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Angehörige als „natürliche“ Stellvertreter

Eine empirische Untersuchung zur Präferenz von Personen als Bevollmächtigte für die Gesundheitssorge bei Patienten, Gesunden und medizinischem Personal

Relatives as standard surrogate decision-makers for incompetent patients

An empirical study about preferences for persons as proxies amongst cancer patients, healthy controls, nursing staff and physicians

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Ethik in der Medizin Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Im Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Betreuungsrechts ist eine regelhafte Stellvertretung durch Angehörige für zur Entscheidung unfähige Patienten vorgesehen. Mithilfe eines strukturierten Fragebogens wurden die Einstellungen von Tumorpatienten, gesunden Kontrollpersonen, Pflegenden und Ärzten (jede Gruppe n=100) zur Präferenz der zu bevollmächtigenden Personen ermittelt. Nur 10–20% der Befragten haben eine Patientenverfügung verfasst. Als Entscheidungbefugte im Falle akuter Erkrankung werden Angehörige und Ärzte gemeinsam genannt (71%, 76%, 61%, 84% in den jeweiligen Gruppen). Als Gesundheitsbevollmächtigte werden Ehepartner/Lebenspartner (78%, 82%, 80%, 89%) bevorzugt und nichtangehörige Personen nur von einer Minderheit (0–12%) genannt. Die grundsätzliche Bereitschaft, als Gesundheitsbevollmächtigte Verantwortung zu übernehmen, ist hoch, erstreckt sich jedoch überwiegend auf Angehörige. Nur Ärzte sind in bis zu 50% auch für nichtangehörige Personen bereit, als Bevollmächtigte zu entscheiden. Die regelhafte Stellvertretung in Gesundheitsfragen durch Angehörige entspricht den Wünschen der Mehrheit von Tumorpatienten, gesunden Vergleichspersonen und medizinischem Personal.

Abstract

Definition of the problem: In a bill presented to the German parliament to amend guardianship law, relatives should be considered as standard proxies for incompetent patients.

Method and results: Using a questionnaire we carried out a survey to find out which persons are preferred as proxies for decision-making amongst cancer patients, healthy controls, nursing staff and physicians (n=100 for each group). Only 10–20% of the interviewees fulfilled an advance directive. As persons for surrogate decision-making, relatives together with physicians were preferred (71%, 76%, 61%, 84%, for each group respectively), partners were clearly favoured (78%, 82%, 80%, 89%) and non-related persons were nominated only by a minority (0–12%). There was an overwhelming willingness to act as proxy for others but this was limited to relatives, with the exception of physicians who were prepared to decide for non-relatives in about 50%.

Conclusion: To consider relatives as standard surrogate decision-makers for patients who cannot decide for themselves is in line with the preferences of the majority of cancer patients, healthy controls, nursing staff and physicians.

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Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3
Abb. 4
Abb. 5

Notes

  1. Die Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin und auch eine Arbeitsgruppe des Bundesjustizministerin haben mittlerweile—bei aller Unterschiedlichkeit bei der Einschätzung der Reichweite—die Notwendigkeit gesehen, gesetzgebend die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen zu regeln (s. http://www.bmj.bund.de und http://www.bundestag.de/parlament/kommissionen/ethik_med/berichte_stellg/04_09_13_zwischenbericht_patientenverfuegungen.pdfdeutscher-bundestag.de).

  2. Dem Vormundschaftsgerichtsstag geht es in seinen alternativen Vorschlägen darüber hinaus darum, den Vertreter durch Gesetz explizit an den Willen des Patienten zu binden.

