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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter (A) November 14, 2020

Solidarität unter Frauen?

  • Beate Rössler EMAIL logo

Abstract

Is it necessary and is it possible to develop and justify a meaningful concept of women’s solidarity? In this contribution, I will answer both of these questions in the affirmative. Starting by developing a concept of solidarity, I then move on to discussing the intricate question of a consistent and meaningful concept of ‘woman’. After suggesting a solution to the semantic as well as ontological problems, I turn to the idea of collective experiences of oppression as a possible basis or at least a starting point for women’s solidarity. The idea of collective experiences has tobe enriched, however, by referring to the idea of political imagination in order to demonstrate a way of providing convincing interpretations of shared experiences. In a last step, I discuss – following Habermas – the relation between solidarity and justice, since it is solely the idea of justice which can motivate as well as justify claims to solidarity. I end by having a brief look at conflicting claims of solidarity and the problem of intersectionality.

Als ich begann, mich mit dem Thema der Solidarität unter Frauen zu beschäftigen, hatte ich zunächst deutliche Intuitionen: Eine solche Solidarität ist möglich, notwendig und außerdem leicht zu begründen. Diese Sicherheit schwand nach intensiverer Beschäftigung mit dem Thema, und obwohl ich im Folgenden eine Argumentation vorstellen werde, die meiner ersten Intuition entspricht, bleibt sie angreifbar. Und auch dafür werde ich argumentieren. [1]

Gleich die erste Hürde bei dieser Argumentation ist jedoch: Kann man es rechtfertigen, von Frauensolidarität zu sprechen? Muss nicht eigentlich, wenn

man schon über Solidarität redet, von der menschlichen Solidarität aller Unterdrückten und Entrechteten geredet werden? Ich mache hier also Voraussetzungen, die im Folgenden begründet werden müssen. Vorausgesetzt ist zum Ersten, dass wir immer noch in einer patriarchalen Gesellschaft leben. Deshalb scheint es praktisch notwendig, dass Frauen sich als Frauen vielleicht nicht gemeinsam engagieren, aber doch füreinander eintreten und sich für die Rechte von Frauen einsetzen, trotz oder auch wegen der Vielfältigkeit von Rollen und Identitäten, in denen Frauen leben. Sie leben in unterschiedlichen Gruppen und finden sich diesen unterschiedlichen Gruppen, die ihrerseits Solidarität fordern können, zugehörig.

Dass wir in patriarchalen Verhältnissen leben, bedeutet, dass Frauen strukturell benachteiligt werden und ihnen strukturell gleiche Chancen, Rechte, Freiheiten verweigert oder jedenfalls der Zugang zu ihnen erschwert werden. Dass es unter diesen Frauen privilegierte und weniger privilegierte gibt, all dies ist unbestritten. Akademische Frauen sind ein gutes Beispiel für Privilegien, zumindest im Hinblick auf die Ausbildung (denn nicht jede qualifizierte Frau hat nach der privilegierten Ausbildung auch tatsächlich Chancen auf eine Stelle). Dennoch halte ich es für unproblematisch, unsere Gesellschaft als patriarchal zu bezeichnen, auch wenn ich dies hier nicht im Einzelnen begründen will. [2]

Weil auch liberal-demokratische Gesellschaften noch immer patriarchale Strukturen aufweisen, muss eine feministische Theorie in der Lage sein, die Unterdrückung von Frauen als Frauen zu kritisieren: Nur so kann man einerseits die deutlichen und sichtbaren Freiheitsgewinne konzeptualisieren, die mit den verschiedenen Re-Interpretationen von gender einhergehen. Und nur so kann man andererseits an einem Begriff von Frauenrechten festhalten, der etwa die Notwendigkeit von Abtreibungsrechten deutlich machen und Frauen mobilisieren kann, wenn solche Rechte in Gefahr oder noch gar nicht existent sind; oder dann, wenn sich Frauen als Frauen gegen spezifisch gegen sie gerichtete Formen von Gewalt wehren müssen, wie im Fall von Vergewaltigung oder sexueller Belästigung. Deshalb ist es gerechtfertigt, von ‚Frauensolidarität‘ zu sprechen und eine Begründung für ihre Möglichkeit zu suchen.

Zum Zweiten muss ich unterstellen, dass sich Solidarität auf das Verhältnis von Gruppenmitgliedern bezieht und nicht, oder nicht zuerst, auf die Menschheit als solche. Solidarität verweist dann auf Partikularität, wobei die Frage nach der Universalisierbarkeit erst einmal offenbleiben kann. [3] Auf beide impliziten Vorannahmen werde ich am Schluss zurückkommen, und dann genauer argumentieren, warum diese Annahmen sachlich begründet sind.

Beginnen will ich im Folgenden jedoch zunächst mit einigen Vorschlägen zur Definition von Solidarität und deren Diskussion. Im Anschluss daran will ich drei zentrale Probleme diskutieren, vor die uns der Begriff der Frauensolidarität stellt, nämlich die Frage „Wer gehört dazu?“, also die Frage nach den Kriterien zur Bestimmung der Gruppe, deren Mitglieder Solidarität verdienen; dies ist die semantisch-ontologische Problematik. Zum Zweiten geht es um die Frage, ob, und wenn ja, in welcher Weise, gemeinsame Erfahrungen oder gemeinsame Überzeugungen, die auf diesen Erfahrungen beruhen, für Solidarität konstitutiv sind. Dies ist die epistemologische Problematik. Im dritten und vierten Schritt will ich die Frage beantworten: Worauf lässt sich Solidarität gründen, wenn es nicht die Gleichheit von Erfahrungen ist, auf die sie sich beziehen lässt? Die Antwort hierauf hat eine formale Seite – die Beschreibung politischer Imaginationen – und eine substantielle: Prinzipien der Gerechtigkeit müssen die Grundlage von Solidarität darstellen. Es ist somit die Gerechtigkeit, die der Solidarität die Ziele vorgibt: Dies will ich jedenfalls zeigen. Enden werde ich mit zwei skeptischen Bemerkungen. [4]

