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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter (A) November 1, 2023

Götter und ihr Wille zur Macht – Zeus, Dionysos, Apollon

Nietzsches ambivalente Bewunderung

  • Renate Reschke EMAIL logo
From the journal Nietzscheforschung

So rechtfertigen die Götter das Menschenleben,

indem sie es selbst leben […]

(Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 1872)

Die Verwirklichung eines Machtanspruchs von Menschen,

der unvermittelt aus dem „Willen zur Macht“ kommt, ist

von den untersten Stufen der Zivilisation an mit Gewalt verbunden.

(Volker Ebersbach, Zwischenspiel: der Wille der Götter, 2006)

1 Olymp

Wenn im Folgenden Macht und Willen, Herrschaft, Machterweiterung und Herrschaftssicherung, Machtwillen und Herrschaftsstreben, Gewalt und Krieg, Demütigungen, Unterwerfungsbekundungen und Selbstverleugnungen, List, Tücke und Verführungen, Kriege und Geschlechterkämpfe thematisiert werden, geht es zwar um Nietzsches Vorstellungen zum Willen zur Macht, wie der Philosoph in eigenwilligen und gegen die zeitgenössischen mainstream-Vorstellungen à la Charles Darwin oder Jean Baptiste Lamarck, eigentlich, wenn auch noch ohne den Begriff, von Anfang an immer wieder in Gedankenexperimenten versucht hat zu bestimmen, um ihnen immer umfänglichere und konkretere Konturen einzuschreiben. Mit der ausdrücklichen Absicht, sie als Grundthese für ein so zu fundierendes Gesamtkonzept einer lebensphilosophischen Weltinterpretation zu formulieren, mit der er nicht nur Welt und Leben miteinander in eine unauflösliche wechselseitige Beziehung bringen wollte,[1] sondern mit der er quasi die Weltformel („[…] wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Räthsel? […] Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ [NL 38[12], KSA 11, 610 f.]) überhaupt gefunden zu haben glaubte.[2] Darüber ist viel geschrieben, die These ist kontrovers in ihrer Rezeptionsgeschichte interpretiert und debattiert worden. Martin Heideggers und Wolfgang Müller-Lauters Ausführungen gehören nach wie vor zu den wirkmächtigen.[3] Die allgemein philosophischen Implikationen stehen hier jedoch nicht im Mittelpunkt. Vielmehr geht es um Bereiche aus der antiken griechischen Mythologie, die den Altphilologen Nietzsche zeitlebens in ihren Bann gezogen haben und die sich bei genauerem Hinsehen als jeweils ins Zentrum seiner Philosophie zielende Themenstellungen und permanente Herausforderungen herausgestellt haben. Man darf daher davon ausgehen, dass des Philosophen wiederholtes Interesse an den illustren und vor allem machtbewussten Bewohnern des Olymps im Zusammenhang seiner Überlegungen beim Ausschreiben des Willens zur Macht gestanden haben. Ihr mythologisch erzähltes Leben und ihre Taten, ihr Umgang miteinander und mit den Sterblichen boten eine geradezu unerschöpfliche Bandbreite dessen, wie ihr Machtbewusstsein, die Strategien ihres Machterhalts und die per definitionem willensstarken Formen ihrer unhinterfragbaren unsterblichen Existenz die vielleicht stärksten, jedenfalls kulturgeschichtlich relevanten und aussageintensiven Exempel für sein provozierendes Existenzprinzip sein konnten. So geht es bei dem Thema, das einige prominente olympische Götter zu Hauptdarstellern und Bestätigungszeugen für Nietzsches Position macht, nicht darum, den Horizont der Philosophie zu verlassen, sondern darum, dessen Linien zu verschieben in Richtung einer Wille-zur-Macht-Deutung, die ihre Implikationen als kulturgeschichtliche verstehen will. Und so auch zu interpretieren sind.

Was sich auf dem Olymp abspielt, worin das Treiben seiner Bewohner besteht, worüber sie in ihren Götter-Versammlungen streiten, wie sehr sie in die Handlungen und Belange der Menschen eingreifen, diese zugunsten ihrer eigenen Interessen beeinflussen, ist nichts als das immerwährende Machtspiel der ohnehin Mächtigen. Zwischen Machtgeschehen und Machtbegehren schlagen die Wellen der Gewalt hoch, entzaubert sich ihr Tun als ziemlich genaue Spiegelung irdischer Gewalt-, Raub- und Eroberungszüge, legt es seine wille-zur-macht-intensiven Handlungsabläufe und die sie untermauernden narrativen Rechtfertigungen frei und lässt den Olymp als das erscheinen, was er immer war: ein Herrschaftsort, vorzüglich geschaffen als große Bühne für die göttlichen Kraftprotze, die permanent alle Kräfte einsetzten für ihren Rangerhalt oder ihre Rangerhöhung im Ensemble des Götterclans und die dazu gewalt- und intrigenreiche temporäre Netzwerke untereinander eingingen. So werden sie als das wahrnehmbar, was sie waren respektive noch immer in der Überlieferung sind: Ganz im Sinne von Nietzsches Willen zur Macht, der ein Konglomerat gegeneinander agierender Machtquanten sein sollte. Wolfgang Müller Lauter hat es so auf den Punkt gebracht: „Der Wille zur Macht ist die Vielheit von miteinander im Streite liegenden Kräften.“[4] Die Stabilität des Herrschafts-Gebildes Olymp ist garantiert durch seine interne Organisation, die alle auseinanderstrebenden Kräfte in einer lebenssichernden Einheit zusammenhält: „Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist […] ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht eins ist.“ (NL 2[87], KSA 12, 104) So Nietzsche 1885/1886 im Umfeld seiner Wille-zur-Macht-Aufzeichnungen. Homers Ilias und Hesiods Theogonie füllen die Gesänge beziehungsweise Verse mit den tumultartigen Szenen und den machtheischenden Gesten des Hausherren. Zwischen Zeus und den zum großen Rat gehörenden Söhnen und sonstigen Verwandten und deren festgelegter Rangordnung, die einzig von Zeus selbst missachtet werden darf, findet statt, was kulturgeschichtlich Nietzsches Willen zur Macht ebenso strukturiert wie ausschreibt und mit nicht nur antikem Leben füllt. Das Gemeinwesen Olymp avanciert für den Philosophen zum legitimen Aktionsraum derer, für die Leben gleich Macht war und deren oberstes Handlungsgesetz darin bestand, eben dieser Macht alles unterzuordnen. Nietzsche war sich sicher, die antiken Athener wussten, wenn ihnen und ihrer Philosophie das Macht-Philosophem selbst auch fremd war, um diesen Wert: „Vom Willen zur Macht wird kaum mehr gewagt zu sprechen: anders zu Athen!“ (NL 7[206], KSA 9, 360) Stephan Günzel hat diesbezüglich darauf verwiesen, wie berechtigt Nietzsche aus seiner Denkstrategie heraus der Antike überhaupt „ein ausgeprägtes Machtbewußtsein“ zugesprochen habe.[5] Es kam seiner tiefen Einsicht entgegen, dass alle Wertschätzungen, zumal die höchsten, „eingegeben und regulirt [sind] von unserem Willen zur Macht.“ (NL 26[414], KSA 11, 262)

