1 Zum Kontext der Kontroverse

In der neuesten Geschichte der phänomenologischen Philosophie im spanischen Sprachraum wird kein Philosoph mehr geschätzt als der Spanier José Gaos, der 1938 vor dem spanischen Bürgerkrieg nach Mexiko flüchtete, wo er 1941 die Staatsbürgerschaft erhielt und bis zu seinem Tod 1969 im Exil lebte. Der Grund für diese Hochschätzung liegt darin, dass die Rezeption der Phänomenologie in Spanien, Mexiko und ganz Lateinamerika Gaos viel zu verdanken habe. Er sei ja „der Vertreter der Phänomenologie […] sowohl in Lateinamerika als auch in der Iberischen Halbinsel […], weil er nicht nur die phänomenologische Methode anwendet, sondern auch Husserls System kritisiert“ (Mues 1999, 5).Footnote 1 Nach Serrano de Haro habe sein unten kommentierter, 1963 in Mexiko-Stadt gehaltener Vortrag „die erste explizite Diskussion“ des Begriffs der Lebenswelt in der spanischsprachigen Philosophie ausgelöst, eine Diskussion, die „auch heute noch, nach Jahrzehnten der Exegese, von größtem Interesse ist“ (Serrano 1997, 10). Aus diesen Gründen—und auch deshalb, weil Gaos Werke von Heidegger, Husserl und anderen deutschen Philosophen ins Spanische übersetzte—stehen diejenigen innerhalb der „spanischen philosophischen Gemeinschaft, die die Phänomenologie kultivieren, überwältigend in seiner Schuld“ (ebd.).Footnote 2 Was Mexiko angeht, wird Gaos in der maßgeblichen Sekundärliteratur der Gegenwart beinahe überall als „vorherrschende Figur des mexikanischen philosophischen Lebens“ angesehen und für einen „unserer philosophisch reichhaltigsten und erforschungswürdigsten Denker“ gehalten (Rossi 2008, 10–11).Footnote 3

All dies gilt in der spanischsprachigen—aber auch in der deutsch- und englischsprachigen—Phänomenologie-Forschung als wohlbekannt.Footnote 4 Wenn man sich jedoch die dokumentarischen Quellen ansieht, in denen Gaos explizit Stellung zur Phänomenologie nimmt, ist es beinahe unmöglich zu übersehen, dass er eine nicht nur eindeutig negative, sondern geradezu vernichtende Meinung über die deutsche und insbesondere die husserlsche Phänomenologie hatte. Er behauptet beispielsweise, Letztere sei eine „unwissenschaftliche“ und „unberechtigte Verallgemeinerung der Philosophie der Mathematik“, die ein „Monster von Widersprüchen“ bilde, das „zur totalen Katastrophe führt“ (Gaos 1999, 66, 68).

Wie weiter unten gezeigt wird, vertritt Gaos diese Ansicht konsequent in allen Texten, die mit der Diskussion der Lebenswelt verbunden sind.Footnote 5 In Anbetracht dessen ist folgende Frage vorwegzunehmen, die sich aus dem Kontrast zwischen dem Bild von Gaos’ philosophischem Erbe, das uns die Sekundärliteratur vermittelt, und Gaos’ eigenen Worten ergibt: Wie kann jemand, der von einer Philosophie eine so radikal negative Meinung hat, „Vertreter“ dieser Philosophie sein? Gaos selbst antwortet darauf, wenn er schreibt: „Die Philosophien, die ich aufgrund ihrer geschichtlichen Relevanz so viel gelehrt habe im Sinne der Verbreitung ihrer Kenntnisnahme durch Lehrveranstaltungen, Übersetzungen und schriftliche Darstellung und Kritik, habe ich nicht als die Wahrheit gelehrt“ (Gaos 1996, 233, Herv. im Original). Gaos spielt hier aus gutem Grund darauf an, dass alle Philosophielehrenden in der Lage sein müssten, neutrale Darstellungen zu geben, wobei sie kritischen Abstand halten zu verschiedenen Theorien als traditionellen Gebilden der sich stets erneuernden Philosophiegeschichte. Hier wird sich allerdings gleich die Frage aufdrängen, ob Gaos die husserlsche Phänomenologie gut genug verstanden hatte, um sie neutral darstellen und zu Recht kritisieren zu können.