Was ist ‚Solidarität‘? In der Literatur finden sich ganz verschiedene Definitionsvorschläge, wie bei allen normativ aufgeladenen und umstrittenen Begriffen. [5] Wenn wir mit einem allgemeinen Begriff beginnen, dann kann man hier sehen, dass Solidarität zum einen die Zugehörigkeit zu einer relevanten Gruppe voraussetzt, in diesem Fall sind dies die Frauen – und zwar die Zugehörigkeit sowohl aus der Dritte-Person-Perspektive wie auch, vor allem, aus derjenigen der ersten Person: Sie fühlt sich solidarisch zugehörig zu einer bestimmten Gruppe. Diese Zugehörigkeit muss aber keineswegs essentiell sein und sie ist auch nicht notwendigerweise ursächlich für Solidarität; sie bildet allerdings die Grundlage für die Möglichkeit, oder die Offenheit, um an gemeinsame Projekte, Ziele appellieren zu können – dies werden wir gleich noch genauer sehen.

Zum Zweiten gehört zur Solidarität die Möglichkeit, sich auf gemeinsame Erfahrungen berufen, an eine gemeinsame Erfahrungsgrundlage appellieren zu können, also an eine – wie auch immer begründete und lose – gemeinsame Identität.

Zum Dritten ist eine solidarische Haltung der Verbundenheit mit einer Gruppe eine ethische und politische Haltung, die sich mit den gemeinsamen Zielen der jeweiligen Gruppe identifiziert und sich für diese einsetzt. Genau hier, wo es um die gemeinsamen Ziele – oder auch Projekte oder Werte – geht, stellt sich auch die Frage der Legitimität: Solidarität verdient, so möchte ich zeigen, nur eine solche Gruppe oder Bewegung, deren Ziele sich ethisch und politisch legitimieren lassen. Die Solidarität zwischen Mitgliedern der Mafia wäre in diesem Sinn nicht legitim. [6] Solidarität als spezielles Band, als ausgezeichnete Beziehung hat ihren Ursprung offenbar in der Gruppe – doch gerade aufgrund der Legitimität der Ziele kann zugleich die Universalisierbarkeit der partikularen Solidarität gegeben sein.

Schließlich will ich viertens behaupten, dass es zwar keine Pflicht zur Solidarität gibt, dass man Solidarität jedoch (moralisch, politisch) fordern kann. Aufgrund der vielen unterschiedlichen Kontexte und Rollen, in denen Menschen in modernen Gesellschaften leben, scheint es fraglich, ob man ein Recht auf und eine korrespondierende Pflicht zur Solidarität wirklich begründen kann. Man muss allerdings zur Solidarität motiviert werden können; darauf komme ich später zurück. [7]

Um die Problematik ein wenig konkreter zu machen, will ich kurz auf zwei Beispiele verweisen: Die #metoo-Bewegung, als solche schon ein Beispiel für eine solidarische Bewegung von Frauen, hat auch Paradigmen unsolidarischer Haltungen generiert; so etwa der Fall der australischen Feministin Germaine Greer und ihrer Haltung gegenüber Opfern von Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen. [8] Greer lehnte die #metoo-Bewegung ab und warf den betroffenen Frauen vor, nur auf Publizität aus zu sein:

I can hear the feminists screaming at me, ‚you’re trivialising rape!‘ Well I’ll tell you what … You might want to believe that the penis is a lethal weapon and that all women live in fear of that lethal weapon, well that’s bullshit. It’s not true. We don’t live in terror of the penis … A man can’t kill you with his penis. [9]

Man kann dies als Beispiel dafür interpretieren, wie unterschiedlich Erfahrungen verstanden werden können und deshalb als ein Beispiel für die epistemologische Problematik (wie erkennen wir [Erfahrungen von] Ungerechtigkeit?).

Ein anderes Beispiel kann die semantisch-ontologische Problematik (worüber reden wir, wenn wir über ‚Frauen‘ reden?) verdeutlichen: Sollen Cis-Frauen mit Trans-Frauen solidarisch sein? [10] Auch hier finden sich heftige Diskussionen, in diesem Fall über die Zusammensetzung der relevanten Gruppe: So bestreiten etwa radical feminists, dass Trans-Frauen die feministische Solidarität und Gemeinschaft verdienen, dass also Trans-Frauen als Frauen respektiert werden sollen. Auf diese Beispiele komme ich zurück.

1 Gibt es ‚die Frauen‘?

Damit komme ich zu meiner ersten Frage: Wer gehört dazu? Will man von Frauensolidarität sprechen, braucht man einen Begriff von ‚Frauen‘, auf den Frauen sich solidarisch beziehen können. Bekanntlich gibt es Konflikte zwischen Frauen nicht nur wegen differenter politischer Interessen, sondern auch wegen differenter Identitäten. Diese Identitäten gründen sich auf eine Idee von Frau-Sein (oder Queer- oder Gay-Sein), die aus der Perspektive der ersten Person bestimmt wird, aber impliziert, dass es nicht unbedingt eine Dritte-Person-Perspektive geben könne, die sie beschreibt. Dies ist nämlich schon umstritten, wenn nicht mehr von women writers gesprochen wird, sondern von female-identified writers. Kann man hier noch von ‚Frauen‘ sprechen?