Den Griechen waren ihre Götter schon deswegen verehrungswürdig, weil ihre Beziehung zu ihnen eine ambivalente Gewissheit gab: von ihnen abhängig zu sein und zugleich teilzuhaben an ihrer Macht. Sich unter ihrem Schutz zu befinden, aber auch diesen Schutz durch Unbedachtsamkeit verlieren zu können. Sich auf diese Weise selbst mächtig zu fühlen, auch wenn man unter dem Level des Göttlichen bleibt, prädestiniert sie dazu, den Olympiern zu huldigen und ihnen die Ehre zu erweisen, die für diese selbstverständlich scheint und unhinterfragt angenommen wird. Den Gründen spüren sie lieber nicht nach. Sie würden ihnen missfallen und ihre Verehrung suspekt machen. Mit Blick auf den Sinn von Göttern hat Nietzsche kritisch festgestellt:

„Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden, – es projicirt seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann […] Religion innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen Gott. – Ein Gott muss nützen und schaden können, muss Freund und Feind sein können, – man bewundert ihn im Guten wie im Schlimmen. […] Was läge an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewaltthat kennte? dem vielleicht nicht einmal die entzückenden ardeurs des Siegs und der Vernichtung bekannt wären? Man würde einen solchen Gott nicht verstehn: wozu sollte man ihn haben? […] In der That, es giebt keine andre Alternative für Götter: entweder sind sie der Wille zur Macht – und so lange werden sie Volksgötter sein – oder aber die Ohnmacht zur Macht – dann werden sie nothwendig gut …“ (AC, KSA 6, 182 f.)

Nietzsches späte Selbstversicherung: „Wir glauben an den Olymp – und nicht an den ‚Gekreuzigten‘ …“ (NL 16[16], KSA 13, 487) kann in diesem Kontext nicht nur als Zurückweisung des Christentums gelesen werden, sondern nobilitiert den Göttersitz als Ort, an dem die Immoralität ihre gebührende Heimstatt besitzt. Immoralität als Stärke, als Lebens- und Werteprinzip der Stärksten, als gelebte und zu lebende Äußerung und Realität des Willens zur Macht. Indem die Olympier durch ihre Taten nicht zu den im Sinne Nietzsches pejorativ besetzen ‚guten‘ Göttern gehören, machen sie sich und ihren Machtsitz zu Garanten einer durch nichts zu zerstörenden Sicherheit eines Lebens unter der Ägide des Willens oder der Willen zur Macht. Bloß ‚gute‘ Götter liegen „ausserhalb aller Wünschbarkeit.“ (AC, KSA 6, 182) So ist der Olymp Symbol für eine Welt, in der die Höhe des Konflikt- und Gewaltlevels seiner Bewohner die Größe ihrer Macht bestimmt, die keine festgelegte Größe, sondern in immer neuen Herausforderungen immer neu zu erobern ist. Wille zur Macht in praxi. Ganz immer Sinne Nietzsches, für den Wille zur Macht immer und vor allem Machterweiterung sein sollte. Effektvolle und nachhaltige Überwältigungsprozesse mit ausgeklügelten Siegesstrategien inklusive.

Die antiken mythologischen Vorlagen gaben Nietzsche das Material, an dem ihm die Götterkämpfe vor Augen traten: dramatisch und in ihren Höhepunkten festgehalten. Hesiods Theogonie beschreibt die epochenlangen Kriege und brutalen Kämpfe und Intrigen der Uraniden und Kroniden, der Titanen und Olympier um die Macht und die Herrschaft über die Welt, über die Sterblichen und die Unsterblichen. Das Maß an Grausamkeiten dabei ist ohnegleichen. Auslöschung ganzer Geschlechterfolgen als Mittel zur Machterlangung und Herrschaftssicherung aus Angst, die gegnerischen Kräfte könnten intrigant und manipulativ die Göttergenealogien unterbrechen, abbrechen, zerstören. Dabei ändern sich die Mittel, von der rohen Gewalt zur listenreichen Herrschaft. Zeus ist der erste, der seine Macht zum alleinigen Gesetz erhebt. Er ist der Stärkste, der Willensstärkste. Er betreibt Familienplanung als Machterweiterung und Aufweitung seiner Einflusssphären. Als Machtstratege, dem keiner zu widersprechen und zu widerhandeln wagt. Wer es dennoch wagt, muss mit drakonischen Strafen rechnen. Die größte: der Verweis aus dem Olymp, wenigstens auf Zeit.

Macht haben sie alle, Götter wie Göttinnen. Und sie behüten sie eifersüchtig. Virtuosen auf der Partitur der Ränkespiele sind sie fraglos, ob Hera oder Aphrodite, Zeus oder Hades, Dionysos oder Apollon. Obgleich sie wissen, dass der eigentliche Kampf um ihre Macht nur ein interner ist.[6] Die Gesamtheit ihrer Macht bleibt unantastbar. Zeus, Dionysos und Apollon treten im Folgenden stellvertretend mit ihren Taten in den Zeugenstand, um ihre Existenz als für den Willen zur Macht, den Nietzsche postuliert, und dessen Ziel seiner steten Steigerung auszulesen. Zeus, weil er der Welterschütterer und Weltenbeherrscher ist, der mit seinen Blitzen Ordnung und Gesetz, seine Ordnung und sein Gesetz mit willensstarker Macht durchsetzt; Dionysos, weil er für Nietzsche der Inbegriff eines Willens zur Macht ist, der seine Stärke aus seiner unbedingten Bezogenheit auf alles Sinnliche, Rauschhafte, an die Natur Gebundene bezieht und der Gott, der ihm alle Referenzen gibt, die er für die Bestimmung des Willens zur Macht bracht. Dionysos ist ihm die Verkörperung der „höchsten Art alles Seienden“, in ihm sind Halkyonisches und Leichtigkeit, Traum und Schein, „Bosheit und Übermuth“ (EH, KSA 6, 344), Verhängnis und Stärke, Machtwille und Rücksichtslosigkeit vereint zu einem Leben, an und in dem sich der Wille zur Macht so zeigt, wie Nietzsche ihn verstehen wollte. Oder anders: in diesen Gott sieht er hinein, was ihm am Wille-zur-Macht-Prinzip exemplarisch schien. – Apollon wiederum, der Bruder und scheinbare Gegenpart, interessiert als der machtvolle Gott, dem auf dem Olymp die Rolle des zugleich Sanftmütig-Kunstverantwortlichen und die des Heilenden, aber ebenso die des zerstörend Machtvollen, der bisweilen sogar die Herrschaft des Zeus mit Erfolg zu untergraben sucht, zukommt. Für Nietzsche ein Vertreter des Willens zur Macht nach seinem Geschmack: Eine glänzende Gestalt, die fürchterlich daherkommt, Kriege begleitet und führt und zum Staatsgott erhoben wird wegen seines unerbittlichen Machtwillens (vgl. GS, KSA 1, 774). Der vieles von dem, was er tut, mit vorausschauendem Kalkül kaltblütig plant und den Intellekt einsetzt zur Steigerung seiner Macht auf dem Olymp, der sich, salopp ausgedrückt, nicht in die Karten schauen lässt und so seine Herrschaft unangreifbar macht.

