Die Selbstverständlichkeit, mit der Gegenwartsliteratur seit einigen Jahren auch in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft flächendeckend behandelt wird, in Aufsätzen und Monographien, im Rahmen von Forschungsverbünden und Qualifikationsschriften wie über die Denomination von Professuren, lässt nicht nur die langfristig aufgebauten Abwehrmaßnahmen der Germanistik etwas verblassen, sie blendet gelegentlich auch aus, was Gegenwartsliteratur tatsächlich als Herausforderung erscheinen lassen kann – ihr Irritationspotenzial für die Literaturwissenschaft, für gängige Auffassungen von Literatur und für das, was als Gegenwart begriffen wird.

Die seit dem 19. Jahrhundert vielfach wiederholten Warnungen angesichts der fehlenden historischen oder sachlichen Distanz sind hinsichtlich hermeneutischer und literatur-, ideen- bzw. geistesgeschichtlicher Ansätze nachvollziehbar,Footnote 1 relativieren sich aber durchaus, wenn man berücksichtigt, dass die Sicherheit, die der historische Abstand verspricht, häufig ebenso fragwürdig ist wie der Rekurs auf vermeintlich verbindliche literaturgeschichtliche Ordnungssysteme. Allerdings sind diese Perspektiven in der Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur gar nicht immer weit entfernt, zumindest dann nicht, wenn sie darauf zielt, Genre‑, Stil- oder Epochenbegriffe zu prägen, durch den möglicherweise ersten maßgeblichen Beitrag an der Kanonisierung mitzuwirken oder, so Hanna Engelmeier über den gelegentlich beobachtbaren Umgang mit Digitaler Literatur, »heute schon die Texte zu finden, die morgen einer dann klassisch gewordenen Avantgarde zugeschrieben werden können«.Footnote 2

So nachvollziehbar diese Anliegen sein mögen, für Überlegungen zur Relation von Literatur und Literaturwissenschaft erscheint letztlich doch das interessanter, was Gegenwartsliteratur im besten Fall zugleich ermöglicht wie einfordert: ein literaturwissenschaftliches Arbeiten, das ohne Epochenbegriffe auskommt, sich weder in literaturhistorischen Verortungsversuchen noch in der meist etwas angestrengten Fahndung nach Innovation erschöpft,Footnote 3 und zudem nicht immer schon voraussetzt zu wissen, was Literatur ist (oder sein sollte). Man benötigt dafür kein gesondertes Teilfach einer Gegenwartsliteraturwissenschaft und auch keine übermäßige Emphase für ein Agieren auf der vermeintlichen Höhe der Zeit. Es ist schon viel gewonnen, wenn einerseits vorhandene literaturwissenschaftliche Ansätze und Konzepte genutzt werden, um Gegenwartsliteratur nach Möglichkeit kenntnisreich zu analysieren, diese andererseits aber nicht allein als Untersuchungsgegenstand, sondern auch als Impulsgeber und Korrektiv für die Literaturwissenschaft fungieren kann.

Auch wenn es sich nicht um einen Automatismus handelt, hat sich immer wieder gezeigt, dass Verschiebungen, Neuentwicklungen oder auch nur Irritationen im Feld der Gegenwartsliteratur produktiv für die kritische Weiterentwicklung (oder Wiederentdeckung) literaturwissenschaftlicher Ansätze sein können – die Rolle des Nouveau Roman für die (post-)strukturalistische Theoriearbeit um die Zeitschrift Tel Quel und die Impulse, die Thomas Pynchons Romane für die literatur- und medientheoretische Arbeit Friedrich Kittlers ausgesendet haben, wären hier ebenso zu nennen wie die derzeit interferierenden Konjunkturen der Ausdifferenzierung des Genres der Autosoziobiographie und der Revitalisierung sozialgeschichtlicher Ansätze in der Literaturwissenschaft. Wie in weiteren Konstellationen wird auch hier jene »parallel emergence of the field of contemporary literature and the canon of self-reflexive critical theory« sichtbar, die Theodore Martin in seinem Buch Contemporary Drift als »paradox at the heart of contemporary life« identifiziert hat: »we have become more concerned with defining our current moment and more convinced of the difficulty of doing so«.Footnote 4