Wie sich gleich noch genauer zeigen wird, steht also fest, dass Gaos dem, was er von Husserls transzendentaler Phänomenologie zu verstehen behauptete, nicht zustimmte. Was dagegen nicht feststeht, ist, ob seine Meinung stimmte. Genau das sei nun im Licht der 1963 stattgefundenen Diskussion mit Villoro auf die Probe gestellt, bei der es Gaos ausdrücklich darum ging, „eine Kritik an der Phänomenologie […] Husserls im Allgemeinen“ zu üben (Gaos 1999, 74). Diese Diskussion fand während eines phänomenologischen Symposiums im Rahmen des „XIII. Internationalen Kongresses für Philosophie“ an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM) statt. Zu den Gastrednern gehörten Enzo Paci, John Wild und der einstige Assistent von Husserl, Ludwig Landgrebe.Footnote 6 Bei den Diskussionen dieses Symposiums kritisierte Gaos nun tatsächlich nicht nur Husserls Philosophie, sondern warf darüber hinaus auch den anwesenden, von ihm so genannten „husserlschen Philosophen“ vor, dass sie „Pseudoerklärungen“ vorlegten und aus „biographisch“ nachvollziehbaren, jedoch theoretisch inkonsequenten Gründen den Begriff der Lebenswelt nutzen wollten, um Husserls Philosophie mit philosophischen Entwürfen—wie etwa der Philosophie Heideggers—zu verbinden, die „gültiger als jeder transzendentale Idealismus zu sein scheinen“ (Gaos 1999, 397–398). Im Folgenden wird die Hauptthese von Gaos’ Vortrag, die diesen schwerwiegenden Vorwürfen zugrunde liegt, genauer unter die Lupe genommen.

2 Gaos’ Vortrag zu „Husserls Lebenswelt“

Zum Ziel seines Vortrags setzt sich Gaos, Sinn und Zweck des Begriffs der Lebenswelt im Ausgang von Husserls Krisis-Schrift (Husserl 1976b, 1–276) zu erläutern. Von Anfang an übt er jedoch entschiedene Kritik, ohne Sinn und Grenzen des in Frage stehenden Begriffs überhaupt erst einmal geklärt zu haben. Dabei geht er lediglich davon aus, dass die Lebenswelt—die er als „Welt des gewöhnlichen Lebens“ bezeichnet—eine „Voraussetzung der Wissenschaften“ sei, die phänomenologisch erklärt werden solle (Gaos 1999, 73). In unmittelbarem Anschluss daran stellt er dann zweierlei fest: Erstens, dass die phänomenologische Epoché keine Rolle bei dieser angestrebten Erklärung spiele, und zweitens, dass die „Psychologie der allgemeinen psychischen Phänomene“ die gleiche Erklärung der Lebenswelt liefern könne wie jede Phänomenologie, bei der die Epoché keine Rolle spielt (Gaos 1999, 77).Footnote 7

In diesem Zusammenhang stellt Gaos nirgendwo dar, was er unter Epoché versteht.Footnote 8 Aus seiner Argumentation lässt sich jedoch erschließen, dass er sie als eine ‚Weltvernichtung‘ begreift, die den sogenannten „cartesianischen Weg“ (Husserl 1976b, 157–158) zum Solipsismus verurteile.Footnote 9 Denn nach ihm ist Husserls Gebrauch des Lebensweltbegriffs eine rhetorische, mit seiner cartesianischen, d. h. transzendental-idealistischen Philosophie eigentlich unvereinbare Maßnahme, um zu versuchen, sich dem Solipsismus zu entziehen. M. a. W.: Beim cartesianischen Weg müsse man zunächst mittels der Epoché die Lebenswelt ‚vernichten‘ bzw. ‚ausschalten‘, um überhaupt cartesianisch radikal anfangen zu können. Möchte man dagegen mit der Lebenswelt anfangen, so müsse man von vornherein auf die cartesianische Epoché verzichten, zumal sich die Durchführung der Epoché keineswegs mit der Annahme einer wirklich seienden Lebenswelt vereinbaren lasse. Die Inkonsequenz, die Gaos Husserl vorwirft, entstehe also dadurch, dass Letzterer in der Krisis-Schrift versucht habe, von beidem (der Epoché und der Lebenswelt) zugleich auszugehen. Dieser Versuch ist in Gaos’ Augen vergeblich, einerseits, weil man vom Solipsismus (zu dem die Epoché führe) zur intersubjektiven Lebenswelt nicht übergehen könne, und andererseits, weil es selbstwidersprüchlich sei—und das Problem des Solipsismus nicht löse, sondern nur verberge—, die Lebenswelt als ein Vorgegebenes anzunehmen, während man zugleich die Epoché durchzuführen meint.

