Skip to content
Publicly Available Published by De Gruyter (A) October 17, 2023

Das Leben

  • Sebastian Rödl

Abstract

Life and “good” are interchangeable, I think. Life is good, goodness life. Michael Thompson has recovered the understanding of life as goodness for contemporary philosophy. However, he errs in thinking that our life, human life, is a certain kind of life. And so he errs in conceiving the idea of the good by which we live as that of a certain kind of life. The idea of the good by which we live is not an idea, but the idea. This shows that our life is not a life, but the life. This essay develops a series of forms through which “good” is thought: external purpose, organism, external process, generic process. It transpires that they are all incapable of thinking the good which is thought and known in practical thought. This is life beyond the generic process, no natural life, but the life of the spirit.

1 Einleitung

Leben und „gut“ sind, denke ich, austauschbar. Leben ist gut, Gutheit Leben. Michael Thompson hat das Verständnis des Lebens als Gutheit für die analytische Philosophie zurückgewonnen. Was ich seinem Denken schulde, ist mehr, als ich wissen kann. Dennoch glaube ich, dass er irrt, wenn er meint, unser Leben, das menschliche Leben, sei eine bestimmte Art Leben. Und also irrt, wenn er die Idee des Guten, durch die wir leben, als die einer bestimmten Art Leben vorstellt.[1] Mir scheint vielmehr, dass dies richtig ist: Die Idee des Guten, durch die wir leben, ist nicht eine Idee, sondern die Idee. Das zeigt – die Idee des Guten zeigt –, dass unser Leben nicht ein Leben ist, sondern das Leben.

Die Idee des Guten, um die es geht, ist die, die das praktische Denken öffnet und trägt: Denken, was zu tun und wie zu handeln ist. Wissen, was zu tun ist, heißt wissen, was zu tun gut ist: was zu tun ist, so dass man, da man es tut, gut handelt. Unser Thema ist also der formale Gegenstand des praktischen Wissens: was das praktische Wissen als solches weiß. Ich werde das Gute des praktischen Denkens untersuchen, indem ich seine logische Form untersuche. Das werde ich durch eine Reihe logischer Formen tun, gemäß denen „gut“ gedacht wird. Es wird sich erweisen, dass jede von ihnen, um sich zu erhalten, ihre Unterordnung unter eine Form verlangt, die sich auf diese Weise als ihre Wahrheit erweist. In dieser Reihe ist das im praktischen Denken gedachte Gute das höchste. Daraus erhellt das Recht der alten Gewohnheit, das Gute des praktischen Denkens schlicht das Gute zu nennen. Und es widerlegt die Behauptung, „gut“ werde stets und nur attributiv verwendet.

Im praktischen Wissen, der Erkenntnis des Guten, verstehe ich, was ich so erkenne, als den rechtmäßigen Herrn meines Handelns und meines Lebens. So verstehe ich es auch dort, wo ich nicht so handle, wie ich weiß, dass zu handeln gut ist. Das Gute ist das, was regiert, mein Prinzip.

Im praktischen Denken weiß ich, dass mein Prinzip das Gute ist. Nicht ein Gutes, sondern das Gute. Wenn ich das Gute zu denken unternehme durch eine logische Form, die unfähig ist, das Gute zu fassen, da sie eine Form des Endlichen, Begrenzten ist, dann entspringt der Inkongruenz dessen, was ich zu denken vorgebe, des Guten, mit der Form, durch die ich es zu denken suche, dem Endlichen, eine Gestalt des Bösen. Denn das Böse ist das Endliche, das sich für absolut ausgibt. So begegnet uns in jeder Form, „gut“ zu denken, das ihr zugehörige Böse.

Etwas verstehen heißt, sein Prinzip verstehen. Verstehen, was menschliches Leben ist, heißt, sein Prinzip verstehen. Es gibt daher kein Verstehen dessen, was menschliches Handeln, was menschliches Leben ist, das nicht als solches Erkenntnis des Guten wäre. Die Vorstellung, es gäbe eine Handlungstheorie oder eine Moralpsychologie unterschieden von der Ethik, ist nicht nur falsch. Sie erzeugt die Illusion, wir hätten das menschliche Leben vor uns, um dann, da wir wissen, was es ist, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass es gut ist; wir platzieren das Leben im praktischen Denken als etwas, das wir gut machen müssen und also können. Das ist die allgemeine Form des Bösen: Ich behaupte, das Prinzip des Guten zu sein, während in Wahrheit das Gute das Prinzip meiner ist. Die Gestalten des Bösen, denen wir begegnen werden, sind Gestalten davon. Das Endliche, das sich für absolut ausgibt, bin immer ich.

Die erste Form, in der „gut“ erscheint, ist das Denken eines Mittels. Doch die Gutheit des Mittels ist der Gutheit des Zwecks untergeordnet und damit dem, was an sich Zweck ist. Das ist das Leben, und so ist die Idee des Guten die Idee des Lebens. Das Leben wiederum erscheint zunächst als natürliches Leben. Das legt nahe, dass das praktische Denken, das Denken des Guten, das Denken eines natürlichen Lebens ist. Doch das ist falsch. Das praktische Denken ist kein Denken irgendeiner Natur, das im praktischen Denken gedachte Leben ist kein natürliches Leben.

Ein natürliches Leben ist genau das: ein Leben, eine Art Leben neben anderen, das Leben der Wanderratte neben dem der Blattschneiderameise. Das sind verschiedene Arten, eine anders als die andere. Das Leben, das im praktischen Denken gedacht wird, ist nicht ein Leben neben anderen. Sein Unterschied zu jenen, dem der Wanderratte und dem der Blattschneiderameise, ist unendlich. Das ist so, weil das praktische Denken universal ist und sein Gegenstand das Gute, nicht ein Gutes.

Das praktische Denken ist ursprünglich ein Wissen um sich selbst als kein natürliches Leben; das erste, was wir wissen, da wir das Gute denken, ist dies: Wir sind kein natürliches Leben.[2] Dieses Wissen wird verzerrt, wenn es sich mit der Vorstellung verbindet, Leben sei als solches natürlich. Dann ist unser Leben ein natürliches Leben, und was im praktischen Denken gedacht wird, ist dann nicht unser Leben. Dann wird das praktische Denken leer und seine Unendlichkeit tritt auf als unendlicher Narzissmus dessen, der sich, von seinem Leib losgerissen, als Prinzip des Kosmos weiß. (Dieser Narzissmus hat viele Formen; wir begegnen ihm unten als Utilitarismus.) Wenn man das bemerkt und die Unterscheidung von Denken und Leben verwirft und dabei dennoch das praktische Denken als Denken eines natürlichen Lebens versteht, vergöttlicht man dieses natürliche Leben. (Dieser Form der Hybris begegnen wir unten bei Hobbes.)

Unser Leben ist kein natürliches Leben. Das mag absurd scheinen. Isst und scheißt der Mensch nicht, pflanzt er sich nicht fort und stirbt? Ja. Aber zu sagen, dies zeige, dass unser Leben eine Art natürliches Leben sei, ist genauso klug wie zu argumentieren, dass das natürliche Leben eine Art chemischer Prozess sei, weil es sich durch chemische Reaktionen vollzieht. Es stimmt, dass bei der Teilung einer Zelle chemische Reaktionen ablaufen. Aber diese Tätigkeit der Zelle liegt jenseits dessen, was durch Gesetze der Chemie verstanden werden kann, und das kraft der Form ihres Prinzips. Die Frage, ob unser Leben ein natürliches Leben ist, wird nicht dadurch entschieden, dass man beobachtet, dass Menschen essen und sich fortpflanzen. Die einzige Weise, diese Frage zu beantworten, ist es, das Gute des praktischen Denkens zu klären.

Ich werde nur einen kleinen Schritt zu einer solchen Klärung tun. Meine Überlegungen werden größtenteils negativ sein. Dennoch können sich ex negativo Konturen des Lebens abzeichnen.