2 Zeus

Im achten Gesang der Ilias beruft Zeus alle Göttinnen und Götter zum großen Rat auf den Olymp. Der Grund für diese Maßnahme? Der große Krieg ist unterbrochen, weil die einzelnen Götter je gegensätzliche Seiten der Kriegsparteien mit sehr unterschiedlichen Mitteln und Sympathiebekundungen unterstützen und der Kampfverlauf ins Stocken gekommen ist. Zeus lässt keine Vorschläge, keine Bitten zu. Unmissverständlich drohend teilt er ihnen mit, er werde keine Eingriffe in den Krieg der Troer mit den Achaiern, den Griechen zulassen:

„Hört mein Wort, ihr Götter umher und ihr Göttinnen alle, / daß ich rede, wie mir das Herz im Busen gebietet. / Keine der Göttinnen nun erhebe sich, keiner der Götter, / trachtend, wie dies mein Wort er vereitele, sondern zugleich ihr / stimmt ihm bei, daß ich eilig Vollendung schaffe dem Werke! / Wen ich jetzt von den Göttern gesonderten Sinnes erkenne, / daß er geht und Troer begünstigt oder Achaier, / schmählich geschlagen führwahr kehrt solcher mir heim zum Olympos! / oder ich fass und schwing ihn hinab in des Tartaros Dunkel, / ferne, wo tief sich öffnet der Abgrund unter der Erde, / […] / So weit rag ich vor Göttern an Macht, so weit vor den Menschen! / Jener sprach’s, doch alle verstummten umher und schwiegen, / hoch das Wort anstaunend, denn kraftvoll hatt er geredet.“[7]

Zeus, der Stärkste unter den Starken, der Willensstärkste per se, der Mächtigste unter den Mächtigen. Sein Wort ist Gesetz, sein Gesetz ist die durch nichts infrage zustellende Ordnung, das Gesetz der Welt. Der Altphilologe Nietzsche kannte die Passage genau. Schon der Student in Leipzig hatte darauf Bezug genommen und sich wie in Götterversammlungen auf dem Olymp gefühlt, wenn es darum ging, über schlechte Theateraufführungen oder sonstige Literatur zu Gericht zu sitzen.[8] Immer wieder kommt er auf des Zeus unbedingten Herrschaftswillen zurück, an dem er als wirklich wahrnehmen will, wie sehr sein Konzept vom Willen zur Macht in ihm bereits seine antike Gestalt in höchster Vollendung gefunden hat.

Zu dieser Machtausgestaltung gehören nicht nur die geschilderte Unnachgiebigkeit in Sachen unbedingter Anerkennung durch Götter und Menschen, sondern auch eine dem Göttervater selbstverständliche Brutalität, seine Interessen durchzusetzen. Koste es, was es wolle. Wille zur Macht ist immer auch der Wille „zur Selbstherrschaft“ (NL 13[93], KSA 13, 270). Nur so ist seine Steigerung möglich. Dessen rigorose Durchsetzung seiner eigenen Machtbestätigungsstrategien zeigte sich beeindruckend in seinem, den Sieg der Griechen besiegelnden Ende des trojanischen Krieges, dessen mörderische Schlachten er selbstgefällig beobachtete. Wie die Ilias zu berichten weiß.[9] Einzig bedacht auf seine Interessen und unberührt von den Opfern, der Zerstörung und dem Leid, lenkte er die Kämpfe zugunsten derer, die ihm als die erscheinen, die seiner Macht am günstigsten sind. Taub gegen die dringlichen Einwände der anderen Götter, deren Gründe allerdings auch auf ihren eigenen Machtinteressen beruhten. Nietzsche goutierte dies mit Bewunderung. Und sah in dessen Anerkennung durch die antiken Griechen die Größe ihrer Kultur. Zeus als den Größten der Götter zu verehren, lag nach seiner Auffassung darin begründet, dass die Griechen keine „Cultur-Zärtling[e]“ wie der moderne Mensch (NL 15[8], KSA 13, 409), sondern weil sie selbst Eroberer, Krieger, Sieger waren,[10] weil in ihnen der gleiche Wille zur Macht war wie in den Göttern, konnten sie in Zeus und seiner Sippe sich selbst als groß, siegreich, willensstark sehen. Und sie ohne das Gefühl von Demütigung oder gefordertem Gehorsam verehren. Sie sahen sich einander als (fast) ebenbürtig. Die Unsterblichen sahen es anders.

Aus Hesiods Theogonie wusste Nietzsche vom vatermörderischen Ursprung der Herrschaft des Zeus. Nur durch die Auslöschung der väterlichen Macht des Kronos konnte er auf mütterlichen Rat und nach langen Kriegen, in denen er mit unterschiedlichen Verbündeten seine Gegner besiegte, sie entweder in den Tartaros verbannte, tötete oder sie zwang, nach seinen Gesetzen ihm untertan zu sein, zum Begründer einer neuen Götterdynastie werden. Bevor er zum Herrscher auf dem Olymp wurde, von dem er dann, wissend, dass er seine Macht nicht nur ständig unter Beweis zu stellen hatte, sondern dass er seine Stärke immer wieder durch blutige Kämpfe oder listenreiche und undurchsichtige Entscheidungen zu verteidigen hatte. So mag der Olymp zwar, wie Hesiod ihn beschrieben hat, eine liebliche Gegend mit den schönen Häusern der Götter, von Hephaistos errichtet, gewesen sein. Hinter der schönen Fassade aber tobten die Machtkämpfe. Und Zeus’ Macht, so sehr er sie von seinen Töchtern, den Musen, preisen ließ,[11] war eine stets gefährdete. Hinter dem Schönen waren der mögliche Kampflärm zu hören, die Blitze zu sehen, das Donnergrollen zu hören, die Schreie und Schwefeldämpfe der Schlachten zu ahnen. Allzeit gegenwärtige Gewalt. Nietzsche missfielen zwar die schrecklichen Gestalten der ersten Göttergenerationen, jener „widerlich-furchtbaren theogonischen Sagen“, in denen die „Kinder der Nacht“ ihre schreckliche Herrschaft ausübten und denen gegenüber Zeus in seinen Titanenkämpfen als eine „Erleichterung“ und „Rettung“ erscheinen musste, weil in ihrer Atmosphäre „die Grausamkeit des Sieges [als – R. R.] die Spitze des Lebensjubels“ angesehen wurde (HW, KSA 1, 785). Zeus wird derjenige Gott, von dem aus sich Gewalt sublimiert in gewaltgeberische Gesetzgebung, die nur noch zeitweilig ihre bluttriefenden Ursprünge sichtbar werden lässt. Für Nietzsche der Kardinalfall dessen, was sich am Wille-zur-Macht-Theorem verdeutlicht: dass Gewalt in jeder Form ein Bestands- und Durchsetzungsmittel für jede Stärke und Herrschaft ist. Es wäre nichts als ein philosophischer Selbstbetrug, hinter einer solchen Erkenntnis zu bleiben.