3 Villoros Erwiderung auf Gaos’ These

Die Erwiderung von Villoro auf Gaos’ Vortrag ist sehr kurz.Footnote 10 Sie besteht aus ca. 30 maschinengeschriebenen Zeilen (vgl. Zirión 1999, 45), in denen Villoro Gaos’ These so wiedergibt: Nach Gaos könne die phänomenologische Erklärung der Lebenswelt „ohne die Epoché durchgeführt werden“ und daher sei „die Psychologie […] imstande, dieselbe erklärende Aufgabe wie die Phänomenologie zu erfüllen“ (Villoro 1999, 387). Dagegen wendet Villoro ein, dass Gaos’ These für die cartesianische Phänomenologie zwar zutreffend sei, aber die Epoché eine ganz andere Funktion in der (als nicht-cartesianisch zu deutenden) Krisis-Schrift habe, die man nicht übersehen dürfe. Diese Funktion bestehe nämlich nicht wie bei dem cartesianischen Weg darin, auf ein „außerweltliches“ bzw. „ent-weltlichtes Subjekt“ zurückzuführen, sondern vielmehr darin, „nach den ‚Gegebenheitsmodi‘ der Welt zu fragen“ und ferner „die apriorische Struktur der Lebenswelt“ als „Urboden“ aller Geltungen zu erforschen (Villoro 1999, 387–388). Villoro weist also auf die Lebenswelt als Grundlage von Bewusstseins- und Weltstrukturen hin, die alle „Wahrheit und Quelle der Gewissheit“ bedingen (ebd.). So gehe es hierbei dann nicht um ein cartesianisches solipsistisches Leben ohne Welt, sondern um ein intersubjektives Bewusstseinsleben „in der Welt“ (ebd.).

Dagegen erwidert wiederum Gaos, dass seine Kritik insofern gültig bleibt, als für Husserl die „apriorische Struktur der Lebenswelt“, auf die sich Villoro bezieht, „auf die transzendentale Subjektivität reduzierbar“ ist (Gaos 1999, 390). Diese Subjektivität, die durch die universale Epoché von allen weltlichen Elementen gereinigt wird, ist nach Gaos gerade als rein transzendentale Subjektivität unvereinbar mit der Annahme einer intersubjektiven Lebenswelt.

4 Bilanz der Diskussion

Zu dieser Auseinandersetzung ist vom Standpunkt der aktuellen Husserlforschung dreierlei zu bemerken:

4.1 Das Vorurteil des cartesianischen Verlustes

Erstens werden sowohl Gaos als auch Villoro von dem Vorurteil geleitet, dass auf dem cartesianischen Weg die Welt verloren gehe, diesem Weg also der Wesenszug eines Verlustes zukomme und dies den ‚anfangenden Philosophen‘ in die solipsistische Weltlosigkeit einer „von der Welt […] abgekapselten“ Subjektivität führe (Tengelyi 2014, 204). Dieses alte und beharrliche, auch heute immer noch sehr einflussreiche Vorurteil, das die Diskussion zwischen Gaos und Villoro durch und durch bestimmt, war Husserl selbst wohlbekannt, und er hat es an zahlreichen Textstellen widerlegt (vgl. Husserl 1976b, 79, 155, 179; Husserl 1950, 75; Husserl 1976a, 107; Husserl 1959, 110, 167, 497, 505). Nichtsdestoweniger handelt es sich um ein Vorurteil, das auch der deutschen Husserlforschung eigen ist und sie jahrzehntelang geprägt hat. Es war nämlich Iso Kern, der in seiner berühmten Abhandlung über die Wege zur transzendentalen Reduktion auf eine Stelle in der Krisis-Schrift aufmerksam gemacht hat, in der Husserl sich auf die Epoché der Ideen I kritisch bezieht. Kern legt erstens nachdrücklich nahe, dass diese Bezugnahme einer selbstkritischen „Distanzierung“ Husserls von seinem eigenen „Cartesianischen Weg“ gleichkomme, und zweitens, dass Husserl selbst diesen Weg insofern abgelehnt habe, als bei ihm „die transzendentale Reduktion“, die Kern nicht von der universalen Epoché unterscheidet, „ausschließlich den Charakter eines Verlustes“ habe (Kern 1962, 311, 313, Herv. im Original).

Dagegen ist wie auch Gaos’ und Villoros Diskussion gegenüber zu bemerken: (1) Dass die Epoché und Reduktion auf dem cartesianischen Weg keineswegs den Charakter eines Verlustes haben, zeigte Husserl selbst nachdrücklich und wiederholt, eben um das „Vorurteil“ „hintanzuhalten“ (Husserl 1959, 432), nach dem in der transzendentalen Egologie, die ja mit dem cartesianischen Weg beginnt, die Welt kein Thema sei.Footnote 11 (2) Die Stelle in der Krisis-Schrift, die laut Kern Husserls selbstkritische Distanzierung belege, ist tatsächlich nur ein schlichter Hinweis darauf, dass die Darstellung der Epoché in den Ideen I „den großen Nachteil hat“, dass sie „zwar wie in einem Sprunge schon zum transzendentalen ego führt, dieses aber […] in einer scheinbaren Inhaltsleere zur Sicht bringt“ (Husserl 1976b, 158, Herv. v. mir). In Kontrast zu Kerns kurioser Deutung dieses schlichten und vereinzelten Hinweises als vollständige Distanzierung Husserls von seinem eigenen cartesianischen Weg steht jedoch die Tatsache, über die Kern einfach hinwegsieht, dass die Rede von ‚transzendentaler Phänomenologie‘ in der Krisis-Schrift zugleich die Rede von einer durchaus positiv bewerteten, durch Kategorien wie „Lebenswelt“ „bereicherten“ „Cartesianischen Epoché“ ist (Husserl 1976b, 77, 157).Footnote 12 Man sollte zudem nicht übersehen, dass der (vermutlich ganz neue) Weg zur transzendentalen Subjektivität, den Husserl in der Krisis-Schrift einschlägt, ebenso sehr wie der cartesianische Weg zu dem führt, was Husserl das „allgemeine Schema“ „egocogitocogitatum“ nennt (Husserl 1950, 87; Husserl 1976b, 173 f.). Dieses Schema, das eine systematisch entscheidende Rolle sowohl in den Cartesianischen Meditationen (1926) als auch in der Krisis-Schrift (1936) spielt, ergibt sich aus verschiedenen Formulierungen des cartesianischen Weges, der zuerst in Ideen I (1913) eingeführt und von Husserl nie aufgegeben wurde (vgl. Husserl 1974, 243–244; Husserl 1994, 23).