Auch hier gibt es wiederum eine Fülle unterschiedlicher Positionen und ich kann sie nur kurz erläutern und ebenso kurz kritisieren. Alle Versuche, so behauptet etwa Mari Mikkola in ihrem Buch The Wrong of Injustice, ein thick concept von ‚Frau‘ zu entwickeln, schlügen fehl. [11] Jeder Versuch, nach einer klaren, genau abgegrenzten Begriffsbestimmung zu suchen, ende in einem nicht ausreichend inklusivem Begriff von ,Frau‘; und jeder Versuch, sich ontologisch auf biologische oder andere Kriterien zu berufen – wie etwa der von Natali Stoljar, die mit Paradigmen von Frauen und mit dem Postulat der hinreichenden Ähnlichkeit arbeitet –, könne ebenfalls nicht das erklären oder begründen, was er will: einen konsistenten und überzeugenden Begriff von ,Frau‘, unter den alle, die sich als ,Frau‘ – also aus der Erste-Person-Perspektive – bezeichnen, auch wirklich fallen. Doch erst dann könne der Begriff ,Frauen‘ als social kind bestimmt werden. Mikkola argumentiert zwar, dass Theoretikerinnen, um überhaupt feministische Theorie betreiben zu können, „must be able to refer to women, and our language use must pick out women’s social kind“. [12] Dies könne jedoch auch ein „dünner“ Begriff von ‚Frau‘ leisten. Dieser schwache oder dünne Begriff entgeht ihrer Kritik, weil er ausschließlich extensional bestimmt wird, wobei die Extension auf „predoxastic experiences“ der normalen Sprecher und Sprecherinnen darauf basiert, was Frauen sind. Ein stärkerer Begriff sei weder notwendig noch möglich: „Providing definitions of gender and woman that everyone can agree on, that are in some sense social, and that can be employed to justify positive feminist visions is not possible.“ [13]

Dieser Versuch, an die vortheoretischen Erfahrungen anzuknüpfen, die ausreichen sollen, um einen gewissermaßen alltagstauglichen Begriff von ‚Frau‘ zu behalten, muss jedoch misslingen: denn gerade in den vortheoretischen Erfahrungen äußern sich die je unterschiedlichen Identitäten, auf die Personen sich berufen, wenn sie andere – beispielsweise ‚Trans-Frauen‘ – aus der Gemeinschaft der (Cis-)Frauen ausschließen wollen. Gerade vortheoretisch können diese Identitäten eine wesentlich unkritische Rolle spielen.

Doch zum zweiten, und das scheint mir entscheidend, gibt sich Mikkola deshalb mit einem sehr schwachen Begriff von ‚Frau‘ zufrieden, weil es ihr um eine allgemeine menschliche Theorie von Ungerechtigkeit geht. Dafür braucht sie keine Theoretisierung der Tatsache, dass Frauen als Frauen Unrecht geschieht. Wenn man jedoch, wie ich, daran festhalten will, dass Frauen im Patriarchat als Frauen ungerecht behandelt werden, muss man versuchen, einen stärkeren Begriff zu konzeptualisieren.

Ich will deshalb einen Schritt weiter gehen, mit einem anderen Vorschlag, der dasselbe Dilemma analysiert, aber für eine andere begriffliche Lösung argumentiert: Tommy Shelbys Theorie schwarzer Solidarität in We Who Are Dark. [14] Shelby argumentiert für einen pragmatischen Begriff von blackness, von einer Schwarzheit, der weder biologisch, noch historisch, noch kulturell die schwarze Identität bestimmen will, sondern der auf die Ziele einer solchen Definition bezogen ist: Es geht Shelby nämlich darum, die Möglichkeit schwarzer Solidarität zu begründen und hierfür eine begriffliche Grundlage zu haben. Black solidarity ist für ihn also politische oder emanzipatorische Solidarität: Der Begriff der Schwarzheit ebenso wie der der Solidarität ist hier eindeutig auf die politischen Ziele bezogen.

Auch Shelby ist kritisch gegenüber einem essentialistischen Begriff von Schwarzheit oder schwarzem Nationalismus und argumentiert für eine thin blackness und einen pragmatischen Begriff der schwarzen Identität. Doch anders als Mikkola geht es Shelby gerade um eine hinreichend starke Idee von blackness; und um einen Begriff von Solidarität, der sich auf einen „shared set of values and goals“ gründet: [15] Es geht ihm um eine „thin conception of blackness [as] the proper basis for black solidarity“. [16] Shelby will folglich beides: „thin concepts but robust solidarity“. Genau dies markiert den Unterschied zu Mikkola, die gerade nicht an einem robusten Begriff von Frauensolidarität interessiert ist, weil es ihr um eine Theorie von entmenschlichendem Unrecht geht, nicht um eine Theorie, in der Frauen als Frauen Unrecht widerfährt.