Der Schriftsteller Christoph Hein hat 2013 eine Sammlung sehr bemerkenswerter Erzählungen zur griechischen Mythologie veröffentlicht. Unter dem Titel Vor der Zeit. Korrekturen versammelt er Darstellungen von prominenten antiken Ereignissen und Göttern, denen er kleine oder größere Korrekturen, Bedeutungstransfers oder narrative Umlenkungen zumutet, um deren Kern auf erstaunliche Weise in brisantes Licht und neues Interesse zu setzen. Auch Zeus und der von ihm in maßgeblicher Regie beeinflusste Krieg um Troja geraten ins Blickfeld. Eine kurze Besichtigung lohnt, denn es scheint, als hätte Nietzsche Hein schon gekannt. Um von diesem teils zustimmend, teils schmerzlich bestätigt oder korrigiert zu werden. Hinsichtlich Zeus und seiner Rolle in punkto Troja heißt es: „Im zehnten Jahr ließen die Kräfte nach und der große Zorn wich trägem Missmut […] Die Heerführer waren ratlos und die bewunderten Helden müde geworden und entkräftet […] Auf beiden Seiten wusste man im zehnten Kriegsjahr nicht mehr zu sagen, um was man kämpfte.“[12] Längst waren heroische Lageberichte verlogen, unterschlugen jede Wahrheit: die verwesenden Leichen, die schreienden Verletzten, den Gestank und Dreck und, dies vor allem, den verlorenen Glauben. Und die Götter? „Die Götter selbst waren des Krieges um die Festung am Hellespont müde geworden. In all den Jahren hatten sie vom Olymp aus den Kampf der beiden mächtigen Heere verfolgt, hatten eingegriffen, um einen ihrer Günstlinge zu retten oder eine Missachtung zu strafen. Von allem Anfang an waren sie in diesem Streit der Irdischen und dem dann beginnenden Krieg untereinander uneins und bedrängten Zeus, dass er den endgültigen Sieg ihrer Partei zugestand […]“ Es kam die Zeit, dass sie sich von den Bitten um göttlichen Schutz und tatkräftige Hilfe durch die olympischen Götter belästigt fühlten, in ihrem Beistand nachlässig wurden, „irgendwann vergaßen sie die Kämpfenden.“[13] Auch Zeus verzichtete auf weiteres Eingreifen. Die Sterblichen kämpften noch eine Weile unerbittlich weiter, bis sie nicht mehr wussten, wer Freund oder Feind war. Homer, so Hein, hatte dies wahrheitsgemäß berichtet, doch niemand wollte diese Wahrheit. Preisgesänge waren gefragter. Und so erträumte der blinde Sänger Siege, die gehört werden wollten. Bis auch sie verstummten und Troja samt den Schlachten um die Stadt vergessen wurden. Und Zeus? Er blieb unberührt von allem der Machtvollste, unbeschadet der Blessuren, die auch er hatte hinnehmen müssen. „‚Ich bin Zeus‘, hatte er […] erklärt, womit für ihn alles gesagt“ war.[14] Nietzsche wusste es anders auszudrücken: Götter haben keine Wahl: „entweder sind sie der Wille zur Macht“ oder sie sind ohnmächtig und degenerieren zu den ‚Guten‘ (AC, KSA 6, 183). Der Wille zur Macht kennt nur seine Steigerung.

Last but not least: Nur scheinbar setzen die Passagen aus Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen andere Akzente, um die Macht des Zeus hervorzuheben. Heraklits Auffassung: „Die Welt ist das Spiel des Zeus, oder physikalischer ausgedrückt, des Feuers mit sich selbst“ (PHG, KSA 1, 828) gab Nietzsche die Vorlage, die Dialektik von Werden und Vergehen, Bauen und Zerstören im Bild des mit sich selbst spielenden Feuers, gleich dem Äon, einsichtig zu machen. Es spiele wie das Kind, stehe zwischen Notwendigkeit und Spiel, beherrsche ohne Schuld das Wechselspiel von Aufbau und Zerstörung: „Sobald es aber baut, knüpft und fügt und formt es gesetzmäßig und nach inneren Ordnungen.“ (PHG, KSA 1, 831)[15] Gesetzgeberisch zu sein, was die Welt und ihre Ordnung angeht, darin zeigt sich auch hier des Zeus allgewaltige Macht. Er verantwortet die Existenz und den Gang der Welt. Und diese, notierte Nietzsche 1885, sei ein „Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste eherne Größe von Kraft, […] als Spiel von Kräften und Kraftwellen […] ein Meer in sich selber stürzender und fluthender Kräfte […] Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ (NL 38[12], KSA 11, 610 f.) Und Zeus als ihr Grund, ihr Wesen und ihr Gesetzgeber in einem. Zugleich ist diese Welt „des Ewig-sich selber Schaffens“ eine „dionysische Welt“ (NL 38[12], KSA 11, 611). So geht die Fackel vom Göttervater auf den Sohn, der auf andere Weise den, seinen Willen zur Macht bedeutet. Und der für Nietzsche auch deshalb zu einem seiner bevorzugten Götter wurde.

3 Dionysos

Dionysische Epiphanien wurden ebenso erwartet wie sie gefürchtet wurden. Des Gottes Erscheinen war stets der Beginn eines rauschhaften Außer-sich-Seins, das alle ordnenden Kräfte wirkungslos machte. Von Nietzsche seit der Geburt der Tragödie bewundernd beschrieben respektive dramatisch imaginiert und in Szene gesetzt waren diese kulturellen und individuellen Ausnahmezustände für ihn Zeichen der Macht des Sinnlichen und Kollektiven, der Lust und des Außer-Kraft-Setzens der Übermacht des principium individuationis, der Wiedervereinigung mit der Natur, ihr zeitweiliger Sieg über alle zwangskulturellen Nötigungen eines uneingeschränkten Lebens:

„Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohn, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger.“ (GT, KSA 1, 29)