  3. Ein verheirateter Mann von 65 Jahren muss sich einer Operation unterziehen. Als Folge der Narkose ist er—zumindest vorübergehend—zeitlich, örtlich und inhaltlich nicht orientiert. Als der Mann aus dem Krankenhaus entlassen wird, sind verschiedene Entscheidungen für ihn zu treffen: Sozialleistungen sind zu beantragen und entgegenzunehmen, die weitere medizinische Behandlung ist abzuklären, eine ambulante Pflege ist zu organisieren, ggf. ist ein Heimplatz zu suchen, und zur Deckung der laufenden Kosten muss auf das Girokonto des Mannes zugegriffen werden können. Als die Ehefrau versucht, die entsprechenden Maßnahmen einzuleiten, erfährt sie, dass sie dafür als Betreuerin ihres Mannes bestellt werden muss. Sie regt deshalb an einem zuständigen Vormundschaftsgericht ihre Bestellung als Betreuerin an. Das Vormundschaftsgericht ordnet daraufhin die psychiatrische Begutachtung des Mannes an, bestellt für ihn einen Verfahrenspfleger, bittet die Betreuungsbehörde um einen Sozialbericht und verschafft sich selbst von den Eheleuten im Wege einer persönlichen Anhörung einen Eindruck. Gutachter, Verfahrenspfleger, Mitarbeiter der Betreuungsbehörde und das Gericht suchen deshalb das Ehepaar in ihrer Wohnung auf, um die Angelegenheit zu besprechen. Am Ende wird—entsprechend ihrer Anregung—die Ehefrau zur Betreuerin des Mannes bestellt (s. § 1897 Abs. 5 BGB). Dieses Verfahren ist mit erheblichen Belastungen für den Betroffenen und seine Ehegatten verbunden, die das Geschehen oft nur mit Angst und Unverständnis verfolgen („Ich habe doch noch nie etwas mit dem Gericht zu tun gehabt!“...); vgl. Bundesratsdrucksache [4].

  4. Der Entwurf des Textes für § 1358a lautet: „1) Unter den Voraussetzungen des § 1358 Abs. 1 kann ein Ehegatte für den verhinderten Ehegatten Erklärungen abgeben, die auf die Vornahme einer Untersuchung des Gesundheitszustandes, einer Heilbehandlung oder eines ärztlichen Eingriffs gerichtet sind. § 1904 Abs. 1 gilt entsprechend. 2) Der andere Ehegatte gilt als erklärungsbefugt, wenn er dem Arzt schriftlich erklärt, 1. mit dem verhinderten Ehegatten verheiratet zu sein, 2. nicht getrennt zu leben, 3. dass ihm das Vorliegen einer Vollmacht oder Betreuung nicht bekannt ist, 4. dass ihm ein entgegenstehender Wille des Ehegatten nicht bekannt ist. Das gilt nicht, wenn der Arzt das Fehlen der Voraussetzungen nach Absatzes 1 kennt oder kennen muß“ [4].

  5. Der Entwurf des Textes für § 1358a lautet: „§ 1358a Abs. 1 gilt im Verhältnis von Eltern und ihren volljährigen Kindern entsprechend, es sei denn, es sei ein erklärungsbefugter Ehegatte oder Lebenspartner vorhanden. Kinder sind vor Eltern erklärungsbefugt. Bei mehreren gleichrangigen Angehörigen genügt die Erklärung eines von ihnen; es ist jedoch der Widerspruch eines jeden von ihnen beachtlich. Ist ein vorrangiger Angehöriger innerhalb angemessener Zeit nicht erreichbar, genügt die Erklärung des nächst erreichbaren nachrangigen Angehörigen“ [4].

  6. Für etwa 1 Mio. Menschen in Deutschland ist eine Betreuung bestellt, die Kosten für den „Betreuungsmarkt“ sind um vierstellige Prozentzahlen in den letzten Jahren angewachsen; vgl. Bundesratsdrucksache [4] und Deinert [6]. Die Vorschläge von Ackermann et al. decken sich z. T. mit den im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen zur Kostenersparnis [1].

  7. In einer Pressemitteilung der Deutschen Hospizstiftung heißt es, dass etwa „7 Mio. Menschen in Deutschland eine Patientenverfügung verfasst“ haben (Deutsche Hospizstiftung, Pressemiteilung vom 10.04.2003). Angesichts der hier erhobenen Befunde scheint diese Angabe zu hoch.

  8. In der Begründung des Entwurfs wird zu Recht darauf hingewiesen, dass Krankheit und Tod einem „Verdrängungsprozess“ unterliegen. Bundesratsdrucksache (Fn. 1).

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Der korrespondierende Autor weist auf eine Verbindung mit folgender Firma/Firmen hin: In dieser Arbeit sind Teilaspekte der Dissertation von Frau Regina Will enthalten.

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In dieser Arbeit sind Teilaspekte der Dissertation von Frau Regina Will enthalten.

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Sahm, S., Will, R. Angehörige als „natürliche“ Stellvertreter. Ethik Med 17, 7–20 (2005). https://doi.org/10.1007/s00481-004-0351-9

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