Man könnte einwenden, dass auch dieser Begriff von Shelby noch zu schwach sei, um einen ausreichend substantiellen Begriff von ‚Frau‘ zu bestimmen. Dass mehr nicht möglich, aber auch nicht nötig ist, will ich deshalb in dieser ersten Runde der Begriffsbestimmung noch in einem letzten Schritt zeigen und dabei von einer Idee Gebrauch machen, die Sabina Lovibond erläutert. [17] Auch Lovibond denkt, dass der Begriff ‚Frau‘ zu denen gehört, ohne die wir nicht denken, argumentieren, leben können (we cannot do without). Und sie ist ebenfalls der Meinung, dass sich ein solcher Begriff nicht wirklich substantiell, essentiell bestimmen lässt, wie sie im Anschluss an Bernard Williams schreibt: Ein Begriff ist dann „too indeterminate to provide a rationally motivated answer to every possible question about the correct application of our concept […] [of woman]. The best policy in regard to this concept is therefore to follow the example of the Greeks and to be ‚superficial – out of profundity‘.“ [18]

Lovibond argumentiert, es sei sinnvoll, Begriffe nicht immer vollkommen genau zu definieren und abzugrenzen und die Bedingungen, unter denen wir sie zuschreiben, nicht immer völlig zu identifizieren. Dann bestünde die Gefahr, in einen lähmenden Skeptizismus zu fallen, weil kein Begriff in diesem absoluten Sinn wirklich zu definieren sei. Dies gelte aber gerade für solche Begriffe, auf die wir nicht verzichten können, we cannot do without. Deshalb müsse man hier in der Begriffsbestimmung ‚oberflächlich‘ vorgehen. Genau dies kann dann auch für den Begriff ‚Frau‘ gelten: Wir akzeptieren, dass wir ihn nicht vollkommen präzise definieren können und wissen, dass wir ihn dennoch (zumeist) problemlos verwenden können, wenn wir diese ‚tiefgründige Oberflächlichkeit‘ akzeptieren.

Mit diesem Begriff von „Frau“ will ich nun von der semantisch-ontologischen Frage zur epistemologischen Problematik kommen: Hier geht es um die Gemeinsamkeit von Erfahrungen, die Frauen als Gruppe miteinander verbinden soll, wenn sie sich als miteinander solidarisch verstehen können sollen.

2 Gleiche Erfahrungen?

Das Problem ist wiederum, dass die Gruppe, um die es geht, nicht homogen ist, sondern extrem divers: Es gibt keinen gemeinsamen Satz von Erfahrungen, sondern nur eine außerordentliche Vielfalt der Erfahrungen als Frau unter patriarchalen Bedingungen. So schreibt etwa bell hooks in dem einflussreichen Artikel „Sisterhood: Political Solidarity Between Women“, dass ein Begriff von Frauensolidarität unmöglich sei, wenn er sich auf ähnliche Erfahrungen stützen wolle: „Women are divided by sexist attitudes, racism, class privilege, and a host of other prejudices.“ [19]

Wenn die Heterogenität, Pluralität der Erfahrungen und der damit (nicht notwendigerweise, aber häufig faktisch) einhergehenden Überzeugungen einerseits so problematisch ist, andererseits die Gemeinsamkeit von Erfahrungen in irgendeiner Weise in der Begründung von Solidarität eine Rolle spielen soll, dann sind für die Möglichkeit von Solidarität zwei Schritte notwendig. Zum einen müsste man theoretisch plausibilisieren können, wie ganz andersartige Erfahrungen von Diskriminierung oder Unterdrückung gegenüber anderen verständlich und artikulierbar gemacht werden können und deshalb übersetzbar, vermittelbar. Das wiederum heißt, dass die Interpretationen der unterschiedlichen Erfahrungen in spezifischer Weise für andere (Frauen) nachvollziehbar gemacht werden müssen. Es ist hilfreich, hier zunächst auf den Begriff von ‚Erfahrung‘, wie Hemmings ihn erläutert, zurückzugreifen: Hemmings sieht Erfahrungen, und das ist entscheidend, nicht einfach als etwas Gegebenes, sondern als dynamisch, weil interpretations- und anschlussfähig für und an andere. Sie wendet sich gegen die Politik der Identität, will also gerade nicht auf der Grundlage epistemischer Privilegiertheit für eine Standpunkttheorie argumentieren, sondern entwirft einen Ansatz, in der sich das mögliche solidarische Engagement von Frauen auf die affektive Dissonanz gründet, die Erfahrungen produzieren können.

Hemmings verwendet diesen Begriff der affective dissonance, um deutlich zu machen, was hier bewältigt werden muss: die Überbrückung des affektiven Abstands zwischen den Erfahrungen von Frauen. Ihr Ansatz ist, so schreibt sie, „proposed as a way of moving away from rooting feminist transformation in the politics of identity and towards modes of engagement that start from the affective dissonance experience can produce“. [20]

Sie will mit dieser Empathie einen Zugang zu den Erfahrungen anderer eröffnen. Denn durch die Unterschiedlichkeit der Erfahrungen entsteht ein Streit darüber, wie diese Erfahrungen zu interpretieren seien – und wie sich die unterschiedlichen Wahrheitsansprüche in einer Situation, in der sie sich auf eben unterschiedliche Erfahrungen gründen, verhandelt werden können. Hemmings verortet den entscheidenden Schritt hin zu einem Verständnis, dass es hier um gemeinsame Erfahrungen geht, in diesem Streit – denn er muss mit einem Urteil darüber enden, wie diese diskriminierende Situation, die im Zentrum des Streits steht, verstanden werden muss, nämlich als ungerecht und sexistisch. [21]