2 Das Gute als Mittel

Wir sehen Dinge entstehen und vergehen nach mechanischen und chemischen Prinzipien, die das, was nach ihnen geschieht, nicht als gut erkennen lassen. Noch als schlecht. Gut und schlecht finden keine Anwendung.

Aber nun denke ich: „Es ist gut, A zu tun, weil …“, wobei A-tun ein Mittel ist zu dem, was die Leerstelle füllt, was ich also als Zweck vorstelle. Dieser Gedanke stellt den Zweck als Prinzip der Gutheit des Mittels dar, das ich zu ihm ergreife: Das Mittel ist gut, weil es diesem Zweck dient.

Außerhalb seines Zusammenhangs mit dem Zweck ist das Mittel etwas, das geschieht, wie es geschieht, ist, wie es ist; gut und schlecht haben keinen Ort. Der Zweck öffnet den Gegensatz von gut und schlecht; er zieht das Mittel in den Bereich des Denkens von „gut“.

Die Macht des Zwecks, etwas, das ist, wie es ist, in etwas zu verwandeln, das, indem es soundso ist, gut ist, da es nicht so ist, schlecht, liegt in seiner eigenen Gutheit, der Gutheit des Zwecks. Weil und insofern der Zweck gut ist, ist er Prinzip der Gutheit des Mittels.

Diese Macht des Zwecks ist nicht sein Vermögen, eine neue Beschreibung von etwas zu geben, das unterhalb dieser bleibt, wie es ist. Die Beschreibung nämlich ist eine Form der Erklärung, einer Erklärung, warum etwas ist, wie es ist, geschieht, wie es geschieht. Dass das Mittel so ist, wie es ist, wird dadurch erklärt, dass es, indem es so ist, gut ist, gut für den Zweck.

Es definiert diese Form des Denkens, dass ein Mittel kein Zweck ist, nicht insofern es Mittel ist: Etwas als Mittel zu einem Zweck vorzustellen heißt nicht, nicht darin, es als Zweck vorzustellen. Wenn ein Mittel ebenso als Zweck vorgestellt wird, dann in einem anderen, weiteren Gedanken. Der Zweck ist also ein äußerer Zweck: etwas anderes als das, was ihm dient. Umgekehrt ist das Mittel ein äußeres Mittel: etwas anderes als das, dem es dient.

Der Zweck ist etwas anderes als das Mittel zu ihm. Nur weil er etwas anderes ist, kann er das Mittel in die Sphäre des Guten ziehen. Diese Macht des Zwecks liegt darin, dass er selbst gut ist. Nun gibt es aber innerhalb der vorliegenden Form des Denkens keine Weise, den Zweck als gut zu begreifen, als die, ihn als Mittel zu einem – weiteren, von ihm selbst verschiedenen – Zweck aufzufassen. Außerhalb seiner Verknüpfung mit einem – weiteren – Zweck ist der vorgebliche Zweck etwas, das ist, wie es ist, nach Prinzipien entsteht und vergeht, die den Ideen von gut und schlecht keinen Ort geben. Im Denken äußerer Zwecke gibt es kein Vorstellen von etwas als Zweck an sich selbst.

Umgekehrt gibt es im Denken äußerer Mittel keine Vorstellung von etwas als Mittel an sich selbst. Es gibt nämlich stets Bedingungen, unter denen allein ein Mittel ist, wie es sein muss, um dem Zweck zu dienen. Wenn wir erklären, warum diese Bedingungen vorliegen, gemäß einer Form, die gut und schlecht nicht ins Spiel bringt, erklären wir nicht, warum das Mittel so ist, wie es ist, damit, dass es gut ist, da es so ist. Und dann erklärt der Zweck nicht, sondern gibt lediglich eine Beschreibung von etwas, das unterhalb dieser bleibt, wie es ist. Wir denken also einen Zweck nur als Zweck, wenn wir erklären, warum das Mittel zu ihm so ist, wie es sein muss, um ihm zu dienen, weil es gut ist, da es so ist. Das aber tun wir nur, indem wir das Mittel als Zweck verstehen, als Zweck eines weiteren Mittels.

Im Denken äußerer Zwecke, äußerer Mittel, wird nichts als Zweck an sich, nichts als Mittel an sich vorgestellt. Zugleich können wir einen Zweck als Zweck nur festhalten, indem wir ihn als Mittel begreifen. Und wir können ein Mittel als Mittel nur festhalten, indem wir es als Zweck auffassen. Wäre das Denken von „gut“ auf diese Form beschränkt, bräche es daher zusammen. Es ginge in seinem doppelten Regress – der Mittel und der Zwecke – unter.

Der Konsequentialismus ist das Böse, das dieser Form des Guten entspringt: dem Denken des Mittels. Er ist nämlich die Idee, das praktische Erkennen von etwas als gut sei das Denken seiner als Mittel: als etwas, das etwas anderem, seinem Zweck, dient. Unsere Überlegungen zeigen, dass der Konsequentialismus keine falsche, sondern gar keine Idee des Guten ist.

Man könnte meinen, die konsequentialistische Idee, dass es gut ist, etwas zu tun, heiße, dass es einem Zweck dient, könne aufrechterhalten werden, wenn es Dinge gibt, die schlichtweg so sind, dass es gut ist, wenn sie sind. Umgekehrt könnte man meinen, die offensichtliche Richtigkeit des Konsequentialismus beweise, dass es solche Dinge gibt. Diesen Gedanken weiterführend werden wir uns die Fähigkeit zuschreiben, solche Dinge als eben solche zu erkennen, ein Vermögen der Wertanschauung, wie man es nennen kann. Das ist aber sinnlos, und zwar nicht, weil die Idee eines solchen Vermögens fragwürdig wäre. (Diesem Einwand würde entgegengehalten, dass es so fragwürdig nicht ist, da wir auch andere Formen der Erkenntnis einer nicht-materiellen Wirklichkeit kennen, etwa in der Mathematik. Weshalb also sollten wir nicht Werte anschauen können?) Sondern es ist sinnlos, weil es keine Form des Denkens gibt, in der man das, was hier an sich gut sein soll, vorstellte. Es wird nämlich in die logische Rolle eines äußeren Zwecks gebracht, und das legt fest, dass es nichts ist, dessen Gutheit durch es selbst erkannt wird. Wenn man es in dieser Rolle fixiert und gleichzeitig behauptet, es sei an sich gut, sagt man nichts. Wiewohl also sinnlos, ist die Idee doch in jeder ihrer Anwendungen böse aufgrund der Anmaßung, mit der dieses und jenes als schlichtweg gut proklamiert wird, vorgeblich als solches erkannt in meiner Wertanschauung – worin dieses Vermögen, ich selbst also, wertvoller bin denn jeder Wert –, während in Wahrheit, was ich auf diese Weise sehe, nichts ist. Dass es nichts ist, ist entschieden durch seine logische Form.

Der klassische Konsequentialismus, der Utilitarismus, versteht das, wozu das gute Handeln das Mittel ist, als Lust. Das ist sinnvoll, weil Lust als an sich gut verständlich ist. Das ist so, weil die Lust das Leben ist, und das Leben ist an sich selbst Zweck. Dem wenden wir uns nun zu.

3 Das Gute als Leben

3.1 Innerer Prozess, Organismus

Das ist es, was wir gesehen haben, da wir das Gute als Mittel denken: Ein Zweck ist nur ein Zweck, indem er ein Mittel ist; ein Mittel ist nur ein Mittel, indem es ein Zweck ist. Das ist ein doppelter Regress. Es ist ein Regress im Denken des Mittels. Wir können aber dasselbe noch einmal denken, indem wir es jetzt nicht gemäß dieser Form denken, sondern als Artikulation einer anderen Form. Das Gute, gedacht gemäß dieser anderen Form, ist dies: eine Totalität, in der jedes Element Mittel und Zweck ist, Mittel, indem es Zweck, und Zweck, indem es Mittel ist. Jedes Element dieser Totalität ist Zweck jedes anderen und dies, indem es Mittel jedes anderen ist. Das ist der Regress, der sich zum Kreis geschlossen hat.