Man müsste sich zunächst über all das im Klaren sein, um dann eine ausführliche Analyse der verborgenen Voraussetzungen in der Diskussion zwischen Gaos und Villoro durchführen zu können, wobei zuallererst die Begriffe der Epoché und Reduktion detailliert revidiert werden müssten. Darüber hinaus sollte auch die Frage nach dem möglichen Einfluss der deutschen Husserlforschung auf den ‚Anticartesianismus‘ dieser Diskussion erörtert werden. Eine direkte Beeinflussung durch Kerns oben genannten Aufsatz und Landgrebes Abhandlung über „Husserls Abschied vom Cartesianismus“ (Landgrebe 1961) ist zwar aus mehreren Gründen unwahrscheinlich,Footnote 13 jedoch muss beachtet werden, dass die Kritik an Husserls cartesianischem Weg eine weit verbreitete Forschungstendenz darstellt, die keineswegs nur den hier erwähnten Forschern zuzuschreiben ist. Vielmehr kommt sie seit der Veröffentlichung von Heideggers Sein und Zeit, dessen erste spanische Ausgabe 1951 in Gaos’ Übersetzung erschien, sehr oft vor, und hat tatsächlich sowohl auf Gaos als auch auf Villoro gewirkt. M. a. W.: Ähnlich wie viele andere Forscher wurden auch Gaos et al. (1963) und Villoro (2009) stark von Heideggers Auffassung beeinflusst, der zufolge der husserlsche Versuch eines vorurteilsfreien erkenntnistheoretischen Ansatzes ein dogmatischer Anspruch intellektualistischer Natur ist, der blind sei für die grundsätzliche Faktizität der menschlichen Existenz und die aller möglichen Theorie vorangehende Struktur ihres weltlichen Verstehens (vgl. Heidegger 1994, 2). Es ist allgemein bekannt, wie sehr sich die phänomenologische Bewegung in die Diskussion um diese Kritik verstrickt hat, die auf der Vermischung von methodologischen und anthropologischen Themen beruht (vgl. dazu Gondek & Tengelyi 2011, 667 ff., insb. 668 und 670). All das gehört zu den verborgenen Voraussetzungen in der Auseinandersetzung Gaos–Villoro.

4.2 Gaos: Husserlforscher oder Phänomenologe auf eigene Faust?

Als Zweites ist zu bemerken, dass Gaos im spanischen Sprachraum unbestritten nicht nur als Husserlkenner, sondern auch als Phänomenologe im husserlschen Sinne gilt. Streng nach Gaos selbst schließt dies jedoch eine Äquivokation im Gebrauch des Namens ‚Phänomenologie‘ ein. Denn Phänomenologie im Allgemeinen sah er als „reine Deskription von Tatsachen“ bzw. „Phänomenen“ an, die „vor aller möglichen methodischen Maßnahme“ und auch vor jeder Betrachtung „metaphysischer Gegenstände“ „beschreibbar sein können und müssen“ (Gaos 1959, 129; 1992, 39). Die Phänomenologie Husserls dagegen—und besonders die methodische Maßnahme der Epoché und Reduktion—verstand er nicht so, sondern als „Metaphysik“ (Gaos 1999, 69) und vor allem als „eine Abstraktion“, die erstens „vitale Entfremdung der Welt“ sei und zweitens ein „offensichtlich unmögliches, extremistisches Unternehmen geistiger Selbst-Entfremdung, unwiderruflichen Unheils, und Unmenschlichkeit“ bilde (Gaos 2003, 56).Footnote 14 Wenn Gaos also behauptet, die phänomenologische Methode anzuwenden, meint er zwar „Deskription des Gegebenen“ (Zirión 2021, 105) zu betreiben, aber nicht im transzendental-phänomenologischen Sinne, sondern im Sinn einer schlichten „Tatsachendeskription“, die vom natürlichen—keineswegs transzendentalphilosophischen—Standpunkt aus durchgeführt wird (Gaos 1959, 129. Vgl. dazu auch Gaos 1954, 77; Díaz 2011, 60 f.; Zirión 2021, 97 f.). Diese Tatsachendeskription erfolgt also bewusst nicht im Rahmen der methodologisch ausgerichteten phänomenologischen Einstellung, sondern im Ausgang von jener anthropologisch gedeuteten Grundlage, auf die sich Gaos (im Anschluss an die Philosophie Ortegas) mit dem Leitspruch „ich bin ich und meine Umstände“ bezieht.Footnote 15 So enthält beispielsweise das berühmte Essay „Phänomenologie des Streichelns“ (Gaos 2008, 172) keine intentionale Analyse im husserlschen Sinne (d. h. als transzendental-eidetische, noetisch-noematische Beschreibung von Bewusstseinsaktualitäten und -potentialitäten), sondern eine Darstellung von Vorstellungen, die Gaos als Deskription gegebener Tatsachen ansah—wie etwa der vermeintlichen Tatsachen, dass das Organ des Streichelns „ausschließlich die Hand“ (sogar nur „die Handfläche“) sei, dass unter allen Tieren nur Menschen Hände haben und daher nur sie streicheln können, das Streicheln also etwas Menschen-Spezifisches (obwohl zugleich etwas „Übermenschliches“) sei und daher „weder Tiere noch Engel noch Gott streicheln können“ u. dgl. (Gaos 2008, 145, 146, 156, 163).Footnote 16