Empathie ist in diesem Ansatz ebenso wichtig wie der Streit um Wahrheit und die Orientierung an Gerechtigkeit – und Hemmings ist sich dessen bewusst, dass diese Form affektiver Solidarität Gefahr läuft, Empathie als typisch weibliche Eigenschaft zu naturalisieren. Doch statt das Einfühlungsvermögen zu naturalisieren, begreift sie es als spezifisch feministische Möglichkeit gegebenenfalls zwischen der (nicht als Unterdrückung erlebten) weiblichen Erfahrung und der feministischen Theorie – die die Erfahrung als Unterdrückung kritisieren will – zu vermitteln. Die affektive Bewegung hin zu einer anderen Interpretation oder Beurteilung einer Erfahrung muss einhergehen mit dem Streit um Wahrheit – oder um Gerechtigkeit; dieser Streit kann dann die für das gegenseitige Verständnis notwendige Brücke bauen. [22]

Entscheidend für die Möglichkeit der Solidarität von Frauen ist also, dass inkompatible Erfahrungen ineinander übersetzbar gemacht werden können. Entscheidend sind nicht die tatsächlich gemeinsamen oder gleichen Erfahrungen von Unterdrückung, sondern die Möglichkeit, diese Erfahrungen und die Überzeugungen, die mit ihnen einhergehen, zu kommunizieren. Hier kann man auf Überlegungen von Uma Narayan zurückgreifen: Sie legt den Akzent nicht wie Hemmings auf die affektive Seite der Erfahrungen, sondern deutlicher auf die Möglichkeit der Übersetzung. Deshalb analysiert sie zum einen die Heterogenität von Gruppen; zum zweiten die komplexe Beziehung zwischen der Erfahrung von Unterdrückung und der Reaktion auf diese und schließlich die Schwierigkeit, beides, die Erfahrung ebenso wie die Reaktion, anderen zu vermitteln.

Aus ihrer interessanten und an Beispielen reichen Theorie picke ich mir hier nur Elemente heraus, die für meine Frage nach der Möglichkeit von Frauensolidarität hilfreich sind. Narayan beschreibt die Erfahrungen von Opfern als solche mit einem epistemic privilege, das ein, jedenfalls prima facie, anderen nicht zugängliches Wissen produziert. Aber genau um diese Vermittlung geht es ihr. Die lived experience der Unterdrückung muss so artikuliert und beschrieben werden, dass sie auch Außenseitern der Unterdrückung (also zum Beispiel den meisten privilegierten weißen Akademikerinnen) verständlich sein und sie gegebenenfalls zur Solidarität motivieren kann.

Narayan schreibt, es gehe um die

inability of the outsider to fully understand and respect the emotional responses of the insider. In some cases, the response of the outsider violates the insider’s sense of self-identity, self-worth or self-respect. In other cases, the response of the outsider violates the insider’s sense of identity and solidarity with and respect for her group. [23]

So bringt sie auch eine Reihe überzeugender Beispiele für Situationen, in denen es um Verständnis und Solidarität zwischen Personen geht: mit direkten, unmittelbaren Erfahrungen von Unterdrückung einerseits und anderen, die hier ‚außen‘ stehen, andererseits. Warum ist dies wichtig und interessant? Weil Narayan die prinzipielle Möglichkeit der Verständigung zwischen Außenseitern und insidern von Unterdrückungserfahrungen für eine notwendige Grundlage der Möglichkeit von Solidarität hält. Es muss möglich sein, Erfahrungen untereinander zu vermitteln. Wie wichtig dies ist, kann auch das oben genannte Beispiel der ‚Terfs‘ zeigen, in dem die radical feminists auf der Unübersetzbarkeit ihrer Erfahrungen von Unterdrückung gegenüber den Transfrauen beharren, die diesen Erfahrungen (so die Terfs) nicht oder viel weniger brutal ausgesetzt waren.

3 Erfahrungen und politische Imagination

Wo stehen wir jetzt? Es ging mir zunächst um die Frage, wer zu denen gehört, denen wir Solidarität schulden, mit denen wir solidarische Beziehungen immer schon eingehen oder eingehen wollen; und um die Frage, ob und wie sich dies in gemeinsamen Erfahrungen und auf gemeinsame Erfahrungen gestützte Überzeugungen zeigen lässt. Damit haben wir eine zwar prekäre, aber begrifflich nicht inkonsistente und praktisch nicht unmögliche Grundlage für einen plausiblen Begriff von Frauensolidarität.

Deshalb muss nun in einem letzten Schritt noch die Frage danach gestellt werden, wie sich eine solidarische Gemeinschaft beschreiben und jedenfalls anstreben lässt, also um politische Vorstellungen und Prinzipien, die als einheitsstiftend fungieren können: Denn wenn Erfahrungen, wie wir gerade gesehen haben, nicht einfach inkompatibel sind und die Unterschiedlichkeit nicht mehr als Argument gegen die Möglichkeit von Frauensolidarität verstanden werden kann, dann ergibt sich das Problem, wie man diese Erfahrungen am besten als gemeinsame interpretieren muss. Wie lässt sich mit den heterogenen, pluralen Erfahrungen eine einheitliche Idee konstruieren, die integrativ sein kann für die betroffene Gruppe? Woran kann die Solidarität appellieren?

Ich möchte vorschlagen, diese Frage in zwei Schritten zu beantworten: zum einen, indem ich gewissermaßen die Form einer solchen Idee beschreibe, zum anderen, indem ich ihre substantiellen Prinzipien erläutere. Ein solche vereinheitlichende Idee oder Imagination ist notwendig, das haben wir gesehen, um die Möglichkeit der Verbindung der differenten Erfahrungen motivieren zu können.