Da die Kette der Mittel als Kreis zu sich selbst zurückkehrt, wird jede Bedingung der Zweckmäßigkeit eines jeden Mittels von innerhalb des Kreises bereitgestellt. Jedes Element, als Zweck aller anderen, verbraucht diese, verwirklicht sich durch ihren Untergang, und das so, dass es sich darin um ihretwillen verausgabt und von ihnen verbraucht wird. So wiederholt sich der Kreis, nicht per accidens, sondern durch sich selbst. Es ist Aufstieg und Niedergang des Phönix in jedem Augenblick unmittelbar identisch.

Mit Hegel nenne ich das den inneren Prozess.[3] Jedes Element seiner ist Zweck, ja, Zweck an sich. Es ist an sich selbst Zweck, weil es an sich selbst Mittel ist. Jedes Element des inneren Prozesses nämlich ist nicht durch das Wirken von etwas außerhalb des Prozesses zweckmäßig; es hat keine Bestimmtheit jenseits seiner Zweckmäßigkeit. Wenn wir das, was an sich Mittel ist, „Werkzeug“, griechisch „organon“, nennen, dann ist eine Gesamtheit solcher Mittel Organismus. Der so eingeführte Begriff des Organismus ist ein logischer Begriff, er bezeichnet eine logische Form: den inneren Prozess.

Jedes Element des inneren Prozesses ist Zweck dessen, wozu es Mittel ist. So kehrt jedes Element zu sich zurück, nämlich durch alle anderen hindurch. Im Unterschied zu seinen Elementen ist der innere Prozess als Ganzes, der Organismus, ein Zweck, der unmittelbar sein eigenes Mittel ist. Er ist durch nichts anderes als sich selbst vermittelt. Dies lässt sich so ausdrücken, dass der innere Prozess als Ganzes nicht nur an sich gut, sondern das Gute ist. Er ist das, durch das und in dem alles Mittel ist, an sich selbst Mittel, und alles Zweck ist, an sich selbst Zweck. Der innere Prozess ist also das, wodurch alles gut ist. Eben das wird richtig das Gute genannt.

Dass der Organismus formal das Gute ist, ist eine logische Bemerkung. Es ist kein praktischer Gedanke. Doch ermöglicht es uns zu verstehen, warum dies, dass man etwas als organisch oder als Organismus beschreibt, überall so verstanden wird, dass es eben darin als gut vorgestellt wird. Zum Beispiel ist ein Staat, dessen Institutionen als Organe miteinander verbunden sind, gut. Gleichzeitig erlaubt uns die logische Betrachtung, eine logische Konfusion zu durchschauen. Der logische Nexus von Organismus und Gut bedeutet nicht, dass es gut ist, dass es Organismen gibt oder Dinge organisch sind – was es uns dann zur Aufgabe oder gar zur Pflicht machen möchte, Organisches und Organismen zu hüten und zu pflegen, Schaden von ihnen abzuwenden und sie vor Angriffen zu bewahren. Das bedeutet es gerade nicht. Denn dieser Gedanke stellt den Organismus als Glied einer Reihe von Mitteln dar – Mitteln, die wir um seiner willen ergreifen – als letztes Glied einer solchen Reihe. Doch die Idee eines solchen letzten Glieds ist leer; ein Glied einer solchen Reihe ist stets nur für etwas anderes gut als es selbst. Umgekehrt ist das, was an sich gut ist, sein eigenes Mittel.

3.2 Äußerer Prozess

Der innere Prozess heißt innerer im Unterschied zum äußeren Prozess. Als innerer Prozess ist der Organismus eine Totalität von Elementen, deren jedes Mittel und Zweck eines jeden ist. Als äußerer Prozess dagegen ist der Organismus nicht nur eine Einheit von Elementen; er ist eins in der Weise, dass er sich als Ganzes dem entgegenstellt, was er nicht ist. Er stellt sich dem gegenüber, was er nicht ist, indem er als Ganzes handelt und einen Zweck verwirklicht, der somit Zweck des Ganzen ist. Im inneren Prozess gibt es keinen solchen Zweck. Dort ist der Organismus Zweck, Zweck, der sein eigenes Mittel ist. Hier hat der Organismus Zwecke, Zwecke, für die er Mittel aus dem gewinnen muss, was er nicht ist. Der Organismus ist also doppelt. Er ist Einheit von Organen als Prinzip dessen, was jedes von ihnen tut. Und er ist Einheit gegen das, was er nicht ist, in dem, was er als Ganzes tut. Als Einheit der Elemente ist die Einheit nur in ihren Elementen wirklich. Als Einheit gegen das, was sie nicht ist, ist die Einheit eine eigene Wirklichkeit.

Eine Einheit von Mitteln, von denen jedes nichts als Mittel ist, weil es als solches Zweck eines jeden ist, kann Organismus heißen. Dieselbe Einheit, die als Ganzes gegen das handelt, was sie nicht ist, nenne ich Tier. Der so eingeführte Begriff des Tiers ist ein logischer Begriff, der eine logische Form bezeichnet: den äußeren Prozess.

Im äußeren Prozess bezieht sich das Tier auf das, was es nicht ist, und zwar so, dass es diesen Gegensatz überwindet und das, was es nicht ist, zu einem Element seines inneren Prozesses macht. Dieses Verhältnis des Tiers zu dem, was es nicht ist, ist total: Es ist Gegensatz gegen das Andere, nicht Unterschied von etwas anderem. Das Tier hat das, was es nicht ist, immer schon sich untergeordnet; es verhält sich zu allem in der Form der Gewissheit, dass es Mittel für es, das Tier, ist. In seinem äußeren Prozess demonstriert das Tier die Wahrheit dieser Gewissheit. Der Term „alles“, wie er hier verwendet wird, hat hier keine von anderswo erborgte Bedeutung. Er wird durch den logischen Charakter des äußeren Prozesses, durch sein Wesen als Gegensatz, getragen. Weil die Beziehung des Tiers diesen Charakter hat: Beziehung zu sein zu dem, was es nicht ist, ist sie universal, Beziehung zu allem.

Wie der innere, kehrt auch der äußere Prozess zu sich zurück, aber auf andere Weise. Im äußeren Prozess verwandelt das Tier das, was es nicht ist, so in sich selbst, dass es darin seinen Gegensatz gegen das, was es nicht ist, wiederherstellt. Das Tier benutzt sich selbst als Mittel, es vernutzt sich, um sich eben darin herzustellen. Der äußere Vorgang wiederholt sich wie eine Aufgabe, vor der man erneut steht, eben da man sie erledigt hat. Er ist Selbstauflösung und Selbstherstellung in jedem Augenblick unmittelbar identisch.

Im äußeren Prozess handelt das Tier als Ganzes. Es ist deshalb Körper und Seele.

Ein Schimpanse ergreift eine Erdbeere. Sein Greifen, der Schimpanse in diesem Greifen, ist gegliedert: Er ist Rumpf, Arm, Hand. Doch ist es der Schimpanse als Ganzes, der die Erdbeere ergreift. Kein Teil von ihm tut dies, auch wenn sich seine Glieder koordiniert bewegen. Daraus folgt, dass das Prinzip seines Greifens nicht das Prinzip eines seiner Teile ist. Kein Teil des Schimpansen, sondern der Schimpanse als Ganzes bestimmt seine Glieder zu handeln, wie sie es tun. Das Prinzip des Greifens des Schimpansen ist selbst ein Akt des Schimpansen als Ganzen.

Dieser Akt, da er das Prinzip der Einheit der Bewegung der Glieder des Schimpansen ist, ist nicht gegliedert, sondern einfach. In diesem Akt ist der Schimpanse nicht gegliedert. In diesem Akt handelt er als einfache Einheit. Der Akt, in dem das Tier als einfache Einheit handelt, ist das Bewusstsein. Der so eingeführte Begriff des Bewusstseins ist ein logischer Begriff. Er bezeichnet eine logische Form: denäußeren Prozess.