Ein Schauplatz, auf dem derartige Wechselwirkungen seit einigen Jahren zu beobachten sind, nicht zuletzt im Blick auf die Problematik des Erfassens und Reflektierens von »current moment«, Gegenwart und Gegenwärtigkeit, ist das nicht mehr leicht zu überblickende Feld von Texten und Schreibweisen, die in der Auseinandersetzung mit digitalen Medien entstehen. Dass sich die Aufbruchsstimmung, die Ende der 1990er Jahre die Debatten um Netzliteratur und Literatur im Netz bestimmt hat, weitgehend gelegt hat und heute nur noch über wenige der Texte, die damals im Zentrum der Diskussion standen, weiterhin gesprochen wird, besagt nicht, dass man sich die Aufregung hätte sparen können. Neben weit ausgreifenden Verkündigungen eines neuen Zeitalters und ebenso zahlreichen Ausrufungen eines Endes nicht nur der Netzliteratur sind in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Hypertexten, Netzprojekten und Blogs relevante Beiträge zur Autorschaftsdebatte, zur Relation von Fiktionalität und Faktualität, zu autobiographischem und autofiktionalem Schreiben, zur Poetizität und zur Medialität von Literatur wie zu Fragen der Zeitwahrnehmung und Zeitdarstellung entstanden, wobei einige dieser weiterhin virulenten Diskussionen erst durch diese Einlassungen angestoßen worden sind.

Die in den letzten Jahren kontrovers diskutierten literarischen Experimente mit KI-Sprachmodellen haben vor Augen geführt, dass die seit Jahren immer wieder neu aufgelegte »Furcht vorm Digitalen« im Kontext von Literatur und Literaturwissenschaft ebenso wenig verschwunden ist wie die komplementäre Vorstellung des Digitalen als »große[s] Versprechen«.Footnote 5 Gegenüber den apokalyptischen oder adventistischen Visionen und der Revolutionsrhetorik der späten 1990er Jahre hat sich der Diskurs nach der Etablierung und Konsolidierung von weltweiter Vernetzung, Web 2.0 und mobilem Internet – und in diesem Sinn: nach der Digitalisierung – durchaus versachlicht, das mittlerweile ausdifferenzierte Forschungsfeld bleibt aber weiterhin gleichermaßen von Innovationsversprechen wie skeptischen Interventionen geprägt. So findet sich neben der regelmäßig neu aufgelegten Frage, ob die unter dem Sammelbegriff Digitale Literatur zusammengefügten Texte neue Analysemethoden erforderlich machen,Footnote 6 mittlerweile gelegentlich auch der Hinweis, dass sie fast zu passgenau eingerichtete Gegenstände für deren Erprobung darstellen – und in diesem Sinn wie eine »Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Gegenwartsliteraturwissenschaft« wirken können.Footnote 7 Gerade in der Engführung von wissenschaftlichen Methoden und literarischen Verfahren werden aber immer wieder bemerkenswerte »Experimente mit offenem Ausgang« entworfen,Footnote 8 die die Erschließung algorithmen- oder netzbasierter Formen und Formate für die literaturwissenschaftliche Arbeit und das Selbstverständnis der Literaturwissenschaft aufschlussreich erscheinen lassen.

Es ist noch nicht absehbar, ob sich aus den Schreibweisen und Texten, die aus der Auseinandersetzung mit Sozialen Medien hervorgehen, längerfristig relevante Konsequenzen für Literatur und Literaturwissenschaft ergeben. Das Irritationspotenzial dafür ist aber durchaus vorhanden und zeigt sich, wie Berit Glanz in einem Beitrag zur Hervorbringung neuer literarischer Schreibweisen auf Reddit und Twitter anmerkt, nicht zuletzt in Formen des Schreibens, die sich »flexibel zwischen verschiedenen medialen Ausdrucksformen, unterschiedlichen Varianten der Textproduktion und transnationalen Kontexten« bewegen: »Um die erstaunliche Dynamik der Plattformliteratur zu fassen, muss auch die kritische Auseinandersetzung damit Dynamik beweisen.«Footnote 9 Unabhängig davon, ob Soziale Medien Publikationsort, Distributionskanal, Strukturelement oder auch nur Thema literarischer Texte sind, ist unübersehbar, dass sie die Art und Weise verändern, wie ein Text gemacht wird, wie und was erzählt wird – und wie Gegenwart wahrgenommen, reflektiert und konzeptualisiert wird. Deutlich wird dies zunächst in jenem Aneinanderrücken von Lesen, Schreiben und Publizieren, das im Sinne von Christiane Frohmanns Begriff des ›Instantanen Schreibens‹ das Netz und hier vor allem die Timelines sozialer Netzwerke als »Raum für ständig zu aktualisierende Statusmeldungen« nutzt.Footnote 10 Hier setzt die Vorstellung einer »Momentliteratur« an, eines Schreibens, so Holger Schulze, das »nicht aus den Momenten und Materialien der Gegenwart entfliehen, sondern diese markieren, konturieren und archivieren will«,Footnote 11 das im Sinn einer »Instagrammatologie […] einen Strom, einen Flow, einen Groove braucht«,Footnote 12 und bei dem sich, wie Stephan Porombka schon zehn Jahre zuvor im Blick auf das Schreiben in Facebook anmerkt, »durch das Posten etwas Neues ergibt: ein Gegenwartseffekt, die Jetztzeit, ein Flow«.Footnote 13 Und an dieser Faszination für Flüchtigkeit und Vergänglichkeit, für den Modus einer »fortlaufenden Bewegung«,Footnote 14 setzt auch, das stellen nicht nur die skizzierten Ansätze vor Augen, jene »Konnotation des sozialen Netzwerks mit Lebendigkeit, Unmittelbarkeit, Gegenwärtigkeit und Aktualität« an, die, wie Elias Kreuzmair angemerkt hat, gegen eine »vermeintlich tote, vermittelte, vergangenheitsbehaftete – gedruckte – Literatur in Stellung« gebracht wirdFootnote 15 und sich dabei häufig in letztlich redundanten vitalistischen Gesten ein wenig verliert.