Gaos war nun der ausdrücklichen Meinung, seine ‚phänomenologische Methode‘ sei phänomenologisch im husserlschen Sinne (vgl. Gaos 1992, 39), aber nicht im Sinne von Husserls „transzendentalem Idealismus“, sondern „im freieren Sinne der Philosophien wie der idealistischen und der realistischen, die die Husserlschüler und andere Philosophie Kultivierende gebrauchten“ (Gaos 1992, 39).Footnote 17 Was Gaos damit meint, ist allerdings rätselhaft, denn das, was „idealistische und realistische Philosophie Kultivierende“ „im freien Sinne“ betreiben mögen, kann alles und nichts sein. Um zu versuchen, dieses Rätsel zu lösen, weist Zirión auf eine Stelle der gaosschen gesammelten Werke hin, wo von der phänomenologischen Methode geredet wird „im Sinne der vom ‚Rest‘ der Phänomenologie abgelösten ‚eidetischen Phänomenologie‘“ (Gaos 1987, 291–292). Zirión selbst stellt jedoch dabei fest, dass Gaos’ Deskriptionen nicht eidetisch, sondern empirisch sind, d. h., dass die Verallgemeinerungen, die Gaos in seinen Deskriptionen vornimmt, nicht anschaulich im Sinne der Wesenserschauung, sondern induktiv sind (vgl. Zirión 2021, 99 f., 100, 102 f., 128).

Dies zeigt sich auch in den oben erwähnten Behauptungen, dass das Organ des Streichelns „ausschließlich die Hand“ sei und dass im gesamten Naturreich nur der Mensch dieses Organ besitze. Zwar könnte man vermuten, dass der verallgemeinernde Charakter dieser Behauptungen sie zu eidetischen oder zumindest eidetisch-ähnlichen Deskriptionen mache. Jedoch ist dies m. E. nicht der Fall. Im Gegenteil: Gerade an dieser Art von Behauptung lässt sich der radikale Unterschied zwischen empirisch-induktiver Verallgemeinerung und Wesenserschauung als Anschauung des Allgemeinen zeigen:

4.2.1 Der Unterschied zwischen induktiver und eidetischer Verallgemeinerung

Die Behauptung, im gesamten Naturreich besitze allein der Mensch Hände, besagt näher betrachtet dreierlei:

  • (a) Alle Menschen haben von Natur aus Hände.

  • (b) Kein anderes Lebewesen außer dem Menschen hat Hände.

  • (c) Die Eigenschaft, Hände zu haben, ist ein einzigartiges Merkmal des Menschen, d. h. der biologischen Spezies homo sapiens—mit Gaos’ (1992) Worten: „del hombre“.

Diese Verallgemeinerungen sind induktiv in dem Sinne, dass sie eine begriffliche Progression vom Besonderen zum Allgemeinen voraussetzen.Footnote 18 Sie gehen von einer begrenzten Anzahl empirisch beobachtbarer Fälle aus, um die dort festgestellten Merkmale auf die Menge aller gleichen bzw. analogen Fälle prädikativ-inferentiell zu übertragen. Diese induktiven Verallgemeinerungen erfolgen also durch Prädikationen (keine Anschauungen), die die Bestimmungen, welche anhand der beobachteten Fälle festgestellt wurden, auch all jenen gleichen bzw. analogen Fällen zuschreiben, die aufgrund ihrer unermesslichen Vielzahl über den Bereich des tatsächlich Erfahrbaren hinaus liegen. Bei Gaos’ Behauptungen sind diese mitbestimmten, unermesslich zahlreichen Fälle nicht nur alle Menschen, sondern auch alle Tiere, die es gibt und je gegeben hat und die nach (b)–(c) alle gleichermaßen handlos seien bzw. gewesen seien.