Die Idylle trügt, ist ein Wunschbild des Philosophen. Er wusste dies. Sie war brauchbar als Auftakt für die großangelegten Kontroversen seiner, den Götterbrüdern Dionysos und Apollon zugeschriebenen, Kunst- und Kulturtriebe. Für den Gott als ‚Inkarnation‘ des Willens zur Macht mussten die Akzente anders gesetzt werden. Da genügten die Ausschreibung seines auf alles Sinnliche bezogenen Daseins und sein Weltstreben nicht. Er musste die Kraft und den Willen dazu explizit verkörpern. Seine seit antiken Zeiten und Marcel Detienne ausdrücklich in alle standhaltenden modernen Interpretationen geholte ‚göttliche Wildheit‘ und Unberechenbarkeit,[16] der weltläufige, unruhige, nicht sesshafte, immer fremde, fremdbleibende Gott gehört zu seinen wichtigsten Kennzeichen. An ihnen zeigt sich seine multiple und wandlungsfähige Macht. Als Gott, der Trauben reifen lässt und efeubekränzt dem Wein huldigt und lächelnder Verführer, ist er ebenso und zugleich der Gott, der in Wahnsinn und Raserei stürzt, vernichtet, wer ihm zuwiderhandelt, Gott der Zerreißungen und der brutalen Inbesitznahme. Inklusive sexuellen Besitzergreifens. Oft im ausdrücklichen Einklang und Zusammenspiel mit Eros.[17] Mythenbildend war dabei seine buchstäbliche Einforderung, ihm bedingungslos zu folgen und in seinem Gefolge ihm seine Größe und Macht zu bestätigen. Die Bacchantinnen sind dafür die prominentesten Zeitzeuginnen. Ihre Tänze geben den Ausdruck seiner Herrschaft über sie. Außer sich selbst huldigen sie dem Gott, um ihn zu feiern und darin sich seine Macht spiegeln zu lassen, respektive ihr in ihren Tänzen Realität zu geben. Nietzsche war sich im Klaren, wie sehr solche Bacchanalien lebensnotwendig waren, er wusste um deren hygienische Momente, kannte die Ursprünge in den naiven Naturkulten mit ihren sinnenbezogenen Reinigungs- und Sühneopferritualen. Alles in allem genommen waren ihm diese Veranstaltungen jedoch in ihrer unbedingten Natürlichkeit, oft genug Geschlechtlichkeit, äußerst suspekt. Er suchte sie ins (für ihn) Erträglichere zu sublimieren und behauptete ihre in der griechischen Kultur sich vollziehende Veredelung: „Dadurch, dass die Menschen in dem aphrodisischen Triebe eine Gottheit sahen und ihn mit anbetender Dankbarkeit in sich wirkend fühlten, ist im Verlaufe der Zeit jener Affect mit höheren Vorstellungsreihen durchzogen und dadurch thatsächlich sehr veredelt worden. […] zum Beispiel die Griechen, welche in früheren Jahrhunderten an grossen Nerven-Epidemien (in der Art der Epilepsie und des Veitstanzes) litten und daraus den herrlichen Typus der Bacchantin herausgebildet haben.“ (MA I, KSA 2, 174) Der dionysische Wahn in seinen immer auch geschlechtlich konnotierten Äußerungen war für Nietzsche, trotz verbal gegenteilig formulierter Bekundungen, eher nur in seiner ‚gereinigten‘ Form akzeptabel, das heißt ohne dessen sexuellen Vollzug. Denn: der darin liegende Wille zur Macht war für ihn in seiner eruptiven und trunkenen Wollust bestenfalls eine untere, zu überwindende seiner möglichen Formen. Taumelnde Ekstasen und blutrünstige Besessenheit, sexuelle Begierde und kreatürliche Selbstaufgabe gehören aber, das wussten Althistorie und Altphilologie bereits zu Nietzsches Zeiten ziemlich genau, zu den Epiphanien des Dionysos. Durch ihre Anstachelung ließ der Gott keinen Zweifel an seiner Macht. Dies traf auch die unter den Sterblichen Herrschenden. Pentheus, Herrscher in Theben, geriet ins rachesinnende Visier des Gottes, weil er hatte verhindern wollen, dass die Frauen Dionysos zu Ehren ein bacchantisches Fest feiern sollten. Die Festnahme des Gottes misslang, Dionysos schlug ihn mit Wahnsinn und brachte ihn dazu, verbotenerweise im Gebirge den schwärmenden Mänaden zuzusehen. Nach seiner Entdeckung wurde er von seiner Mutter und anderen weiblichen Verwandten in dionysischer Raserei zerrissen. Euripides hat aus diesem Mythologie-Teil eine große Tragödie geschaffen. Der auf Rache sinnende Dionysos stürzt seine Heimatstadt Theben ins Verderben, weil sie ihm nicht die Ehre erweist, die ihm gebührt. Der Herrscher-Elite und den Frauen gilt dabei seine vernichtende Aufmerksamkeit. Pentheus lockt er als Strafe für den Frevel, Hand an ihn gelegt zu haben, erst in den Wahnsinn und dann in den von der rasenden Mutter vollzogenen Mord. Dionysos’ finales Fazit: „Zu spät erkennt ihrʼs, habt mich, als es galt, verkannt“, und er fordert: „So fügt euch endlich dem, was unabwendbar ist.“[18] So zeigt der Gott seine Macht, die er nicht willens ist, missachten oder infrage stellen zu lassen. Sie einzusetzen ohne Skrupel, wenn es um ihre Erhaltung geht, darin vollzieht sich sein Wille zur Macht. Nietzsche allerdings setzte die Akzente am Ende anders als die Mythenüberlieferungen oder Euripides es taten. Sein Interpretationsmodus konzentrierte sich zunächst auch auf dessen identitätsbestimmend angelegte Festsetzung als Sohn des Zeus, der nicht nur dramatische Auftritte wie sein Vater liebte, von Blitzen begleitet, auf Augenblicke „in smaragdener Schönheit sichtbar“ zu werden, sich als „Blitz-Verhüllter“, als „grausamste[r] Jäger“ und „Henker-Gott“ zu inszenieren: „Was blickst du wieder / der Menschen-Qual nicht müde, / mit schadenfrohen Götter-Blitz-Augen“ (DD, Klage der Ariadne, KSA 6, 398 ff.). Da ist von Folter, Marter, Schamlosigkeit und Wegelagerei die Rede, Dionysos als der Unterwerfung erzwingende Gott. Nietzsche hat selten so offen über den Gott gesprochen wie in diesem Dithyrambus.[19] Und Dionysos einen Willen zur Macht zuerkannt, der sowohl antiker Tradition folgte als auch seinem eigenen Philosophem Rechnung tragen soll. Dennoch ändert er die Richtung seiner Interpretation ins Erträglichere, will heißen, ins Philosophische.

Christoph Hein ‚korrigiert‘ das Dionysos-Bild auf seine ins Weise ins Extreme. Für ihn mutiert Dionysos vom eigenwilligen Kadetten der Militärakademie in Sparta Dendritis, der sich den Kampfnamen Dionysos gegeben hat, zuerst zu einem brutalen Anführer einer ebenso gefürchteten wie gern in Dienst genommenen Söldnertruppe:

„Der Krieg war zum rauschhaften Blutvergießen geworden, einem unaufhörlichem Gemetzel, der Mord zum Trinkgelage, das Abschlachten zur Orgie. Ekstatisch feierte man die Schlacht, trunken und im Weinnebel. Das Leben und Kämpfen bedeutete für die dionysischen Truppen ein fortwährendes Fest. Der Schrecken und die Furcht zogen vor ihnen her, lähmten den Gegner und stürzten die Bewohner der Städte und Dörfer in Verzweiflung. Die grenzenlosen Grausamkeiten sicherten die Erfolge des Dionysos und festigten seinen Ruhm.“[20]

Im Verlaufe der Zeit wurde daraus Verehrung: „Er galt als unbesiegbar. Da sich keiner gegen ihn wehren konnte, unterwarf man sich ihm, und in verzweifelter Todesangst verehrte man ihn und betete ihn an wie einen der Götter.“ Er selbst nahm die Ehren als selbstverständliche an, er blieb gefürchtet, aber ebenso geliebt, denn: „Er gründete Städte, baute Brücken, schuf Gesetze, stiftete eine neue, eine bacchantische Religion, erklärte sich selbst zum olympischen Gott, dem man zu ehren und zu opfern hatte.“ Und er lehrte den Weinanbau, ließ Trauben wachsen und befriedigte die Gier nach sinnlichen Genüssen und Entäußerungen. Er zwang den Olymp, ihn aufzunehmen in den Großen Rat, um von dort die „Geschicke der Welt, trunken und im rasenden Rausch des Bacchanten“ zu lenken.[21] Alles in allem konnten die Griechen ihn so als den ehren, der genau das tat, was auch ihr Leben und Trachten bestimmte: Kriege zu führen, Land zu erobern, Kolonien zu gründen, Macht über und gegen andere auszuüben. Gewalt als Lebensgrundlage, die hochgelobte griechische Kultur als Kriegs- und Eroberungskultur. Im Spiegel ihrer Götter verehrten sie ihr eigenes Herrschaftsstreben. Die Macht der Götter ist die der handelnden Menschen, eingesponnen in ein unbezwingliches Netz von Strategien, sich als die Besseren durchzusetzen und behaupten. Deren Wille zur Macht gründet in der unbeweisbaren Annahme, sie hätten das Recht dazu.

