wenn das devout life wirklich gelebt wird, dann stellt sich einerseits übergreifend, andererseits situativ für jeden einzelnen Moment neu die Frage, ob die gelebte Frömmigkeitspraxis gerade eher aktiv oder eher passiv ist bzw. vom Selbst so empfunden wird:

[T]he notion that a certain passivity might be integral to what it means to be a self could be seen as a way of opening up a necessary element of distance in the self’s relation to itself, giving it, as it were, space to breathe. But what could that mean? Are we talking about something like a dialectical interplay between active and passive elements in the self, a never-ending movement of reciprocity? Or are we looking for something like the psychological equivalent of the ancient grammarians’ medio-passive voice, something that is neither purely active nor purely passive but that has elements of both [...]? (39)

Für die Systematische Theologie schlägt Cornelia Richter, ebenfalls in Aufnahme des Konzeptes der Mediopassivität der Philosophin Beatricé Han-Pile (vgl. I, 195, Fn. 18), folgende Überlegungen zum Verhältnis von Aktivität und Passivität als eine Heuristik christlicher Praxen vor: „A mediopassive exercise of agency is given, when agents understand themselves as engaged with an internal process they do not control and respond without seeking control over this processʼ”.[8] Das sind im Wesentlichen solche Prozesse, die durch ein Machtungleichgewicht gekennzeichnet sind und mit denen Erfahrungen der Ohnmacht einhergehen (können).[9] Ausgehend von dieser Machtstruktur konstatiert Richter deswegen: “[P]henomena related to the mediopassive are likely to imply aspects of transcendence and therefore, they may be especially open for experiences of religion and spirituality.”[10]

Dieses Verständnis von Mediopassivität als zentraler Kategorie spiritueller Erfahrung berührt nun die Normativität des aspiring self bei Pattison, das sich eben aus diesem strebenden Prozess nicht entziehen kann, sondern diesem Prozess bei all seiner aktiven aspiration gleichzeitig so ausgesetzt ist, dass es ihn nur medio-passiv aushalten kann – und aushalten muss. Das beschreibt Pattison in der Semantik des Kampfes, nämlich z. B. als struggle (vgl. I, 79) oder als Holy War (I, 146–148), für die gilt: „The self that overcomes itself is also the self that is overcome“ (I, 145). Pattison charakterisiert das Selbst im devout life im Aufgreifen der elementaren Grammatik Paul Tillich entsprechend als „in spite of“ (I, 80). Mit dieser Semantik profiliert Pattison nun jedoch implizit den Modus des Überwindens vor dem des Aushaltens als Ausrichtung des devout life. In dieser Haltung versteht das Selbst bestimmte Phänomenen grundsätzlich als zu überwindende Zustände, die eben gerade nicht medio-passiv ausgehalten werden, sondern aktive Handlungen erfordern, so wenn Pattison schreibt: „Even in resignation, Philothea ist not simply a resigned self, she is a fervent, ardent self, ever seeking its best“ (I, 80), im Aufgreifen der Abwertung der akedia/sadness bei von Sales (vgl. I, 124 f.), in der Profilierung der repentance (vgl. I, 142–144), vor allen Dingen aber in der Verknüpfung von a-spiration mit e-sperance, die eine Haltung des looking forward vor der abwartenden, rückblickenden Reflexion profiliert (vgl. I, 198). Pattison vollzieht im wechselnden Gebrauch der Semantiken und in der jeweils wechselnden Profilierung der (medio-)passiven überwältigenden Aspekte des devout life und der aktiv überwindenden aspiration in den einzelnen Praxen das sachlogische Problem nach, das sich aus einem mediopassiven Verständnis von Spiritualität ergibt: Die Prozesshaftigkeit einer mediopassiven Erfahrung kann in der Reflexion, jenseits poetischer Sprachformen, die Ambivalenz dieser Erfahrung nicht so aufrecht erhalten, wie es eigentlich angemessen wäre (was bei Pattison als Ausgangspunkt und Überleitung zu Band 2 schon in der Einleitung vorweggenommen wird, vgl. I, 1).

5 Abschließende Fragen

Pattison legt eine phänomenologische Reflexion und Theorie christlichen Lebens vor, die in ihrem Bezug auf die Dynamik des devout life für das Selbst grundlegend prozesshaft gedacht ist: Den Möglichkeiten und Herausforderungen des Selbst diesen Prozess zu vollziehen, spürt Pattison auch auf der Ebene der Form und der sprachlichen Gestaltung der Bände, insbesondere in der Figuration der Philothea nach, die Lesende in den Prozess der phenomenography des devout life mit hinein nimmt.

