Zusammenfassung
In dieser Auseinandersetzung am Leitfaden des leiblichen Ausdrucks wird die Schnittstelle des Leibes als Weltbezug und Selbstdarstellung anvisiert. Im ersten Teil des Beitrags geht es um Merleau-Pontys Ansatz einer Theorie des Ausdrucks, in deren Zentrum das Phänomen der Leiblichkeit als lebendiges Ausdrucksfeld figuriert. Im Kontext des Ansatzes wird dann im zweiten Schritt Butlers feministische Theorie der Performativität sowie die von ihr formulierte Kritik an der phänomenologischen Theorie der Expressivität thematisiert. Zum Abschluss wird die daraus resultierende Bedingtheit diskursiver Praxis unter dem Gesichtspunkt einer durch Körperverhältnisse eingezeichneten Asymmetrie im Hinblick auf pädagogische Handlungsfelder diskutiert.
Abstract
In light of the guidelines of bodily expression, this contribution reflects on the interface of the body as a world reference and self-expression. The first part of the article deals with Merleau-Ponty’s theory of expression, at the center of which the phenomenon of embodiment appears as a living field of expression. The second part addresses Butler's feminist theory of performativity and the critique she formulated towards the phenomenological theory of expressivity. Finally, the resulting conditionality of discursive practice is discussed from the point of view of a body asymmetry with respect to pedagogical fields of action.
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Notes
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Unter der englischen Bezeichnung „Embodiment“ werden die aktuellen philosophischen (Waldenfels, Fuchs) soziologischen (Foucault, Villa) und neurowissenschaftlichen („Neurophänomenologie“) Ansätze (Varela und Thompson, Fuchs) zusammengeführt, die sich durch eine Hervorhebung des Leibkörpers als einer genuinen Perspektive des Subjekts und seiner Erfahrung der Welt auszeichnen. Innerhalb dieser Rahmung handelt es sich um heterogene Zugänge und Konzepte, die einerseits auf die verschieden phänomenologischen Autoren und Schulen verweisen; andererseits zeichnen sich die Embodiment-Diskurse durch Interdisziplinarität aus (vgl. den Beitrag von Tarozzi und Francesconi in diesem Band).
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Besonders prominent ist in diesem Zusammenhang der Essay Le langage indirect et les voix du silence [1952]; dt. Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens (in Merleau-Ponty 2003a, S. 111–175).
- 5.
Zum Problem des hermeneutischen Verstehens vgl. im Beitrag von Malte Brinkmann in diesem Band.
- 6.
Im Spätwerk von Merleau-Ponty spielen die Denkfiguren wie Chiasmus, Hiatus oder Überschuss eine zentrale Rolle, um die schöpferischen Momente des Ausdrucksgeschehens zu beschreiben, das in eine ontologische Dimension verlagert wird (Orlikowski 2012, S. 78 ff.).
- 7.
Zum Phänomen des Selbstentzugs schreibt Jean-Luc Nancy: „Der Leib ist Selbstentzug, der ein Selbst auf sich selbst bezieht, indem es dieses der Welt aussetzt. Mein Leib bedeutet nicht nur meine nach außen gewandte Haut; er ist selbst schon außerhalb meiner, das Außen in mir und für mich, durch mich mir selbst entgegengesetzt, um mich von der Einheit zu unterscheiden. Fremd den anderen und zunächst jenem anderen, der ich dank seiner werde. Wo bin ich in meinem Fuß, meiner Hand, meinem Geschlecht, meinem Ohr? Wo bin ich in diesem Gesicht, seinen Zügen, Spuren, Mängeln und seinem Zittern? Wer bin ich auf den Umrissen dieses Mundes, der ‚ich‘ sagt?“ (2010, S. 56; siehe auch, Merleau-Ponty 1966, S. 197; Waldenfels 2013, S. 44).
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Zur Einschreibung kultureller Haltungen und damit zusammenhängender Möglichkeiten und Techniken der Körperoptimierung siehe bei Paula-Irene Villa (2011).
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Der Begriff des Performativen wird auf den sprachphilosophischen Diskurs und vor allem auf John Austins Theorie der Sprechakte (im Orig. 1965: How to do things with words) zurückgeführt. Mit seiner These verweist Austin darauf, dass die Sprache sich nicht darin erschöpft Sachverhalte abzubilden, vielmehr sind Sprechakte als Handlungen mit konkreten Folgen zu verstehen (Austin 1986).
- 10.
Die in der deutschen Sprache mögliche Differenzierung zwischen „Leib“ und „Körper“ findet bei der Übersetzung des englischen Begriffs „body“ nicht immer Berücksichtigung. Es bleibt z. T. der Übersetzung geschuldet, dass im Zusammenhang mit Butlers Philosophie der Begriff „Körper“ bevorzugt wird, obwohl je nach Kontext „Leib“ gemeint ist.
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Der Unterschied zwischen Expressivität und Performativität ist von entscheidender Wichtigkeit, denn wenn Geschlechterattribute und Akte, die verschiedenen Arten und Weisen, auf die ein Körper seine kulturelle Bedeutung zeigt oder hervorbringt, performativ sind, dann gibt es keine schon zuvor bestehende Identität, an der sich ein Akt oder Attribut messen ließe; es gibt dann auch keine wahren oder falschen, wirklichen oder verzerrten Akte der Geschlechterzugehörigkeit, und die Postulierung einer wahren Geschlechteridentität würde sich als bloße regulative Fiktion erweisen (Butler 2002, S. 315–316; Hervorhebungen A.O).
- 12.
Zum interkorporalen Verstehen siehe auch den Beitrag von Malte Brinkmann in diesem Band.
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Orlikowski, A. (2019). Leib als Ausdruck oder der performative Charakter der leiblichen Existenz. Merleau-Ponty und Butler. In: Brinkmann, M., Türstig, J., Weber-Spanknebel, M. (eds) Leib – Leiblichkeit – Embodiment. Phänomenologische Erziehungswissenschaft, vol 8. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-25517-6_7
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