Nietzsche mochte insgeheim solche Zusammenhänge goutiert haben. In seinen radikalsten Formulierungen sind sie zu spüren. Etwa dort, wo er Dionysos nicht nur zum Fürsprecher und Beteiligten an Gewalt und Raserei macht, sondern vor allem in jenen Überlegungen, in denen der Gott selbstherrlich über Leichen geht, um seine Macht zu demonstrieren. Das Dämonische seines Daseins (vgl. NL 7[123], KSA 7, 176) korrespondierte dabei für Nietzsche mit dem Wissen der Griechen um alles Schreck- und Entsetzliche des Daseins, weshalb er die Welt der Olympier als den lebensnotwendigen Schein bestimmen konnte, den sie brauchten, um leben zu können (vgl. GT, KSA 1, 36). Als zum Olympier ‚gereinigt‘ wird Dionysos zu einem Gott, mit dem zu leben ist. Mehr noch: der selbst die Legitimation dazu gibt. ‚Gereinigt‘ meint dabei im Sinne Nietzsches, dass „die dionysischen Griechen von den dionysischen Barbaren“ (GT, KSA 1, 31) eine ungeheure Kluft trennt. Von Babylon bis Rom habe es Dionysien gegeben, aber während dort eine „abscheuliche Mischung von Wollust und Grausamkeit“ geherrscht habe und die „wildesten Bestien der Natur […] entfesselt“ wurden (GT, KSA 1, 32), konnte der Mensch unter griechischer Regie zum Ausdruck solcher Lebensgefühle im Dithyrambus befähigt und „zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt“ (GT, KSA 1, 33) werden. Dazu aber musste er selbst schon sich von den primitiven Wollüsten und Machtinstinkten verabschiedet haben und durch Dionysos auf die „Höhe einer Selbstentäusserung angelangt sein“, die nicht mehr sinnlich auslebbar, sondern nur noch als „Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte“ (GT, KSA 1, 34) umzusetzen war. Nietzsches Kunstgriff ins Philosophische, Dionysos’ Wille zur Macht auf dem Wege zu seiner eigenen Philosophie, als deren Jünger sich sein Schöpfer dann ausrufen kann. Zwar blieb es für ihn dabei, in Dionysos’ Willen zur Macht den Garanten für das Leben schlechthin zu sehen, aber den „Triumpf des Daseins, ein üppiges Lebensgefühl“ (DW, KSA 1, 559) dampfte er in seiner unbedingten und ausschließlichen Sinnlichkeit und Affektbezogenheit merklich ein: er wurde für ihn auf die Schiene ins Asymmetrische zur laufenden Richtung gesetzt. Das Sinnliche wird zuerst Symbol, dann Wort und schließlich zum Begriff seiner selbst. Darin liegt zwar viel Wille, viel Gewalt, aber sublimiert, erhöht quasi. Kultiviert, veredelt, vornehm sogar. Könnte man mit Nietzsche sagen.[22] Aus dem erscheinenden Gott Dionysos wurde fast unmerklich am Ende das ‚Wort‘ Dionysos, sogar sein ‚Begriff‘, beide ließen sich ohne Schwierigkeiten in eine Philosophie des Dionysos transferieren, um zu deren begründendem Zentrum zu werden.[23] Sein Instinkt zum Leben, sein Wille zur Steigerung des Lebens sind eingegangen in eine begrifflich herausfordernde Variation eines Willens zur Macht, der seine Möglichkeiten entfaltet als intellektuelle Kraft, die es vermag, die dionysische Lebenspotenz, das „Zuviel von Kraft“, das „den Namen des Dionysos trägt“ (GD, KSA 6, 158) in sich aufzunehmen und konzeptionelle Gestalt zu geben. Dionysos bleibt das „Ziel des Daseins“ (NL 7[54], KSA 7, 151), aber als philosophisch honoriger Wille zur Macht. Apollon, der listenreich mächtige Brudergott im Hintergrund konnte sich als geheimer Sieger fühlen. Nietzsche mochte es geahnt haben.

4 Apollon

Um den Willen zur Macht des letzten beispielgebenden Gottes zu beleuchten, zunächst wieder ein Blick auf Christoph Heins Würdigung Apollons als Zeus’ Lieblingssohn und hinterlistigen Herrscher auf dem Olymp. Apollon erlaubt sich mehr als es die anderen Göttinnen und Götter gegenüber Zeus wagen würden. Er kann sich der Nachsicht des Göttervaters sicher sein. Er verlässt eine Zusammenkunft des Götterrates, auf dem es um die Bedeutung der Orakel und die immer größer werdende Anzahl der Orakelstätten geht. Zeus soll über das Für und/oder Wider entscheiden. Die Parteien streiten bis aufs Messer, wollen keine Kompromisse. Apollon entschuldigt sich mit „einem schiefen Grinsen“ bei Zeus, er habe unaufschiebbare Geschäfte zu erledigen. Zwei Stunden später kehrt er zurück. Mit gleich listigem, gleich selbstbewusstem Grinsen. Was war geschehen? Während die Götter vor Zeus um die Orakel stritten, hatte Apollon in ganz Hellas seine Orakel errichten lassen, um sich die im Konkurrenzkampf besten Orte zu sichern. Ganz Unternehmer verteidigt er sein Handeln: „Meine kleine Investition war ein Wagnis […] Gehört zum Handwerk sozusagen. Er lächelte süffisant und Zeus lachte laut auf.“[24] Zeus entschied unwillig für die Errichtung von Orakelstätten. Die Folge war ein inflationäres Überangebot, die Sterblichen verloren das Interesse, die Orakelstätten waren nichts mehr wert. Den Göttern fehlten die Einnahmen. Die wirtschaftlichen Verluste waren enorm. Nur Apollon hatte rechtzeitig alle seine Orakel an einen Gastronomen verkauft, der unter dem Zeichen von Gaststätten die Orte für den Gott gewinnbringend zu nutzen verstand. Auf des Hermes Frage, woher er vom bevorstehenden Desaster seiner Orakelstätten gewusst habe, gestand Apollon, er habe Klotho, eine der Moiren, die den Lebensfaden spinnt, selbst orakelt. Als Zeus davon erfährt, befällt ihn ein Unbehagen, doch sein Sohn beteuert ihm für alle Zeiten Gefolgschaft. Dies beruhigt ihn nicht, hatte doch auch er seinem Vater die gleichen Worte gesagt, bevor er ihn umbrachte, um an seine Stelle zu treten. Zudem wusste er um Apollons Machtwillen, er hatte bisher alle aus dem Weg geräumt, die sich ihm entgegengestellt hatten. „Er ist uns allen über“, der Satz des Hermes bleibt beunruhigend in Zeus’ Ohren.[25] – Das Szenario, das Hein ausfüllt, trifft auf moderne und literarisch freie Weise den Kern dessen, was die Besonderheiten des Willens zur Macht betrifft, der Apollon heraushebt aus dem Kreis der olympischen Götter. Seine Waffe, den ihm zustehenden Herrschaftsraum zu sichern, ist in erster Linie seine List, seine Verschlagenheit, seine vorausschauende Klugheit. Den anderen stets ein Schritt voraus und schneller zu sein, macht ihn unschlagbar. Dass er sich dabei zudem der duldenden Unterstützung durch Zeus sicher sein kann, erhöht die Potenz seines Willens, seine Macht bis an die äußerste Grenze des Olymps respektive Zeus’ zu steigern.