Eine Anschauung des Allgemeinen im Sinne von Husserls eidetischer Methode ist von Grund auf anders beschaffen. Sie steigt nicht vom Besonderen zum Allgemeinen auf, sondern von vage-empirischen zu präzise-apriorischen Allgemeinheiten, und das nicht prädikativ-inferentiell, sondern prädikativ-intuitiv. Das heißt, die eidetische Methode geht weder von empirischen Einzelfällen noch von Allaussagen der Form ‚Alle A sind B‘, auch nicht von vollwertigen Allgemeinbegriffen aus, die wissenschaftlich bestimmte Gegenstände bezeichnen (wie etwa ‚Mensch‘ im biologischen Sinne). Vielmehr nimmt die eidetische Methode ihren Ausgang von „Typen“ (Husserl 1939, 410). Typen sind Sinngebilde, d. h. gegenständlich erscheinende Sinneinheiten, die eine „sich aufdrängende Art der Allgemeinheit“ (Husserl 1939, 407) bilden, die wir aus dem Alltag kennen, weil wir schon vor jeglicher wissenschaftlichen Untersuchung „Gemeinsamkeiten von verschiedenen Gegenständen bemerken“ (Lohmar 2017, 168–169). Es handelt sich bei dieser Allgemeinheit um die empirisch gegebene Generalität unserer vorwissenschaftlichen, nur vage bestimmten Gegenstandstypen wie etwa ‚Hund‘, ‚Haus‘, ‚Urteil‘, ‚Hand‘ u. dgl. Diese Gegenstandstypen sind zwar nach Gattung und Art beschreibbar, doch sie sind keine Klassennamen. Vielmehr entwickeln sprachfähige Bewusstseinssubjekte Klassennamen, um sich auf erfahrungsgeschichtlich gebildete Typen zu beziehen. Kurz gesagt: Im Reden gebrauchen wir Klassennamen bzw. „Begriffe für Typen“ (Lohmar 2011, 130). Begriffe des alltäglich-vagen Sprachgebrauchs bezeichnen also noch nicht präzise bestimmte Allgemeinheiten, sondern nur Gruppen von uns bekannten Gegenständen, die für uns „in einer Ähnlichkeitsrelation stehen“ (Lohmar 2005, 85).

Wie lässt sich nun von hier aus eine eidetische Analyse beginnen? Von einem Typus ausgehend, wird die eidetische Analyse durch Beschreibung jener Sinnelemente des Ausgangstypus durchgeführt, die für ihn insofern entscheidend sind, als sie in der Phantasie nicht variiert bzw. als weggenommen vorgestellt werden können, ohne dass damit der Sinn des in Frage stehenden Typus verloren ginge. Eine solche Beschreibung lautet zum Beispiel: „Bewusstseinssubjekte, die über das Organ verfügen, das wir sowohl im Alltagsleben als auch in der Anatomie ‚Hand‘ nennen, können verschiedene Handlungen ausführen, die durch Greifen von Dingen erfolgen, wie z. B. Schlagwerkzeuge schwingen, Früchte ausquetschen oder schälen u. dgl.“. Diese kurze Deskription ist eidetisch ausgerichtet in dem Sinne, dass sie Sinnverhältnisse beschreibt, die mit apriorischer Allgemeinheit zum Typus ‚Hand‘ gehören. Der apriorische Charakter dieser Allgemeinheit wird ersichtlich, wenn man beachtet, dass zum Sinn des Gegenstandtypus ‚Hand‘ unabdingbar gehört, dass sie ein Organ ist, das aufgrund der bestimmten Beschaffenheit seiner Teilkomponenten—vor allem der spezifischen Gegenüberstellbarkeit von Daumen und Fingern—die vielfältige Funktion des Greifens ermöglicht. Das heißt, aufgrund dieser zu jeder Zeit einsehbaren Beschaffenheit ist begrifflich undenkbar und wäre widersinnig zu behaupten, dass es funktionelle Hände gebe, die keine Dinge in den Griff nehmen können.Footnote 19 Kurzum: Die Funktion des Greifens gehört wesentlich, d. h. mit allgemein-apriorischer Notwendigkeit zum Sinn einer Hand als solcher, und damit ist ebenso wesentlich eine Palette von Handlungsmöglichkeiten verbunden, die durch verschiedene Formen des Greifens ermöglicht werden.