Das Tier als einfache Einheit ist Seele. Wittgenstein hat das verstanden. Einerseits bemerkt er, dass eine Seele, die nicht einfach wäre, keine Seele wäre.[4] Andererseits sagt er, das Bild einer menschlichen Seele sei das Bild eines Menschen.[5] Das gilt für den Schimpansen. Seine Seele zu sehen heißt, das Tier als Ganzes zu sehen. Deshalb sehen wir die Seele des Tiers in seiner Artikulation nach seinem äußeren Prozess: seiner Artikulation in Glieder. Eben darin verstehen wir die Seele als einfach.

Etwas kann für einen Zweck, den ein Tier verfolgt, gut sein. Da dieses Verfolgen ein Element des äußeren Prozesses ist und nur als Element dieses Prozesses einen Zweck verfolgt, ist das, was für den Zweck eines Tiers gut oder schlecht ist, gut oder schlecht für das Tier. Das Tier ist Zweck.

Was einen äußeren Zweck fördert, ist für diesen Zweck gut und in diesem Sinne relativ gut. Wenn etwas gut für ein Tier ist, kann es scheinen, dass das, was in dieser Weise gut ist, relativ gut ist. Schließlich ist es für etwas gut: für das Tier. Doch das ist falsch. Was für einen äußeren Zweck gut ist, ist relativ gut, weil die Vorstellung von etwas als gut für einen solchen Zweck nicht erhellt, warum dieser Zweck als gut verstanden ist. Umgekehrt ist, was sein eigenes Mittel ist, nicht relativ gut. Der äußere Prozess ist aber diese Form des Zwecks: Zweck, der sein eigenes Mittel ist. Wenn wir von „gut für diesen Zweck“ zu „gut für das Tier“ übergehen, gehen wir nicht von etwas, relativ wozu etwas gut sein kann, zu einem anderem. Wir transzendieren die relative Gutheit. Das Tier ist nicht relativer, sondern absoluter Zweck. Es ist kein Zweck, es ist der Zweck.

Es ist klar, dass das im praktischen Denken gedachte Gute kein äußerer Zweck sein kann. Es kann nicht ein Zweck, es muss der Zweck sein. Es möchte der äußere Prozess sein. Es gibt zwei Möglichkeiten, das Verhältnis des äußeren Prozesses zum praktischen Denken zu verstehen: Utilitarismus und Hobbes.

Das Tier ist absoluter Zweck. Man könnte meinen, das bedeute, dass es ein Zweck ist, den zu fördern absolut gut ist. Oder: Die Lust eines Tiers ist absoluter Zweck. Man könnte meinen, das bedeute, dass es unbedingt gut ist, Lust zu erhalten, herbeizuführen, zu steigern, zu fördern. Doch das ist das Gegenteil dessen, was es bedeutet. Ein Zweck, den man fördert, ist als solcher, nach seiner logischen Form, ein relativer Zweck. Die Erkenntnis, dass das Tier absoluter Zweck ist, ist die Erkenntnis, dass es eben das nicht ist: relativer Zweck. Die Idee, dass es gut sei, Tieren wohlzutun und Lust zu bereiten, entsteht, wenn man den logischen Nexus des Tiers und seiner Lust mit dem Guten begreift, während man gleichzeitig das Gute darauf beschränkt, äußerer und also relativer Zweck zu sein. Der Utilitarismus reduziert das Tier und seine Lust auf einen relativen Zweck meiner.

Ein Tier, das einem anderen Tier wohltut, macht sich zum Hirten dieses Tiers. Das Wohltun ist dann als solches ein Element des äußeren Prozesses des Hirten. Im Prozess des Hirten ist das Tier in seiner Obhut kein absoluter Zweck; absoluter Zweck ist vielmehr der Hirte. Es gibt Hirten im Tierreich: etwa Ameisen, die Pilze kultivieren. Der Utilitarismus will das Tier und sein Vergnügen als absoluten Zweck denken und versteht es doch als hervorgebracht durch etwas anderes als sich selbst – durch mich nämlich. Damit stellt er es als relativen Zweck dar. Die Idee, dass ich Lust universal fördern solle, ist in Wahrheit eine grenzenlose Verachtung des Tiers. Denn Lust wird nicht gefördert, sie fördert sich selbst; darin beweist sie ihre absolute Gutheit. Der Utilitarismus reduziert das Tier und seine Lust auf einen relativen Zweck meiner. Dabei bleibt es formal auch dann, wenn ich mich aufblähe und zum Hirten des Kosmos erkläre.

Das ist die erste Art, das Tier und seine Lust im praktischen Denken zu verorten: als etwas, das es zu fördern gilt. Die zweite, von Hobbes formulierte Weise stellt das praktische Denken als das Selbstbewusstsein des äußeren Prozesses dar, als sein Bewusstsein von sich selbst als absolutem Zweck.

Die Gutheit der Lust wird im praktischen Denken gedacht, nicht wenn Lust Inhalt eines praktischen Denkens ist, das formal einen äußeren Zweck denkt. Sie wird im praktischen Denken gedacht, wenn das Selbstbewusstsein des äußeren Prozesses nicht nur Gefühl, sondern Denken ist, wenn das Bewusstsein, in dem sich der Prozess erhält, nicht nur sinnlich, sondern intellektuell ist. Das ist die Weise, wie Hobbes das praktische Denken versteht. Wir sehen das in drei grundlegenden Ideen von ihm.

Die erste ist, dass ein Mensch stets nur das freiwillig tut, was für ihn gut ist.[6] Das heißt, der formale Gegenstand des praktischen Denkens ist das, was für den gut ist, der praktisch denkt. Das identifiziert das praktische Denken als Selbstbewusstsein des äußeren Prozesses. Denn was für ein Tier gut ist, ist formal der äußere Prozess des Tieres.

Zweitens stellt Hobbes als erstes Gesetz der Vernunft das Gebot vor, zu tun, was das eigene Leben erhält, und zu unterlassen, was seine Erhaltung behindert.[7] Das besagt dasselbe wie der Satz über die Freiwilligkeit. Alles, was ein Tier tut, wenn es etwas tut, das mit seinem äußeren Prozess übereinstimmt, ist für diesen Prozess zweckmäßig; indem das Tier es tut, ist daher der äußere Prozess für sich selbst zweckmäßig, d. h., er erhält sich selbst. Hobbes’ Gesetz der Vernunft spricht das Selbstbewusstsein des äußeren Prozesses aus.

Drittens legt Hobbes fest, dass jeder Mensch ein natürliches Recht auf alles hat, weil alles Mittel zur Erhaltung seines Lebens sein kann, die zu verfolgen ihm das Gesetz der Vernunft gebietet.[8] Der äußere Prozess ist nun der, dass das Tier sich dem entgegenstellt, was es nicht ist. Das ist eine totale Beziehung, in der sich das Tier zu allem verhält. Die Beziehung ist die Gewissheit des Tiers, dass alles ein Mittel zu ihm selbst ist. Hobbes’ natürliches Recht ist diese Gewissheit, da sie eine intellektuelle Form angenommen hat, die Form eines Gedankens.