Folgt man José Medina, so sind bei der Suche nach verbindlichen Visionen angesichts sehr heterogener Gruppen und angesichts einer auch durchaus normativ erwünschten Diversität solche Ideen wesentlich, die sowohl dem Pluralismus der Erfahrungen entgegenkommen wie auch dem Bedürfnis und der Notwendigkeit von zukunftsweisenden Imaginationen. [24] Es sind zwei Aspekte, die dabei wichtig sind. Der eine ist die Beschreibung der Imagination selbst: Imaginationen haben sowohl affektive wie kognitive Aspekte, sind also Bilder oder Vorstellungen, die unsere Gefühle ebenso wie unseren Verstand ansprechen.

Medina führt aus, wie genau Imaginationen als konkrete Visionen oder Konstruktionen funktionieren können und wie sie dazu dienen können, Gemeinsamkeiten in und für Gruppen zu entwerfen, die heterogen zusammengesetzt sind und doch vergleichbare politische Zielsetzungen haben oder nach solchen streben.

Der zweite Aspekt unterstützt diesen ersten, er ist der der collective social imagination, der gemeinsamen Vorstellungskraft, die in der Lage ist, Individuen in kollektive Projekte und Ideen zu binden und zu ihnen zu motivieren, ihnen sozusagen zu demonstrieren, dass sie eine geteilte soziale Identität haben. Ein gutes Beispiel aus jüngster Zeit ist die Bewegung des Women’s March, der zum ersten Mal am Tag nach der Inauguration von Donald Trump zum Präsidenten der USA stattfand und seitdem in unregelmäßigen Abständen wiederholt wird. So heisst es auf ihrer website: „What was originally just going to be a one-day march has evolved into a national movement that has inspired women to run for office, trained women in direct action, and made women everywhere acutely aware of their power. […] The mission of Women’s March is to harness the political power of diverse women and their communities to create transformative social change.“ [25]

Mit dieser einheitsstiftenden politischen Vision wurde aus den vereinzelten und einzelnen Frauengruppen, die sich schon gegen Trump gebildet hatten, eine solidarische Bewegung: Es geht um konkrete Imaginationen, um Projekte, die Frauen entwerfen können, um Beziehungen, die sie ändern können, um Lebensweisen, die sie anstreben können. Der Anlass, Trumps Inauguration und die lange Reihe seiner sexistischen und rassistischen Bemerkungen und Verhaltensweisen, führte so zu einer politischen Solidarität, die sich auf die ganz unterschiedlichen Erfahrungen von Frauen und zugleich auf eine diese Erfahrungen übersteigende Vision von sozialer Transformation stützen konnte.

Medina macht deutlich, dass diese Imaginationen eine Notwendigkeit für soziale Verständigung und sozialen Zusammenhalt darstellen; diese shared imaginative conceptions of social identity[26] bilden die Grundlage für die radikale Solidarität, um die es ihm geht. Und es ist entscheidend, dass sie die Unterschiede innerhalb der Gruppe nicht übertünchen oder auswischen wollen, sondern dass sie als solche lebendig bleiben können und dennoch für eine geteilte soziale Identität sorgen. So jedenfalls argumentiert Medina: „The formation of a community of experience and solidarity that can accept and celebrate differences requires the openness to critical engagement with an irreducible plurality of experiential and agential perspectives.“ [27]

Das klingt vielleicht ein bisschen idealistisch und auch ein wenig abstrakt. Aber es ist nicht deswegen schon falsch – schaut man sich etwa die Entstehung nicht nur des Women’s March, sondern auch die der #metoo-Bewegung an, dann sind hier solidarische Bewegungen entstanden, die eine solche Offenheit für ein kritisches Engagement mit der irreduziblen Pluralität von Erfahrungen vereinbaren können.

4 Solidarität und Gerechtigkeit

Im Folgenden will ich noch den letzten Schritt machen, der die Quelle und den Inhalt der politischen Imaginationen betrifft und zeigen soll, welches die Ziele und Grundlagen von Frauensolidarität sind. Ich hatte angefangen mit der voraussetzungsreichen Idee der Frauensolidarität, die sich auf die Analyse gründet, dass wir auch in westlichen liberalen Demokratien noch in patriarchalen Gesellschaften leben. Dass Solidarität ihre Legitimität aus ihren Zielen erhält, darauf hatte ich nur in der Begriffsbestimmung hingewiesen und es noch nicht ausgeführt. Dort hatte ich auch postuliert, dass zur Solidarität die gemeinsamen politischen Ziele gehören – in den verschiedenen Definitionen hatte dies auf unterschiedliche Weise eine Rolle gespielt.

Ich halte es für den Begriff und die Praxis von Solidarität für entscheidend, dass ethisch-politische Ziele geteilt werden, wie allgemein diese auch immer beschrieben werden müssen und auch wenn sie nur als Vision eine Rolle spielen. Diese politischen Ziele treten mit dem Anspruch auf Legitimität auf: Deshalb ist die Verbindung mit Prinzipien der Gerechtigkeit notwendig und deshalb kann man nicht von der Solidarität von Mafia-Mitgliedern untereinander sprechen. Der Rekurs auf Gerechtigkeit ist deshalb notwendig, weil sich die Ziele der Solidarität gegenüber allen, auch den Außenseitern der solidarischen Gruppe, rechtfertigen lassen müssen.

Solidarität und Gerechtigkeit gehören also zusammen: auch so, dass Solidarität gegebenenfalls erst für Gerechtigkeit sorgen muss, wie das gerade bei der Frauensolidarität und dem Streit für gleiche Freiheiten der Fall ist. Und weiterhin verkörpern die Prinzipien der Gerechtigkeit universale und universalisierbare Prinzipien, während Solidarität immer partikulare Entstehungskontexte hat.