(1) An die Gestaltung der Bände schließt sich die erste Frage an, die auf dem Interesse Pattisons an der Anschlussfähigkeit seiner phänomenologisch gewonnenen Erkenntnisse aufbaut: Wie kann die Phänomenologie des devout life produktiv in interdisziplinäre Diskurse, insbesondere mit den empirisch arbeitenden Disziplinen, eingebracht werden? Dass Pattison mit Philothea der Sachlage angemessen eine komplexe narrative Figuration vorlegt, deutet ja schon darauf hin, dass sich die Prozessualität des devout life schematischen Kategorisierungen und Operationalisierungen zu entziehen scheint. Wie können solche Überlegungen zum Selbst, für das gilt the end is already anticpated in the beginning, dennoch für z. B. qualitativ-empirische Erhebungen zu produktiven Wirkungen eines devout life fruchtbar gemacht werden?[11]

(2) Der gesamte erste Band wird von der impliziten Prämisse geprägt, dass ein devout life im Sinne christlicher Lebensführung erstrebenswert sei. Auch dann, wenn diese Prämisse geteilt wird, kann vor dem Hintergrund der Überlegungen zu Semantiken der Macht und der Erschöpfung im medio-passiven Aushalten des (temporären) Scheiterns der Aspiration des Selbst überlegt werden, wie die destruktiven Qualitäten des devout life selbst noch stärker in den Blick kommen können. Das kann zunächst im Fokus auf z. B. problematische Institutionalisierungen von Spiritualität oder Formen spiritueller Übergriffigkeiten insbesondere in geistlichen Begleitungen geschehen (vgl. bei Pattison I, 199 f.). Ebenso kann dieser Perspektivwechsel auch den Raum eröffnen, die Anfrage an spirituelle Praxen im Alltag mitzubedenken, die mit Gretchen Ronneviks populären Titel „Ragged. Spiritual Disciplines for the Spiritually Exhausted“ einen hohen Anklang gefunden hat:[12] Ohne Ronneviks Prämissen und Lösungsvorschlägen zwingend zu folgen, ist es m. E. notwendig, die Erschöpfung zu thematisieren, die sich aus dem ständigen Prozess der Aspiration ergibt. Das gilt insbesondere für diejenigen Menschen, deren Alltag von vielfältigen Aufgaben und Belastungen geprägt ist, wenn z. B. inmitten von Caretätigkeiten in der Familie, Berufsleben, Beziehungspflege und Mental Workload ein devout life angestrebt wird. Wenn die mediopassive Struktur spiritueller Erfahrungen ernstgenommen wird, dann muss solchen Zuständen nicht zwingend mit Aktivität oder in der Haltung des Überwindens begegnet werden, sondern vielmehr kann das Scheitern sämtlicher Praxen und Versuche ein devout life zu führen, als ein inhärenter Teil dieses devout life verstanden und integraler Teil der phänomenologischen Betrachtung werden. Könnte es, mit dem von Pattison entwickelten komplexen Verständnis des prozesshaften Selbst, als eine Art (postmoderner) Ergänzung zu von Sales eine „Anleitung im Scheitern des frommen Lebens“ geben, in der genau das Aushalten dieses (vermeintlichen) Scheitern als medio-passiver Erfahrung profiliert wird?

(3) Pattison wendet sich der Literatur des devout life zu, um die sich darin erweisende Rede von Gott als für das Selbst relevante Rede ernstzunehmen, denn Sprache ist, mit Pattison, in aller Ambivalenz crucial für das devout life. Mindestens ebenso gilt dieses jedoch auch für die Atmosphären in spirituellen Settings. Das devout life lebt von solchen Formen, die über die Sprache hinausgehen und die den Prozess des Selbst mal mehr, mal weniger merklich prägen, wie Pattison in dem kurzen Diskurs zur räumlichen Gebundenheit des Selbst andeutet (vgl. I, 94–99). So kann durch die Kerze, die beim abendlichen Gebet in der Stille angezündet wird, die Reflexion auf die Ambivalenzen von Licht, Dunkelheiten und das Feuer des Selbst, das zwischen diesen im Feuer des Geistes flackert und aufleuchtet (vgl. I, 84), sinnlich erfahrbar werden. Wie könnten nun weitere dogmatische Fragestellungen, in Erweiterung dessen, wie Pattison es für die Christologie in der Praxis der Demut vorführt (vgl. I, 152–160.177), für das sich zwischen Sprache, Frömmigkeitspraxen und Atmosphären prozesshaft vollziehende Selbst des devout life erschlossen werden? Insbesondere wäre das die Frage nach der Konkretion des Ortes der Pneumatologie in Pattisons Entwurf (anschließend an die Überlegungen zu Hegels Phänomenologie des Geistes, I, 64 f., und das Kapitel zur „A Spirituality of the Spirit“, I, 80–85): Ist die Pneumatologie an einzelnen Aspekten des Weges des sich im devout life selbst überwindenden Selbst zu verorten (so z. B. der Liebe), in der grundlegenden Struktur der Prozesshaftigkeit des devout life (und deren Narrativierungen) oder metatheoretisch in der Durchführung der phänomenologisch-abstrakten Betrachtung von gelebten, a-spiriertem Leben?

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Online erschienen: 2024-03-11
Erschienen im Druck: 2024-06-30

© 2024 Katharina Opalka, published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 29.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/nzsth-2023-0071/html
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