Hobbes’ Gesetz der Vernunft, Hobbes’ natürliches Recht, sind praktisches Denken verstanden als Selbstbewusstsein des äußeren Prozesses. Der sprachliche Ausdruck dieses Selbstbewusstseins wäre „ich“. Dieses „ich“ wäre ein Begriff, denn es drückt aus, was sich wiederholt und darin immer dasselbe bleibt. Zugleich wäre es das Bewusstsein eines einzelnen Tieres. Doch wäre es kein Singular, denn es stünde nicht im Gegensatz zu einem „du“. Das praktische Denken als Selbstbewusstsein des äußeren Prozesses ist solipsistisch in dem Sinne, dass seine logische Form das Bewusstsein eines anderen ausschließt. Es ist kein Bewusstsein meiner selbst als einer unter vielen, die gleichermaßen wirklich sind – one among many equally real.[9]

Um das praktische Denken, wie Hobbes es versteht, auszudrücken, könnten wir neben „ich“ auch „das Gute“ verwenden. Tatsächlich wäre der erhellendste Ausdruck einer, der die Worte „gut“ und „ich“ miteinander verschmilzt. „Ich bin ich“ ist „ich bin gut“ ist „das Gute ist gut“. Hobbes’ praktisches Denken ist das Selbstbewusstsein des Tiers als der Zweck und damit als das Gute selbst.

Der Utilitarismus stellt das Tier und seine Lust als einen äußeren Zweck dar. Das ist sinnlos. Hobbes stellt das praktische Denken als Selbstbewusstsein des äußeren Prozesses dar. Das ist sinnvoll. Aus diesem Grund ist Hobbes dem Utilitarismus unendlich überlegen. Doch was er als das Gute darstellt, ist das Böse. Praktisches Denken ist nach Hobbes die Gewissheit, dass ich das Gute bin; ich bin das Zentrum dessen, was ist; was ist, ist mein. Das ist seit jeher als das Böse selbst erkannt. Doch wiewohl wir wissen, dass Hobbes gar keine Idee des Guten vorstellt, sondern die Worte des Bösen spricht, sehen wir damit noch nicht, wie das Gute anders denn als der äußere Prozess des Lebens verstanden werden kann.

Hier kann man versuchen, auf die Gutheit zurückzukommen, die in der Idee des Organismus gedacht wird; man kann versuchen, den äußeren Prozess erneut als inneren zu verstehen. Das führt zu der Idee von Ökosystemen, der Erde, vielleicht der Natur als Ganzem als Organismus. Die Idee kann als gewagte wissenschaftliche Hypothese vorgetragen werden – an meiner Universität trägt ein Forschungsschwerpunkt den Namen „Breathing Nature“ – oder als ethisch vornehmes Verständnis der Natur und unseres Orts in ihr oder am besten als beides. Die Quelle der Anziehungskraft dieser Idee ist logisch: Der Organismus hat die richtige logische Form, um als das Gute gedacht zu werden.

Die Idee wird von Disney in der Rede ausgebreitet, in der der Löwenkönig Mufasa seinem Sohn Simba das große Ganze als ein Leben erklärt, in dem, während der Löwe sich von der Gazelle ernährt, die Gazelle (über einige Umwege) sich wiederum vom Löwen ernährt, so dass beide Organe sind, die in einem allumfassenden inneren Prozess durch das jeweils andere zu sich zurückkehren. Wenn einem das sentimental vorkommt, dann ist das vielleicht das vage Bewusstsein einer logischen Inkongruenz. Es ist nicht möglich, den äußeren Prozess in einen inneren umzubiegen, weil der Organismus nur darin bestimmt ist, dass er sich als Ganzes dem entgegensetzt, was er nicht ist, und also äußerer Prozess ist. Die Vorstellung eines totalen inneren Prozesses ist leer. Und doch ist sie böse, denn in Wahrheit blähe ich in diesem Gedanken meine Seele zur Weltseele auf und damit mich zur Welt.

4 Der Gattungsprozess

In seinem äußeren Prozess reproduziert sich das Tier, indem es sich selbst zum Mittel macht und sich selbst verbraucht. Der äußere Prozess ist so die Erhaltung des einzelnen Tiers.

Eben deshalb ist das Entstehen eines einzelnen Tiers kein Term dieses Prozesses. Nun kann ein Tier nicht aus etwas anderem als sich selbst entstehen. Während also ein Tier nicht von einem Tier gemacht wird – der Begriff des Machens gehört zum äußeren Prozess –, entsteht ein Tier aus einem Tier. Mit Hegel nenne ich das Entstehen eines Tieres aus einem anderen den Gattungsprozess.[10]

Die Bezeichnung ist treffend, denn der Prozess ist gener-ativ: Er konstituiert Allgemeinheit. Einerseits unterscheidet der Prozess ein Individuum von einem anderen, da eines aus einem anderen entsteht. Und doch sind beide gerade darin, dass eines aus dem anderen entsteht, dasselbe. Auf diese Weise wird dasselbe in vielen – Allgemeinheit – nicht durch einen äußeren Vergleich, sondern durch den logischen Charakter des Prozesses konstituiert. Der Prozess unterscheidet durch seine Form das, was sich wiederholt und dasselbe bleibt, von dem, was sich verändert und immer anders ist: die Gattung vom Individuum.

Ein Tier entsteht aus einem anderen. Das heißt, ein Tier vergeht in einem anderen. Das ist ein und derselbe Gedanke. Das Tier, das – unverständlicherweise – gebärte, aber nicht stürbe, die universale Mutter, wäre nicht von seiner Gattung unterschieden; daher wären auch seine Abkömmlinge keine Individuen, sondern Akzidentien der universalen Mutter; sie blieben in deren Prozess einbehalten. Das bedeutet nicht, dass Gebären und Sterben zusammenfallen müssen. Aber es zeigt, warum nichts unverständlich daran ist, wenn ein Tier im Moment der Geburt zur Nahrung für seine Nachkommen wird. Auch wenn ein Tier nach dem Gebären weiterlebt, verausgabt sich das Individuum im Prozess seiner Gattung.

Wie ein Organ nur in und durch den inneren Prozess, dessen Element es ist, sein eigenes Mittel und an sich gut ist, so ist der äußere Prozess nur in und durch den Gattungsprozess, dessen Element er ist, sein eigenes Mittel und absoluter Zweck. Der äußere Prozess ist, für sich betrachtet, die Selbsterhaltung des Individuums. Doch der äußere Prozess ist als solcher Element des Gattungsprozesses, und als ein solches Element wird er in der Erzeugung verzehrt, die als solche der Untergang des Individuums ist. Da das einzelne Tier nur als Element des Gattungs-prozesses Zweck ist, ist jedes Handeln eines einzelnen Tieres beides: seine Selbsterhaltung und seine Selbstvernichtung, und ist das erste, indem es das zweite ist. Der Gattungsprozess ist Entstehen und Vergehen des Individuums in jedem Augenblick unmittelbar identisch.

Das Leben ist äußerer Prozess. Darin ist es Gattungsprozess. Vielleicht ist also das praktische Denken nicht das Bewusstsein des äußeren Prozesses, sondern des Gattungsprozesses. Im Bewusstsein der Gattung mag das Individuum seinen Solipsismus oder das Böse überwinden.

Wir kennen den Gattungsprozess von Tierarten, z. B. der Blattschneiderameise. Da sich das Individuum im Gattungsprozess auf ein anderes als dasselbe wie sich selbst bezieht, ist der Gattungsprozess sozial gegliedert. So wird es möglich sein, von Individuen zu sagen, dass sie in Bezug auf ein anderes Individuum gut handeln, wobei der Gattungsprozess das Prinzip der Bedeutung von „gut“ gibt. Und so kann es sein, dass ein Individuum gut handelt, indem es seinen eigenen Untergang herbeiführt. Es kann sein, dass es seinen Untergang in einer Form der Verteidigung herbeiführt, die zur Gattung gehört, wie es bei bestimmten Ameisenarten der Fall ist. Man könnte versucht sein zu sagen, dass eine Ameise in einem solchen Fall etwas tut, was schlecht für sie ist, da sie dabei stirbt. Aber das ist falsch, denn die Idee, dass etwas für das Individuum außerhalb seines Gattungsprozesses gut oder schlecht ist, ist leer. Das einzelne Tier hat kein Gut gegen seine Gattung.