Aber er konnte auch anders. Im ersten Gesang der Ilias erscheint Apollon als der rachsüchtige Gott, der Pest über die Truppen Agamemnons bringt, weil sie seinem Priester nicht die Ehre erwiesen haben, die ihm zukommt: „welcher der götter hatte sie gegeneinander aufgehetzt? Es war apollon, zeus’ sohn mit leto: vor lauer ärger über agamemnon hatte er im lager eine pest ausbrechen lassen die das heer dahinraffte; apollons priester chrýses war nicht gebührend ehre erwiesen worden als er bei den griechischen schiffen erschien“.[26] Erst als dem Genüge getan wird, auf die Einsprüche anderer Götter/Göttinnen, die ihrerseits ihre Einflusssphären bedroht sehen, hört er nicht, ist er zu Zugeständnissen bereit. Tod und Verderben sind des Gottes Geschäft und Macht, unterlegt mit einem durch nichts aufzuhaltenden Willen nach Herrschaftsbestätigung. Dem Gebot des Zeus an die Götter, nicht in den Krieg um Troja einzugreifen, folgt er unwillig. Als dieser schließlich, um den Schlachten eine endgültige Wendung zu geben, den Göttern erlaubt, ihren Interessen zu folgen, wird der Krieg zur Götterschlacht, zum mörderischen Gemetzel: „ein Gott gegen den anderen.“[27] Auch Apollon setzt rücksichtslos seine Macht ein, seine Kriegspartei zu unterstützen. Mit der Kraft seiner Pfeile, mehr noch mit aufstachelnden beleidigenden Reden schürte er den Kampfwillen, motivierte er finessenreich zu Gräueltaten aller Art. Oder hielt die, die ihm vertrauten, zum Narren, höhnte ihren sterblichen Vergeblichkeiten, zeigte sein wahres Gesicht. Sein prominentes Opfer: Achill. „ich bin ein gott, du – mensch!“ Achill erkennt zu spät, wie sehr ihn Apollon genarrt hat: „du hast mich zum narrn gehalten und in die irre geführt! […] der tödlichste der Götter […] um den sieg hast du mich gebracht […] das fällt dir ja leicht – mußt ja keine Vergeltung fürchten! Aber wenn ich die macht hätt, würd ichs dir heimzahlen.“[28] Apollon geht es darum, sich hervorzutun vor den anderen Olympiern, einschließlich vor seinem Vater Zeus. Um keinen Zweifel zu lassen an seinem Willen zur Macht. Im Kontext seiner kriegerischen Natur zeichnete Nietzsche ihn als den Gott, von dem man erwarten musste, dass er sich als Befürworter von Kriegen hervortun würde. Mit Blick auf den ersten Gesang der Ilias zeichnete er ihn: „Fürchterlich erklingt sein silberner Bogen: und kommt er gleich daher wie die Nacht, so ist er doch Apollo, der rechte Weihe- und Reinigungsgott des Staates. Zuerst aber […] schnellt er den Pfeil auf die Maulthiere und Hunde. Sodann trifft er die Menschen selbst, und überall lodern die Holzstöße mit Leichnamen.“ (GS, KSA 1, 774) Dies zeigt Wirkung: Abschreckung und Furcht ebenso wie Hochschätzung und Verehrung. Auf dem Olymp, wissen die homerischen Hymnen zu berichten, empfing man ihn stets furchtvoll und mit großen Ehren: „wenn er dem Hause Kronions / naht; […] erheben sich gleich, sobald er herankommt / alle vom Sitz.“[29] Kallimachos von Kyrene wollte sogar wissen, dass sich Türen und Tore des Olymp von selbst öffneten, sobald Apollon nahte.[30]

Apollon der Gewalttätige, der Übergriffige, der Strafende, der Tod und Vernichtung bringende Gott, der Listenreiche, der Täuschende, der Wissende und Gesetze Nicht-Achtende. Giorgio Colli hat ihn als „Gott der raffinierten Gewalt“ bezeichnet und damit an Nietzsches Bild des Gottes entscheidende,[31] aber für seine Philosophie grundlegende Auslassungen bezeichnet. Nietzsche übersah, so Colli, an Apollon wissentlich dessen rohe, gewalttätige Seite. Sie eignete sich schlecht für die von ihm inaugurierte Dialektik von Dionysischem und Apollonischem. Das Sonnenhafte des Gottes, seine Musen-Empathie und sein mit Selbstverständnis angenommenes Musagetentum vertrugen sich kaum mit den barbarischen Sieger- und Strafgebaren zum Beispiel gegenüber Marsyas oder Daphne und seinem Unwillen, Siege anderer zu akzeptieren. Zweiter zu sein war ihm eine Unmöglichkeit, stand seinem Willen zum Sieg, zur Größe, zur unangefochtenen Herrschaft im Wege. Er war der pfeil-sendende Jäger und Pythonbezwinger, der Verderber und der der trickreichen Lüge, schließlich sogar als Wölfischer, jedenfalls als ein den Wolf zum Zeichen seiner Macht Nehmender.[32] Und ebenso der Licht- und Frühlingsgott, der Jugendliche, der Schöne. Und er war Heilsbringer, Weissagender, lyra-beherrschender Verführer, Gott der Mäßigung, Zeus’ Liebling und unbezwinglich-betörender Dionysos-Bruder, beide sich den magischen Ort Delphi herrschaftsmäßig und jahreszeitlich teilend. In dieser mindestens Doppelpoligkeit seiner unsterblichen Existenz liegt seine Faszination. Auch für Nietzsche. Kaum eine Beschreibung dieser Faszination und ihrer Folgen für Nietzsche trifft dies genauer als die seines italienischen Herausgebers Colli:

„Es gibt einen grundlegenden Aspekt Apollos, von dem die Lehre Nietzsches nichts erkennen läßt: derjenige des schrecklichen, pfeileschleudernden, unvorhersehbaren, fernen, rachsüchtigen und niederschmetternden Gottes, des wilden Beherrschers und Vernichters der Wölfe […] Der sonnenhafte Aspekt, das Strahlen des Lichts, der Glanz der Kunst – ein vielleicht erst nachträglich ausgebildeter Charakter Apollos – ist von Nietzsche in den Vordergrund gestellt worden. Auf diese Weise ist ihm einmal […] der vitale Zusammenhang zwischen Apollo und Dionysos entgangen und zum anderen […] die Verbindung zwischen dem apollinischen Ursprung und dem Aufblühen des logos, dieser obersten Waffe der Gewalt, dieses tödlichsten Pfeiles, der vom Bogen des Lebens geschnellt ist.“