Damit sind natürlich nicht alle wesentlichen Aspekte des Typus ‚Hand‘ beschrieben, sondern nur einige wenige Sinnelemente, die allgemein-apriori zu einer Hand als solcher gehören und die darüber hinaus auch zu anderen Organen anderer Tiere gehören können. Elefanten z. B. können auch mit ihrem Rüssel Dinge greifen. Dies widerspricht jedoch nicht dem hier vorgestellten eidetischen Beschreibungsansatz. Denn dessen Gegenstand ist nicht das Menschenspezifische und er geht auch nicht von der Annahme aus, Hände seien unvergleichbare Organe, deren gesamte Funktionsvielfalt ausschließlich dem Menschen vorbehalten sei. Ferner stellt dieser eidetische Beschreibungsansatz weder eine Ähnlichkeit zwischen Einzelgegenständen noch eine empirische Regelmäßigkeit fest, sondern eine allgemein-apriorische abstrakte Bestimmung, unter die unendlich viele mögliche Gegenstände fallen können. Eine methodologisch detaillierte Darstellung der verschiedenen Schritte, die dieser eidetischen Verallgemeinerung zugrunde liegen, würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen.Footnote 20 Es sei hier lediglich darauf hingewiesen, dass die eidetische Methode ein deskriptives Verfahren zur Herstellung anschaulicher Klarheit bei der Bildung von Begriffen ist. Ihr Ziel ist demnach, diese Klarheit in der Bestimmung rein begrifflicher Verhältnisse herbeizuführen. Dieses Ziel wird in der Phänomenologie dadurch verfolgt, dass wir uns zunächst von empirischen, uns vorbekannten Typen leiten lassen, die wir dann methodisch verarbeiten, um ihre zufälligen Aspekte fallen zu lassen und ihre wesensnotwendigen Aspekte herauszuheben. Von diesem begriffsanalytischen Verfahren ist in Gaos’ typischer Argumentationsweise, hier exemplifiziert in den Sätzen (a) bis (c), so gut wie nichts zu spüren.

Aus all dem wird deutlich, dass Gaos erstens die Methode der eidetischen Variation als eine Art induktiver Verallgemeinerung verkennt, und zweitens, dass das, was er unter ‚phänomenologischer Methode‘ versteht, weder Phänomenologie im husserlschen Sinne noch in sich wohldefiniert ist. Das besagt: Sie ist nicht klar formuliert hinsichtlich ihres Arbeitsfeldes, ihres Ausgangspunkts, ihrer Ziele und Schritte.Footnote 21

4.3 Das akademische Erbe von Gaos’ Lehre

Als Letztes soll das akademische Erbe von Gaos’ Ansicht über Husserls Phänomenologie berücksichtigt werden. Die Rezeption der Phänomenologie in Spanien und Lateinamerika hat der langjährigen Lehrtätigkeit von Gaos und seinen zahlreichen Übersetzungen sicherlich viel zu verdanken. Dies soll hier keineswegs bestritten werden. Er hatte zudem sein eigenes philosophisches Projekt, die von ihm so genannte „Philosophie der Philosophie“, über deren Recht und Wert hier nicht zu richten ist (vgl. dazu Díaz 2011, 60–66). Vielmehr ging es in diesem Aufsatz von Anfang an einzig um die von Gaos (1999, 74) selbst angekündigte „Kritik an der Phänomenologie […] Husserls im Allgemeinen“. Denn dies war der einzige Gegenstand jener Diskussion, die hier zum Thema gemacht wurde. Hierzu sei schließlich bemerkt, dass Gaos’ voreingenommene Interpretation der transzendentalen Phänomenologie nur schwerlich zur Entwicklung einer echt phänomenologischen Forschungstradition unter seinen Schülern hätte führen können. Vielmehr haben ihn seine Ansichten dazu geführt, Vorurteile gegen Husserls Phänomenologie zu verbreiten, die das Verständnis ihrer Bedeutung und Grenzen behindert haben. Diese Vorurteile, die ihrer Art nach in der Fachliteratur üblich sind, gelten in der neueren Husserlforschung als Fehlinterpretationen, die weitreichende theoretische Konsequenzen zur Folge hatten und haben.Footnote 22 Nichtsdestoweniger muss die philosophiegeschichtliche Tatsache anerkannt werden, dass die Diskussion zwischen Gaos und Villoro die erste sich in den Nachkriegsjahren abspielende Rezeption des Begriffs der Lebenswelt im spanischen Kulturraum war, und dass sie Teil der umfassenden „phänomenologischen Bewegung“ (Spiegelberg 1965) ist, deren Entwicklung bis in die gegenwärtige lateinamerikanische Philosophie reicht (vgl. hierzu Ferrer et al. i. Ersch.).