Das scheint eine Möglichkeit zu öffnen, Hobbes zu überwinden. Ich kann mich als Individuum oder äußerer Prozess der Menschheit oder dem Gattungsprozess unterordnen. Dann ist das Gesetz meines praktischen Denkens nicht mehr das Hobbes’sche Naturgesetz, das mir befiehlt, alles zu tun, was mein Leben bewahrt. Mein Gesetz ist vielmehr, dass ich tue, was dem Gattungsprozess dient. Das kann erfordern, dass ich gegen das handle, was, unabhängig von diesem Prozess betrachtet, mein Wohl wäre. Aber ich habe kein Gut gegen meine Gattung.

Auch hier gibt es zwei Möglichkeiten, den Gattungsprozess als praktisches Denken zu begreifen. Die erste ist die von G. E. M. Anscombe und Peter Geach, die zweite die von Philippa Foot und Michael Thompson. Zuerst Anscombe.

Versprechen, so Anscombe, ist eine Praxis, durch die Menschen andere Menschen dazu bringen können, etwas zu tun, ohne dafür Gewalt anwenden zu müssen. Sie beschreibt das als „ein unumgängliches Hilfsmittel bei einer enormen Menge menschlichen Tuns und damit auch bei der Beförderung menschlichen Wohlergehens“.[11] Wenn eine Praxis so beschrieben werden kann, dann, so schreibt sie, ist es notwendig, dass die Menschen das Verfahren anwenden und es als Regel behandeln; wer nicht in Übereinstimmung mit einer solchen Notwendigkeit handelt, versäumt darin, gut zu handeln.[12]

Anscombes Beschreibung der Praxis hat eine Form, die auch die Beschreibung einer Praxis von Ameisen aufweisen kann, einer Praxis, durch die Ameisentätigkeiten gefördert und Ameisengüter erlangt werden. Die Ameise oder der Mensch, die in Übereinstimmung mit der Praxis und also ihrem Gattungsprozess handelt, handelt gut in dem Sinne, den Anscombe eben damit diesem Begriff gibt. Die Bedeutung von „gut handeln“ ist spezifisch für die jeweilige Gattung: Ameisen handeln gut, wenn sie dies tun, Menschen, wenn sie jenes tun, beide entsprechend ihrer Gattung.

Es wird in derselben Form erklärt, was es heißt, gut zu handeln, für Ameisen und für Menschen. Daraus folgt, dass es dieser Erklärung nicht wesentlich ist, dass sie den betrifft, der sie gibt. Daraus folgt weiter, dass die so erklärte Idee des guten Handelns nicht als solche das Handeln dessen, der sie erklärt, bestimmt. Sie ist keine praktische Idee. Die Verwendung von „gut“ in Anscombes Rede vom guten Handeln ist nicht jene, die mein Thema ist.

Anscombe weiß das. Sie sagt, es sei notwendig, dass Menschen (Ameisen) auf bestimmte Weise handeln, da dadurch menschliche (ameisige) Tätigkeiten gefördert und menschliche (ameisige) Güter erlangt werden. Aber dass das so ist, sagt sie weiter, zeigt nicht, dass es notwendig ist, so zu handeln.[13] Es gibt also: es ist notwendig, dass Menschen so handeln, und es gibt: es ist notwendig, so zu handeln. Das zweite drückt eine im praktischen Denken gedachte Notwendigkeit aus, eine praktische Notwendigkeit. Denn der zweite Satz ist subjektlos und hat keinen Platz für eine Variable, deren Werte Menschen oder Ameisen sein können.

Nachdem Anscombe erklärt hat, dass es notwendig ist, dass sich die Menschen an die Praxis des Versprechens halten, schreibt sie: „All das […] beweist noch nicht die Notwendigkeit, bei Verträgen gerecht zu handeln. Es zeigt nur, dass nicht gut handelt, wer das nicht tut, dass er also nicht tut, was gut ist.“[14] Von dieser Notwendigkeit, der Notwendigkeit des gerechten Handelns, sagt sie: „[N]otwendig“ bezieht sich „auf das Wohl des Handelnden anstatt wie oben auf das Gemeinwohl.“[15] Wie kann es nun notwendig sein, so zu handeln, wie es notwendig ist, dass Menschen handeln? Das heißt, wie kann es das Wohl des Handelnden sein, so zu handeln, wie es notwendig ist, dass Menschen handeln? Der einzige Sinn, den wir bisher dem Begriff des Guten des Handelnden geben können, ist der des äußeren Prozesses. Und das scheidet jetzt aus, weil es sein kann, dass das, wovon es notwendig ist, dass Menschen es tun, die Erhaltung des eigenen Lebens hemmt.

Anscombe erklärt, dass das relevante Gut des Handelnden in einem Zweck liegen kann, den er verfolgt:

Daher ist es verständlich, wenn ein Mensch sagt, dass er keine Notwendigkeit sieht, in dieser Angelegenheit gut zu handeln, das heißt, keine Notwendigkeit […] Verträge ernst zu nehmen, es sei denn, sie dienen seinen Zwecken. Wenn aber jemand den Beweis, dass er nicht gut handeln kann, ohne X zu tun, wirklich als Beweis dafür nimmt, dass er X tun muss, dann zeigt das, […] daß er einen Zweck hat, der nur durch gutes Handeln als solches erreicht werden kann.[16]

Ein Mensch kann einen Zweck haben, durch den er es für gut erkennt, gut zu handeln, d. h. in Übereinstimmung mit der Gattung. Anscombe sagt nicht, welches dieser Zweck sein könnte. Vor allem gibt sie keinen Hinweis auf seine logische Form.

Heutzutage führen die Menschen hier die Idee eines Wertes ein. Ein Mensch mag es schätzen, gut zu handeln. Sie mag das als objektiven Wert verstehen. Das ergibt aber keinen Sinn. Entweder ist der betreffende Wert ein äußerer Zweck, und ein äußerer Zweck ist als solcher relativ. Oder der Wert liegt in der Lebensweise jener, die diesen Wert ehren, und macht dieses Leben, wie man gerne sagt, reich und erfüllend. Dann ist dieser Wert eine Form der Lust. In der Tat sind die Werte, auf die man sich beruft, häufig ganz offensichtlich die feineren Vergnügen der Wohlhabenden. Joseph Raz verkündet zum Beispiel den objektiven Wert der italienischen Oper.

Geach sagt, das Ziel des Menschen sei die Erkenntnis und die Liebe Gottes.[17] Das ist besser als die italienische Oper. Doch um diese Aussage zu verstehen, muss man Gott kennen. Deshalb hilft uns die Formel nicht weiter. Sie besagt nämlich, dass wir Gott kennten und liebten, wenn wir das Gut, das den Gattungsprozess als wesentliches Mittel enthält, verstünden. Das heißt, die Formel beschreibt das, worauf unsere Überlegungen abzwecken, als Erkenntnis und Liebe Gottes. Dem möchte ich nicht widersprechen. Wenn unsere Untersuchung gegenwärtig ins Stocken gerät, zeigt das dann, dass wir Gott weder kennen noch lieben.

Wenden wir uns Thompson zu. Er behauptet, es gebe keinen Schritt von der Erkenntnis der Gattung in Es ist notwendig, dass Fs A tun zu einem praktischen Gedanken Es ist notwendig, A zu tun. Vielmehr sei ein Gedanke der zweiten Form als solcher Erkenntnis des Gattungsprozesses. Der Gattungsprozess ist dann als solcher praktisch gedacht, und das praktische Denken ist das Selbstbewusstsein des Gattungsprozesses. Indem Anscombes Schritt vom ersten zum zweiten „notwendig“ wegfällt, fällt Gott weg.[18]

Wenn das Denken der Gattung das Selbstbewusstsein der Gattung ist, dann ist die Gattung die, die denkt, und die, die gedacht wird. Das Subjekt des praktischen Denkens ist dann ursprünglich allgemein. Es ist die Menschheit, die die Menschheit denkt.

