Zusammenfassung
Am Beispiel der ethischen Hirntoddiskussion wird die Notwendigkeit einer philosophischen Reflexion und Kritik der Medizin und der Medizinethik aufgezeigt, wodurch die anthropologischen Bedingungen medizinischen Handelns und ethischer Theorie expliziert werden. Ohne eine solche kritische Reflexion bleiben sowohl naturwissenschaftliche Aussagen als auch ethische Prinzipien zu abstrakt und realitätsfern, die ethischen Probleme bleiben so unlösbar. Nur im personalen Sinnhorizont menschlicher Lebenspraxis, so die These, lassen sich physiologische Befunde wie die Hirntodfeststellung und ethische Prinzipien wie Autonomie und Würde angemessen verstehen und anwenden. Für die Situation des Todes und des Hirntodes bedeutet das, dass auch hirntote wie tote Menschen als Person mit dem Anspruch auf Achtung ihrer Autonomie und Würde zu betrachten sind.
Abstract
Definition of the problem Using the example of the ethical discussion on brain death, the article spells out the necessity of a critical philosophical reflection on medicine and medical ethics with the purpose of making the anthropological conditions of medical practice as well as of ethical theory explicit. Arguments Scientific propositions and ethical principles remain too abstract and too far away from reality, and the ethical problems remain unsolvable unless such a critical reflection is made. Only within the horizon of sense which is constituted by general characteristics of personhood and constitutes the practice of human life can medical results (e.g., brain death) and ethical principles (e.g., autonomy and dignity) be adequately understood and applied to reality. Conclusion For the case of death and brain death, this means that dead and braindead people have to be regarded as persons who are entitled to be respected for their autonomy and dignity.
Notes
Als eindrückliches Beispiel nenne ich den Film „Mein kleines Kind“ von Katja Baumgarten, die dokumentiert, wie sie als Hebamme ein schwerst behindertes Kind bekommt und es kurz nach der Geburt sterben lässt, statt sich zu einer Spätabtreibung zu entschließen. Im Medium des Films und der Sprache thematisiert sie insbesondere auch die Sprache und Sprachlosigkeit der Medizin und des Arztes, der ihr die schlimme Diagnose mitteilt und sie mit der Entscheidung alleine lässt. Es gelingt ihr dennoch, zu einer für sie befriedigenden Entscheidung zu kommen, indem sie ihre Problematik und Situation in allen ethisch relevanten Dimensionen reflektiert (vgl. [9]).
[7] Diese Einsicht, dass „das Ich“, „die Person“, „das Subjekt“, wie Gott, kein möglicher Gegenstand der Erfahrung ist, verbindet ansonsten so unterschiedliche Autoren wie David Hume, Kant, Nietzsche, Ernst Mach, William James, Wittgenstein, Heidegger, Adorno usw. miteinander. Vgl. [8], Kap. IX; [10].
Mit Bezug auf den sozusagen paradigmatischen Fall Jesu Christi beschreibt Eberhard Jüngel dieses allgemeine Phänomen als „Wirkung durch Entzug“ und, anknüpfend an Hans-Georg Gadamer, als „privative Wirkungsgeschichte, die darin besteht, daß geschichtliches Dasein (eine Person, Situation, Begebenheit) erst dadurch, daß es sich entfernt, wirkt: sei es im Guten, sei es im Bösen. Erst die Entzogenheit wirkt in einem solchen Fall, so daß man, je mehr sich das Gewesene entfernt, erfährt, was man gehabt hat, oder aber worunter man gelitten hat“ ([5], S. 30 f.).
Literatur
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Wittgenstein L (1979) Tractatus logico-philosophicus. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
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Rehbock, T. Personsein in Grenzsituationen. Ethik Med 23, 15–24 (2011). https://doi.org/10.1007/s00481-010-0110-z
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