Apollos Waffenentwicklung vom tödlichen Pfeil zum Wort, zum Logos ist der Weg einer Verfeinerung seiner Waffen in Richtung weg von der physischen Gewalt zur intellektuellen, ändert nichts an ihrem Macht- und Herrschaftspotential, nichts am mit ihnen durchzusetzenden Willen zur Macht. Der Bogen verkörpert, das wusste Nietzsche von Heraklit, das Leben und bestimmt dieses dadurch als gewaltvolles. Aber: „Die Gewalt ist das Leben; das Ergebnis ist die Vernichtung. Doch Apollo ist die Gewalt, die als Schönheit erscheint.“[33] Darauf kam es Nietzsche an. Da kann man schon die dunkle Seite seiner Gewalt (zu) gering veranschlagen. Allerdings mit der Konsequenz, sowohl Apollon als auch Dionysos zu polar, zu einseitig zu fassen und in zu vereinfachter Gegensätzlichkeit jedes von Nietzsche eigentlich gewollte Miteinander-Verbunden-Sein fundamental zu unterlaufen. Mehrfache Behauptungen: „Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben!“ (GT, KSA 1, 40), Schlussfolgerungen vom versöhnenden Bruderbund: „Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus“ (GT, KSA 1, 140) oder „Höhepunkt: die Versöhnung von Dionysus und Apollo“ (NL 7[70], KSA 7, 154) bleiben ohne wirkliche argumentative Nachhaltigkeit. Für den mächtigen Gott bedeutete dies keine Schwächung im Gesamt der widersprüchlichen Verbunden- oder Gebundenheit beider Götter mit- und aneinander. Aber: Ungewollt erhöhte sich die Macht Apollons, sein Wille zur Herrschaft begann zunächst unmerklich und dann immer konzeptiver den zur Dionysos-Philosophie driftenden Weg zu dominieren. Es war mehr Wunschdenken als nachweisbare Tendenz anzunehmen: „Das Nebeneinander von Apollo und Dionysos, nur kurze Zeit […] Dann steigern sich beide Triebe – je großartiger der Radikalismus des Denkens, um so großartiger wird die Entfaltung des Dionysischen.“ (NL 7[72], KSA 7, 154) Dem stand entgegen, dass Apollon, so Nietzsche, und darin sah er eine seiner großen Kulturleistungen, nicht aufhörte, die Einzelnen in der Gemeinschaft als Einzelne zu schützen, „durch immer neue Configurationen neue Einzelne zu erzeugen und durch wundersame Vorzeichen um sie herum einen schützenden Bann zu ziehen.“ (NL 7[121], KSA 7, 175) Was Nietzsche ihm für die frühen Phasen griechischer Kultur zugutehält, gilt durchgehend. Apollon als Garant und machtvoller Unterstützer einer Kultur, deren Prinzip auf der Existenz und Kraft der Einzelnen beruht, die zwar temporär sich von Dionysos zu einer Befreiung davon ‚verführen‘ lassen, deren Individuation für sie aber außerfrage gestellt wird. Ohne diese würde jede Kultur zuschanden. So zeigt sich der Grad der Kultur, inwieweit der Gott in der Lage ist, nicht nur den Prozess der Individuation zu initiieren, sondern auch darin, den Willen dazu zu haben, ihn durchzusetzen und zu erhalten. Dazu ist Weisheit, ist Erkennen, ist Intellekt nötig: „Der Gott des schönen Scheines muß zugleich der Gott der wahren Erkenntniß sein. Aber jene zarte Grenze, die der Traumgott nicht überschreiten darf, […] darf auch nicht im Wesen des Apoll fehlen: jene maßvolle Begrenzung, jene Freiheit von wilderen Regungen, jene Weisheit und Ruhe des Bildnergottes. Sein Auge muß ‚sonnenhaft‘ ruhig sein: auch wenn es zürnt und unmuthig blickt, liegt die Weihe des schönen Scheines auf ihm.“ (DW, KSA 1, 554)[34] In der Fähigkeit dazu liegt sein besonderer göttlicher Wille, sein Wille zur Macht. Er beherrschte dessen Partituren souverän. Das hieß auch: er setzte rigoros dessen Rhetorik ein und besaß den Willen dazu. Die Fähigkeit der meisterlichen Sprache hob ihn vor allen anderen Göttern, einschließlich Dionysos und Zeus heraus. Etwas benennen zu können, Namen zu geben, hatte Nietzsche explizit als „Herrenrecht“, die Herkunft der Sprache selbst als „Machtäusserung der Herrschenden“ angesehen (GM, KSA 5, 260). Sprache als Machtäußerung Apollons!

Der Gedanke führt dazu, dem Willen zur Macht bei Apollon die Anmutung eines intellektuellen Paradigmas zu unterstellen, das den Gott in seinen Konturen als Konstrukt, als Erfindung erkennen lässt, mit dem der Philosoph ausschreiben will, worum es geht: Apollon zu der einen Seite göttlicher Willen zur Macht zu stilisieren, um die andere, Dionysos, in ihrer letztlichen Überlegenheit begründen zu können. Der Plan geht nicht auf. Dazu ist Nietzsche zu sehr ein Philosoph der Moderne. Und diese kommt per definitionem nicht ohne ihre Selbstreflexion aus, die wiederum nicht ohne ihre rigorose Intellektualität sinnvoll zu realisieren ist. Apollon in und mit der Macht seines erkennenden, mit höhnisch-verachtendem Unterton, des ‚Erkenne dich selbst‘ an seinem Tempel in Delphi, ist ausgestattet mit dem Narrativ eines Willens zur Macht, das besetzt ist mit den Insignien einer Deutungshoheit, aus der sich aller Herrschaftswille bestimmt: Vor allem der, für die Welt und den Einzelnen sinnversprechend, sinnsichernd zu sein. Erst und nur Apollon kommt es zu, den dionysischen Wahn in seinen Folgen zu deuten, zu erklären, zu erkennen. Genauer: die Möglichkeit dazu zu eröffnen. Eigentlich erklärt auch er nicht, er deutet an, was dann für weitere Deutungen Denkräume öffnet. So zwingt er zu sich und seiner Macht. Georg Wilhelm Friedrich Hegel bereits hatte ihn seiner ihm zugesprochenen Klarsicht wegen als „Licht des Wissens“, als den „geistige[n] Gott[ ]“, in dem aber die Erinnerung an Vor- und Nicht-Geistiges noch präsent ist,[35] gesehen und auf diese Weise für eine Moderne tauglich gemacht, die ihre Existenz auf das erkennende, das intellektuelle Moment allen Daseins festschreibt. Einer solchen Überlagerung wollte Nietzsche widerstehen, sah sie als Grund für das existenzielle Dilemma der modernen Kultur und opponierte mit seinen Vorstellungen vom Willen zur Macht gegen ihre unhinterfragte Geltung. Bei Machtabwägbarkeiten hätte sich die Waage aber teils vermittelt, teils unverhohlen, zur Seite Apollons gesenkt. Sein Wille zur intellektuellen Macht wog schwerer. Nur durch ihn konnte Nietzsche dem ekstatischen Rausch-Bruder dessen Macht an den Thyrsos-Stab heften und ihm folgen.[36] In der Gestalt antiker Götter zwei Willen zur Macht. Momente ihrer Vielheit, die ihrem Wesen nach durch und durch modern sind. Und die Zweifel bis heute nach sich ziehen.

Online erschienen: 2023-11-01
Erschienen im Druck: 2023-10-25

© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

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Downloaded on 26.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/NIFO-2023-006/html
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