Die Idee eines allgemeinen Subjekts des Denkens hat einen schlechten Ruf, weil sie eine geisterhafte Entität, a spooky entity, einzuführen scheint: Zusätzlich zu dir und mir, die denken, gibt es ein weiteres Subjekt, ein Supersubjekt, das denkt. Das ist abzulehnen, aber es ist ein schwacher Einwand dagegen, dass ein Supersubjekt geisterhaft sei. (Es ist überhaupt irritierend, wenn ein philosophischer Text die Sorge, etwas könne spooky sein, für einen leitenden Gesichtspunkt ausgibt, als wäre das ein philosophischer Begriff.) Es ist abzulehnen, weil es die Gattung dem Individuum äußerlich macht. Dadurch wird unerklärlich, wie das Individuum der Gattung angehören und sich ihr zugehörig wissen kann, und damit, wie die Gattung Gattung sein kann. Was geht es mich an, wenn es neben mir, der ich denke, was ich denke, ein weiteres Subjekt, die Gattung, gibt, das denkt, was es denkt? Eine lächerliche Anmaßung dieses Subjekts, zu behaupten, es sei meine Gattung!

Die Menschheit, die die Menschheit denkt, ist kein anderes Subjekt als ich. Wir sehen, was es ist, wenn wir den ersten Absatz der Kritik der praktischen Vernunft betrachten. Dort erklärt Kant, was ein praktisches Gesetz ist, und zwar so: Ein praktisches Gesetz ist als allgemein verbindlich erkannt. Es ist also die innere Bestimmung eines praktischen Gesetzes – es ist sein Wesen als praktisches Gesetz –, dass es als bindend erkannt ist. Da dies zu seiner Form gehört, weiß man das, indem man das Gesetz kennt. Es ist kein weiterer Gedanke, den ich über ein praktisches Gesetz habe, dass jeder weiß, dass dieses Gesetz ihn bindet. Vielmehr weiß ich das, weil ich das Gesetz kenne. Deshalb ist es richtig, bedingungslos zu sagen: Das Gesetz ist als verbindlich erkannt.

Kant sagt das, bevor er etwas über das praktische Gesetz sagt. In diesem Absatz führt er lediglich die Idee eines allgemeinen praktischen Gedankens ein. Ich weiß, dass jeder denkt, was ich denke, nicht in einem gesonderten Gedanken, sondern indem ich denke, was ich denke; umgekehrt weiß jeder, dass ich denke, was ich denke, nicht in einem gesonderten Gedanken, sondern indem er denkt, was er denkt. Dieses Wissen – mein Wissen, was jeder denkt, jedermanns Wissen, was ich denke – ist das Selbstbewusstsein des Gedankens, der also ursprünglich jedermanns und eben darin meiner ist. Das Subjekt des Gedankens ist Gattung. Die Gattung konstituiert sich im Denken, im Denken der Gattung als Gattung, die als solche von jedem ihrer Glieder gedacht wird. Das „Ich denke“ dieses Gattungsdenkens, sein Selbstbewusstsein, ist ein „Ich-alle denken“; es hält die Gattung und ihre Glieder in einem Gedanken zusammen.

In diesem ersten Absatz der Kritik stellt Kant also die Idee des praktischen Denkens jenseits von Hobbes auf. Thompson behauptet im Gegensatz zu Kant, dass das, was in einem solchen Denken von einem Menschen gedacht wird, ein bestimmtes natürliches Leben ist. Er folgt Kant aber – und das präzise und streng – in der Auffassung des praktischen Denkens als allgemeines Selbstbewusstsein. Das führt zu einer Inkohärenz in Thompsons Denken.

Der Gattungsprozess heißt so, weil er die Gattung ist: Der Prozess ist generativ, er konstituiert das Genus. Denn er unterscheidet durch seine Form das Einzelne von der Gattung, welche Gattung darin dessen Gattung und dem Einzelnen innerlich ist. Der Gedanke nun, der das Selbstbewusstsein der Gattung ist, ist die Gattung; daher wird es treffend Gattungsgedanke genannt. Der Gattungsgedanke ist gener-ativ, er konstituiert das Genus. Denn er unterscheidet durch seine Form das Individuum von der Gattung, die darin dessen Gattung ist und dem Individuum innewohnt.

Es gibt also Gattungsprozess und Gattungsgedanke, beide gener-ativ, gattungs-bildend, der eine als Prozess, der andere als Gedanke. Beide sind daher dem Individuum innerlich. Doch ist die Innerlichkeit der Gattung gegenüber dem Individuum im Gedanken innerlicher als im Prozess. Im Gattungsgedanken ist das Individuum, nämlich sein Selbstbewusstsein, ursprünglich das Denken seiner Gattung. Wie ich es ausdrücke: „Ich denke“ ist „Ich-alle denken“; es hält in einem Gedanken mich und meine Gattung zusammen. Im formalen Modus: In jenem „ich“, in dem ich mich als Individuum spreche, habe ich immer schon meine Gattung gesprochen. Im materiellen Modus: Ich, gerade als Individuum, bin Gattung.

Die selbstbewusste Gattung ist also kein Prozess. Der Gattungsprozess ist darin gener-ativ, dass er ein beständiges Entstehen und Vergehen von Individuen ist, worin sich der Gegensatz von Individuum und Gattung öffnet und erhält. Im Gegensatz dazu wird die Allgemeinheit der selbstbewussten Gattung nicht durch einen Prozess hervorgebracht, der sich durch die Individuen hindurch vollzieht. Vielmehr konstituiert sie sich im Denken, das Individuum und Gattung voneinander unterscheidet. Während die tierische Gattung nur in den Individuen als deren Wiederholung wirklich ist, ist die selbstbewusste Gattung ihre eigene Wirklichkeit als Gattungsgedanke. Das Individuum muss seine Allgemeinheit nicht dadurch demonstrieren, dass es in einem anderen vergeht. Das Individuum ist an sich selbst Gattung; es braucht dazu keinen Prozess.

Der Gattungsgedanke verhält sich zum Gattungsprozess wie der äußere zum inneren Prozess. Der Organismus als innerer Prozess ist eine Einheit von Organen, deren jedes Mittel und Zweck eines jeden ist. Diese Einheit ist wirklich in den Organen als das Gesetz dessen, was jedes von ihnen tut. Dieselbe Einheit hat eine eigene Wirklichkeit als äußerer Prozess, in dem das Tier als einfaches handelt.

Das Tier als einfache Einheit ist Seele, Bewusstsein ist der Akt, in dem das Tier als einfache Einheit handelt. Analog dazu ist die Gattung als Prozess die Einheit der einzelnen Tiere, deren jedes aus einem anderen entsteht und in einem anderen vergeht. Diese Einheit ist wirklich nur in den Individuen als das Gesetz dessen, was jedes von ihnen tut. Im Gattungsprozess hat diese Einheit keine eigene Wirklichkeit. Es gibt keinen Akt, in dem die Gattung als einfache handelte. Dagegen hat dieselbe Einheit eine eigene Wirklichkeit als Gattungsgedanke: Im praktischen Denken ihrer selbst handelt die Gattung als einfach. Die Gattung als einfache Einheit ist Geist, das Denken der Akt, in dem die Gattung als einfache Einheit handelt.

Was ist die Gattung, die das praktische Denken ihrer selbst ist? Es ist die Menschheit, aber das sagt nicht viel. Da die Gattung das praktische Denken ihrer selbst ist, ist das Verstehen dessen, was sie ist, nichts anderes als die Selbstaufklärung des praktischen Denken. Wir müssen also weitermachen. Aber wir können schon hier von der Gattung negativ sagen, dass sie keine Art natürlichen Lebens ist. Sie ist überhaupt keine bestimmte Art Leben.