Auch und besonders in Mexiko hat Gaos das Schicksal der Phänomenologie-Rezeption zweifellos geprägt. Ob dies zum Guten oder zum Schlechten geschah, ist allerdings eine offene Frage. Es ist jedenfalls bedenklich, dass viele spanischsprachige Forscher von ihm gelernt haben, die transzendentale Phänomenologie als einen naiven Cartesianismus zu verkennen (vgl. Leyva 2018, 236), der—so eine ehemalige Schülerin von Gaos—„notwendig in eine Sackgasse hineinführt“ (Mues 1999, 6) und, wie Gaos (2003, 56) selbst einmal sagte, eine entartete Metaphysik unmenschlicher Konsequenzen bilde. Weiterhin ist auch folgende, von Fernando SalmerónFootnote 23 festgestellte historische Tatsache bemerkenswert: Über die Kritik an Husserls Phänomenologie hinaus habe Gaos’ eigene ‚phänomenologische Methode‘ keine philosophisch aussichtsreiche Alternative, vielmehr einen „enttäuschenden“ „geschlossenen Weg“ gebildet, weshalb sich seine Schüler gegen ihn „auflehnten“ (Salmerón 2006, 243, 244), indem sie sich zunehmend der sogenannten analytischen Philosophie britischen und nordamerikanischen Stils verschrieben (vgl. hierzu Leyva 2018, 239 f.; Valero 2012, 18 f.; San Martín 2010, 97 f.; Rossi 1970, 14, 16) —die in Gaos’ Augen aufgrund ihres „unsystematischen“ Charakters schlechterdings „beschämend“ war (Gaos 1967, 26, 30).

Schließlich lässt sich feststellen, dass die weitverbreitete Annahme, die spanischsprachige Phänomenologie stehe überwältigend in Gaos’ Schuld (vgl. Serrano 1997, 10), aus mehreren Gründen fragwürdig ist und daher in Grenzen gehalten werden sollte. Insbesondere müsste m. E. das ideologische Erbe Gaos’—d. h. die Menge der von ihm überlieferten Überzeugungen, die unter spanischsprachigen Forschern zu einem traditionell nachklingenden Gedankengut geworden sind—daraufhin untersucht werden, inwieweit es letztlich der spanischsprachigen phänomenologischen Forschung und ihrem Dialog mit anderen philosophischen Strömungen und wissenschaftlichen Disziplinen zuträglich oder abträglich ist.

5 Schluss

Die in diesem Beitrag thematisierte Diskussion kreist im Wesentlichen um die These, dass ‚alltägliche Lebenswelt‘ und ‚transzendentales Subjekt‘ widersprüchliche Begriffe sind, d. h., dass man nicht widerspruchsfrei vom einen zum anderen übergehen kann, weil sich die Annahme einer vorgegebenen Lebenswelt nicht mit der Durchführung der ‚welt-ausschaltenden‘ Epoché vereinbaren lässt, die dem Postulat des rein transzendentalen Subjekts (ego cogito) methodisch zugrunde liegt.

Auch wenn die Diskussion zwischen Gaos und Villoro weit davon entfernt ist, eine befriedigende Lösung dieses Problems und eine gründliche Erklärung des phänomenologischen Lebensweltbegriffs anzubieten, ist sie gleichwohl sehr relevant für die gegenwärtige Husserlforschung. Denn sie erinnert uns daran, dass die Bestimmung der systematischen Verhältnisse zwischen transzendentaler Erkenntniskritik und Lebenswelttheorie für Husserls Phänomenologie bisher nicht geleistet wurde und auch heute noch ein Forschungsdesiderat darstellt.Footnote 24

Zur Klärung dieser Verhältnisse bedarf es einer Analyse wissenschaftlicher Motivationen. Dazu müsste man m. E. von der Frage nach den Gründen ausgehen, die Husserls Interesse an einer Lebenswelttheorie im Rahmen seiner Absicht auf eine „Neubegründung der reinen Logik“ (Husserl 1975, 7) erweckt haben.Footnote 25 Im Mittelpunkt dieser Forschungsfrage steht der Begriff der transzendentalen Voraussetzung. Eine solche Voraussetzung ist das, was in der Erfahrungsgeschichte eines Bewusstseinssubjekts vorgekommen sein muss, damit dieses Subjekt zu bestimmten Vorstellungen gelangen kann, die für die intersubjektive Operativität jeder Erkenntnis grundlegend sind, wie z. B. die elementare Annahme, dass die Mitmenschen meines Alltags das Gleiche wahrnehmen wie ich, wenn sie sich an meine Stelle versetzen. Die Frage, die Husserl dazu bewegt hat, eine phänomenologische Theorie der Lebenswelt zu entwickeln, liegt hierin beschlossen (vgl. Husserl 1974, 202). Sie lautet: Wie und aufgrund welcher Evidenzen konstituiert sich die Umwelt meines Bewusstseinslebens als ein Sinnhorizont, der bezüglich jener Art elementarer, scheinbar selbstverständlicher Annahmen immer schon vorausgesetzt ist? Das ist das Thema der transzendentalen Voraussetzungen, deren Untersuchung von der formalen Logik in die transzendentale Phänomenologie und weiter in die Theorie der Lebenswelt führt (vgl. Husserl 1974, 277). Doch wie genau das geschieht, und ob im Einklang oder Widerspruch mit der universalen Epoché, ist bis heute umstritten und angesichts der aktuell wachsenden Forschungstendenz zum Dialog zwischen Phänomenologie und Sozialwissenschaften (vgl. Caminada 2019; Loidolt 2021; Stinkes 2019) klärungsbedürftiger als je zuvor.