Dies will ich im Folgenden noch kurz erläutern: Wie ist das Verhältnis von Solidarität und Gerechtigkeit zu denken? Dies lässt sich genauer mithilfe einer Überlegung von Jürgen Habermas klären. Habermas, das haben wir oben schon kurz gesehen, unterscheidet zunächst zwischen Gerechtigkeit und Solidarität und beschreibt Solidarität als die Kehrseite der Gerechtigkeit oder auch das Andere der Gerechtigkeit. [28] Der Gerechtigkeitsaspekt betrifft die Idee gleicher individueller Rechte und den individuellen Anspruch auf Würde, während die intersubjektiven Beziehungen der Anerkennung, durch die sich Individuen als Angehörige einer Gemeinschaft verstehen und „erhalten“, den der Solidarität betreffen.

Gerechtigkeit bezieht sich auf die gleichen Freiheiten unvertretbarer Individuen, während sich Solidarität auf das Wohl der in einer intersubjektiv geteilten Lebensform verschwisterten Genossen bezieht – und damit auch auf die Erhaltung der Integrität dieser Lebensform selbst. [29]

Habermas verweist folglich darauf, dass in unserem Leben ‚mehr‘ wichtig ist als nur das Herrschen dürrer Prinzipien der Gerechtigkeit und zugleich darauf, dass die affektiven Beziehungen eine andere Dimension der Beziehungen der Menschen zueinander betreffen. [30]

Der Unterschied zwischen beiden liege darin, dass der Gerechtigkeitsaspekt die Idee gleicher individueller Rechte und den individuellen Anspruch auf Würde zum Ausdruck bringe, während es bei intersubjektiven Beziehungen der Anerkennung, durch die sich Individuen als Angehörige einer Gemeinschaft erhalten, um den der Solidarität gehe. Solidarität ist hier für Habermas ein ethischer Begriff, der die sittlichen Beziehungen zwischen den Subjekten der Gesellschaft zum Ausdruck bringt und der gegenüber der Moral der Gerechtigkeit steht.

Allerdings korrigiert sich Habermas in einer Rede auf dem Weltkongress der Philosophie in Athen 2014, und zwar vor allem deshalb, weil er meint, den Solidaritätsbegriff fälschlich entpolitisiert zu haben:

In earlier publications, I connected moral justice too closely with solidarity/ ethical life. […] I no longer uphold the assertion that „Justice conceived deontologically requires solidarity as its reverse side“ […,] because it leads to a moralization and de-politicization of the concept of solidarity. [31]

„Solidarity is always political solidarity“, so schreibt er jetzt, wenn sie auch mit dem Gefühl der Zugehörigkeit verbunden sei. Habermas meint nun, die ethischen Formen von Sittlichkeit von der politischen Solidarität trennen zu müssen, weil er meint, sich nur so gegen den aufkommenden – oder schon allgegenwärtigen – Nationalismus wenden zu können:

Nationalism obscures this difference between civic ‚solidarity‘ and pre-political ‚Sittlichkeit‘. Nationalism appeals without any justification to the concept of solidarity when it champions ‚national solidarity‘ and thereby assimilates the solidarity of citizens to the cohesion among those who are born into the same collectivity. [32]

Eine ethische Solidarität, die sich aus dem Zusammenhalt der Nation ergibt, lehnt Habermas nun ab.

Doch dies beruht, so will ich zeigen, auf einem Selbstmissverständnis: denn, um ein Beispiel zu nennen, schon die Solidarität mit Familienmitgliedern, obwohl ethisch, ist politisch, da auch die Familie nicht als ‚unpolitisch‘ begriffen werden kann. [33] Ich will im Folgenden noch kurz auf zwei Probleme eingehen, um dieses Verhältnis zwischen Solidarität und Gerechtigkeit weiter – mit Habermas gegen Habermas – zu verdeutlichen. Zum ersten sind die Entstehungskontexte von Solidarität immer partikularistisch: So argumentiert Honneth gegen Habermas’ Argument, Solidarität sei deshalb die Kehrseite der Gerechtigkeit, „weil in ihr sich alle Subjekte wechselseitig um das Wohl des jeweils anderen bemühen, mit dem sie zugleich als gleichberechtigte Wesen die kommunikative Lebensform des Menschen teilen“. [34] Honneth argumentiert meines Erachtens zu Recht, dass Habermas hier nicht auf „die besonderen Motive oder Erfahrungen, die zu ihrer Herausbildung überhaupt erst führen können sollen“ eingehe und eingehen könne. Solidarität ist jedoch „nicht ohne jenes Element des Partikularismus zu denken, das noch jeder Entstehung einer sozialen Gemeinschaft anhaftet“; nur hier können sich die Gefühle der „Verschwisterung“ herausbilden. [35]

Zweitens ist es ein Missverständnis, Formen von Solidarität nur auf bestehende ethische Kontexte von Sittlichkeit zu beziehen. So entsteht die Idee, Solidarität begleite immer schon die Gerechtigkeit – doch Solidarität bildet sich vor allem in solchen Gruppen, die durch den Mangel an Gerechtigkeit charakterisiert sind: unterdrückte oder benachteiligte Gruppen, wie Afro-Amerikaner oder Frauen. [36] Auf Solidarität sind Subjekte nämlich gerade dann angewiesen, wenn Prinzipien der Gerechtigkeit noch gar nicht gelten, noch gar nicht umgesetzt sind: Solidarität ist dann eine Quelle – eine Handlungsressource – zur Mobilisierung für den Einsatz für Gerechtigkeit. So schreibt Pierce:

[B]lack political solidarity is less a case of a politicization of a pre-existing ‚ethical‘ form of life than it is the ‚ethicization‘ (or perhaps, to use a more elegant term, ‚enculturation‘) of a pre-existing political reality – the reality of group oppression. This is precisely the same dynamic that is at play in feminism, in which solidarity among women comes about as a result of the political reality of women’s oppression. [37]

Mit Pierce kann man hier folglich argumentieren, dass es gerade die politischen Kontexte und Erfahrungen sind, die zur Solidarität unter Frauen führen können, ohne dass es hiervor schon eine vorausgesetzte kulturelle, ethische Gemeinschaft (aller Frauen) geben müsste.