Es ist dem praktischen Denken der Gattung eigen, dass die, die denkt, der Gattung angehört, die sie denkt. Das zeigt, dass die im praktischen Denken gedachte Gattung im praktischen Denken keine Gattung neben Gattungen ist. Sie ist nicht eine Gattung, sondern die Gattung. In dieser Hinsicht ist sie wie Sein. „Sein“ bezeichnet keine Gattung neben Gattungen. Aus diesem Grund sagt Aristoteles, Sein sei keine Gattung.[19] Im selben Sinn ist die Menschheit keine Gattung.

Das ist es, was an dem Vorwurf des Speziesismus richtig ist. Der Vorwurf ist verwirrt, weil er das praktische Denken als Denken eines äußeren Zwecks begreift: Wohlbefinden, Schmerzfreiheit, Bewahrung des Lebens werden als zu fördernder Zweck dargestellt. Der Einwand richtet sich dann dagegen, diesen Zweck auf Angehörige einer bestimmten Art zu beschränken. Warum sollte man sich nur um den Menschen kümmern? Ist der Wurm nicht genauso viel wert? Nicht diese Bäume hier und jenes Flussufer? Warum sollte der Schmerz der Fliege und die Verstümmelung des Baumes weniger zählen als der Schmerz und die Verstümmelung eines Menschen? So öffne ich mein Herz und mache es weit und schaffe darin eine Heim-statt für die ganze große Natur. Das ist ein grenzenloser Narzissmus. Jene, die ihn geltend macht, indem sie die ganze Natur als ihren äußeres Zweck vorstellt, erklärt ihren wohlwollenden Willen zum heiligen Mittelpunkt des Universums. Und doch ist etwas Richtiges daran. Das praktische Denken ist nicht parteiisch für eine Art im Unterschied zu einer anderen. Es ist der Gedanke der Menschheit, die keine Gattung neben anderen Gattungen und in diesem Sinne überhaupt keine Gattung ist, ebenso wenig wie Sein.

Wenn wir uns gutes Handeln als einen bestimmten Gattungsprozess vorstellen, dann verstehen wir nicht die Notwendigkeit, gut zu handeln. Anscombe erkennt das an. Gut handeln, meint sie, kann nur durch einen Zweck, den ich habe, in mein praktisches Denken eintreten. Ohne diesen Zweck gibt es keine Antwort auf die Frage: Warum soll ich mich auf dem Altar der Gattung opfern? Diese Frage wird durch die Berufung auf das Gemeinwohl nicht berührt, denn das Gemeinwohl, als Gattungsprozess betrachtet, ist praktisch kraftlos. Wie Anscombe erklärt: Wenn wir nach der Notwendigkeit fragen, etwas zu tun, betrachten wir das Wohl des Handelnden.[20]

Das zeigt die Überlegenheit Hobbes’ gegenüber der Idee des Guten als Gattungsprozess. Im Gattungsdenken ist das Individuum selbst Gattung; es hat keine Gattung über sich. Es kann sein Knie nicht vor einer Gattung beugen; es ist kein inneres Mittel in der Selbsterneuerung eines Gattungsprozesses. Sie selbst, als Individuum, ist der Zweck. Das wird wahrgenommen und zugleich verzerrt, wenn man sich diesen Zweck als die Bequemlichkeit eines tierischen Lebens vorstellt. Das Individuum ist absolut, weil es den Gattungsprozess transzendiert: Es bringt seine eigene Allgemeinheit nicht im Untergang seiner selbst hervor, in dem es sich selbst, nämlich seine Gattung, in einem anderen wiedergewinnt. Diese Einsicht wird verkehrt, wenn das Individuum seine Absolutheit in der Weise geltend macht, dass es sich als äußerer Prozess eines natürlichen Lebens behauptet. Darin, haben wir festgestellt, beschreibt Hobbes das Böse selbst.

Der Versuch, das Gute des praktischen Denkens zu verstehen – der Versuch, das menschliche Leben zu verstehen – durch die logische Form des Gattungsprozesses, scheitert, weil die im praktischen Denken gedachte Gattung kein Prozess ist. Das Gute, das ich im praktischen Denken denke, ist kein tierisches Leben, kein Leben des Fleisches. Es ist das Leben des Geistes. Dieses Leben ist keine Gattung neben anderen Gattungen; es ist nicht ein Leben, sondern das Leben.

Ist das menschliche Leben, das Leben des Geistes, ein anderes Leben als das tierische Leben, das Leben des Fleisches? Das ist wie die Frage: Ist die Seele etwas anderes als der Körper? Was im inneren Prozess immer anders ist, was in ewiger Wiederholung entsteht und vergeht (Zellen meiner Haut fallen ab und weichen neuen), ist ein und dasselbe und bleibt im äußeren Prozess, in dem das Tier als einfaches und damit als Ganzes handelt. Analog ist das, was im Gattungsprozess immer anderes ist, in ewiger Wiederholung entsteht und vergeht (Individuen gebären andere und sterben), ein und dasselbe und bleibt im Gattungsgedanken, in dem die Gattung als einfach und damit als Ganzes handelt. Der Akt, in dem die Gattung als einfach handelt, verhält sich zum Gattungsprozess wie das tierische Bewusstsein zu seinem inneren Prozess: Die Einheit des inneren Prozesses in seiner Wahrheit ist die einfache Einheit des Bewusstseins. In gleicher Weise ist jede Beziehung von Mensch zu Mensch, in der sie Terme eines Gattungsprozesses sind: Eltern zu Kindern, Schwester zu Bruder, Gefährte zu Gefährte, in ihrer Wahrheit die einfache Tätigkeit der Gattung – der Gattung, die keine Gattung ist, wie Sein.

Der Akt, in dem das Tier als Ganzes handelt, ist seinerseits ein Prozess, denn er ist ein Gegensatz: des Tieres zu seiner Welt. Der Akt, in dem die Gattung als Ganzes handelt, mag wiederum ein Prozess sein, nämlich dann, wenn er Gegensatz ist. Die Entfaltung dieses Gegensatzes und seines Prozesses, des Lebens des Geistes, verlangt, von Recht und Unrecht, Schuld und Vergebung, Gut und Böse zu sprechen. Aber nicht mehr hier.

Literatur

Anscombe, G. E. M. (1969), On Promising and Its Justice, and Whether It Needs Be Respected In Foro Interno, in: Crítica 3.7–8, 61–83.10.22201/iifs.18704905e.1969.60Search in Google Scholar

Aristoteles, Metaphysik [metaph.].Search in Google Scholar

Geach, P. (1977), The Virtues, Cambridge u. a.Search in Google Scholar

Hegel, G. W. F. (1992), Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830], Hamburg [Enz.].Search in Google Scholar

Hobbes, T. (2017), Vom Bürger. Vom Menschen. Dritter Teil der Elemente der Philosophie. Zweiter Teil der Elemente der Philosophie [1642], übers. v. Waas, L., Hamburg.Search in Google Scholar

Nagel, T. (1978), The Possibility of Altruism, Princeton, N. J.10.1515/9781400884490Search in Google Scholar

Thompson, M. (2004), Apprehending Human Form, in: Royal Institute of Philosophy Supplement 54, 47–74.10.1017/S1358246100008444Search in Google Scholar

Thompson, M. (2022), Forms of Nature: „First,“ „Second,“ „Living,“ „Rational,“ and „Phronetic“, in: Boyle, M., u. Mylonaki, E. (Hg.), Reason in Nature: New Essays on Themes From John McDowell, Cambridge u. London, 40–80.10.2307/j.ctv30c9frh.5Search in Google Scholar

Wittgenstein, L. (1984a), Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, in: Werkausgabe 7, Frankfurt am Main, 7–346.Search in Google Scholar

Wittgenstein, L. (1984b), Philosophische Untersuchungen [1953], in: Werkausgabe 1, Frankfurt am Main, 225–580.Search in Google Scholar

Wittgenstein, L. (1984c), Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus [1921], in: Werkausgabe 1, Frankfurt am Main, 7–86.Search in Google Scholar

Published Online: 2023-10-17
Published in Print: 2023-10-26

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 1.6.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/dzph-2023-0039/html
Scroll to top button