Dann ist die Funktion von Solidarität jedoch nicht, Gerechtigkeitsprinzipien oder -strukturen immer schon zu begleiten, sondern gerade dafür zu sorgen, diese Strukturen zu finden, zu realisieren, zu erweitern, neu zu interpretieren und Rechte zu fordern und durchzusetzen. Unter den Bedingungen patriarchaler Gesellschaften bedeutet dies, dass die politischen Imaginationen, von denen ich oben gesagt hatte, sie seien die ‚Form‘ der substantiellen Prinzipien, als Prinzipien der Gerechtigkeit konkretisiert werden müssen. Der Streit, den Medina beschreibt und der um die und in den politischen Imaginationen stattfindet, ist genau dieser Streit um die richtige Interpretation, die Bedeutung, dieser Prinzipien von Gerechtigkeit, wie das der gleichen Freiheiten. Was bedeuten ‚gleiche Rechte‘, was bedeuten die ‚dürren Prinzipien‘ der Gerechtigkeit in einer durch patriarchale soziale und kulturelle Strukturen geprägten Gesellschaft? Die #metoo-Bewegung und der Women’s March zeigen, wie und wo solch ein Streit geführt werden muss.

5 Zwei Bemerkungen zum Schluss

Ich möchte zum Abschluss dieser Überlegungen zunächst noch ein kurzes Beispiel für Situationen nennen, in denen deutlich wird, dass konkrete Rechte auch deshalb notwendig sind, weil sie solidarische Beziehungen entlasten können. Eine Situation, in der die Solidarität mit und unter Frauen als besonders schwierig gesehen werden kann, zeigt sich im Rahmen von Verfahren zur Besetzung akademischer Stellen: Selbst wenn bei allen Mitgliedern in den entsprechenden Kommissionen ein Konsens darüber bestehen kann, dass aus Gründen der Gerechtigkeit eine Frau angestellt werden muss, ist der solidarische Einsatz für die jeweilige Frau gegebenenfalls (auch bei Frauen) eher halbherzig, weil man – zu Recht oder Unrecht – der Meinung ist, ein bestimmter Mann sei eventuell besser. Ein solches entlastendes Recht sind in diesem Fall Quoten: Quoten nämlich entlasten uns davon, in diesen Fällen an Solidarität appellieren zu müssen, auch an unsere eigene als Frauen, und Solidarität als Handlungsressource zu aktivieren. Stattdessen könnte man sich dann auf Prinzipien der Gerechtigkeit verlassen und auf sie berufen. Denn Quoten sind ein Instrument zur Herstellung von mehr Gerechtigkeit und sie sind notwendig, weil Gerechtigkeit für Frauen notwendig ist – und weil Solidarität in komplexen Situationen (wenn sie überhaupt möglich ist) als Handlungsressource nicht ausreicht. [38]

Eingangs hatte ich angekündigt, dass ich konsistente Argumente für die Möglichkeit und Notwendigkeit von Frauensolidarität vorstellen würde und ich denke, dass dies gelungen ist. Aber ich will doch mit einer irritierenden Bemerkung enden: denn die Tatsache, dass wir in modernen Gesellschaften immer schon in unterschiedlichen, einander überlappenden Kontexten, Rollen, Identitäten leben, kann dazu führen, dass man sich ganz unterschiedlichen Gruppen zugehörig fühlen und sich als mit ihnen solidarisch verstehen kann, darauf hatte ich oben schon verwiesen. Umso wichtiger ist die Frage, ob ein solcher Begriff von Frauensolidarität das leisten kann, was wir – in diesem Fall: wir Frauen – von ihm erwarten. [39]

Ganz unabhängig von der Frage, wie lose ich die der Frauensolidarität zugrundeliegende Identität bestimmt habe, sind skeptische Fragen nicht unberechtigt. Sie führen gegebenenfalls dazu, die Last der Argumentation zu verschieben: Die Last der Argumentation liegt nämlich auf der Bestimmung der Gruppe, die Solidarität verdient. Dann wäre dies nicht ausschließlich die Gruppe der Frauen, sondern auch die der auf andere Weise strukturell Benachteiligten. Die Solidarität, der man sich verpflichtet fühlen sollte, ist nämlich schwierig zu bestimmen, wenn man in komplexen Identitäten lebt, die gegebenenfalls unterschiedlichen und unterschiedlich benachteiligten oder unterdrückten Gruppen zuzurechnen sind; die in der feministischen Theorie identifizierte und diskutierte Intersektionalität gilt auch für die Bestimmung der (Frauen-)Solidarität. Einen – moralischen, politischen – Fehler macht man (machen Frauen) jedoch dann, wenn diese Intersektionalität gegen Frauen verwendet wird: dann, wenn man die Strukturen des Patriarchats als weniger wichtig, weniger dringlich begreift als andere Strukturen von Benachteiligung und Unterdrückung.

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Published Online: 2020-11-14
Published in Print: 2020-11-03

© 2020 Rössler, published by De Gruyter

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