In dem Maß jedoch, in dem die Dichotomien online/offline und digital/analog, die für einige Zeit die Diskussionen geprägt haben, im Zuge der Konsolidierung digitaler Medien an Relevanz verlierenFootnote 16 und die Gegenwartsfixierung in einer »Kultur der Digitalität« als »permanente Gegenwart« auf Dauer gestellt zu sein scheint,Footnote 17 wird zunehmend auch der Blick für das Mit‑, Gegen- und Nebeneinander unterschiedlicher Medien, Formen, Erzählweisen und Zeitverhältnisse geschärft. So wird deutlicher erkennbar, dass das ›instantane Schreiben‹ nicht nur einen Gegenentwurf zu jener »Langsamkeit« darstellt, die Rainald Goetz, dem ›Instantanen‹ gegenüber nicht prinzipiell abgeneigt, als »eine der besten Qualitäten von Literatur überhaupt« hervorhebt.Footnote 18 Es zeigt sich vielmehr, dass nicht nur Goetz die »Freude am Irrsinn der Gegenwart«, der durch permanent neu eintreffende Statusmeldungen mehr als nur in Gang gehalten wird, durchaus mit einer Faszination für »Dauer« zu verknüpfen weiß, für Distanz, für »Asynchronizität als Zusatzmodus einer gesteigerten Gegenwartsbetrachtung«.Footnote 19

Erkennbar werden derartige Konstellationen, wenn man den Blick nicht allein auf einen Bereich begrenzt, etwa die Textproduktion im Rahmen von digitalen Netzwerken und Plattformen, sondern zugleich vermeintlich konventionellere Formen von Gegenwartsliteratur wie auch weitere Texte und Diskurse berücksichtigt, wenn man fragt, inwiefern verschiedene Schreibweisen aufeinander reagieren, in verschiedenen medialen Konstellationen neben- oder miteinander agieren und dabei von verschiedenen Seiten die Grenzen zwischen Fiktionalität und Faktualität, Literatur und Theorie oder auch Geschichtsbewusstsein und Gegenwartsfixierung bearbeiten und nicht selten zugleich verunsichern. Wenn man in dieser Hinsicht Experimente mit der Form des Romans, die Persistenz überkommener realistischer Verfahren oder die Entwicklung immer neuer Versionen von Autofiktion, aber auch Instapoetry, Tweets und die Textproduktion auf Selfpublishing-Plattformen untersucht und die verschiedenen Medien und Formen aufeinander bezieht, muss man das Kriterium der ästhetischen Komplexität nicht verabschieden. Es kann aber hilfreich sein, es nicht immer schon als erstrebenswerten Wert vorauszusetzen. Und auch wenn man auf bewährte Konzepte von Ästhetik als »Modell für ein Denken in und von Formen« rekurriert,Footnote 20 kann man zugleich weitere Qualitäten von Literatur sichtbar machen, etwa solche, die in der Auseinandersetzung mit digitalen Medien und den durch sie hervorgebrachten Formen von Zeit- und Gegenwartsreflexion emergieren.

Neben diversen anderen Eigenheiten fällt auf, dass sich viele Romane, die in den letzten Jahren Digitalisierung, Netzkommunikation und Soziale Medien nicht nur thematisieren, sondern zugleich in ihren Schreibverfahren reflektieren, auf signifikante Weise mit Veränderungen der Zeitwahrnehmung auseinandersetzen und dabei wiederholt die Frage aufwerfen, was eigentlich Gegenwart heißt, wie man im literarischen Text Gegenwart thematisieren, repräsentieren oder produzieren kann. Wenn die Figur Judith in Lisa Krusches Prosatext »Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere« mit Blick auf eine Ziege in einem Computerspiel realisiert, was es bedeutet, »in die Gegenwart einzubrechen«,Footnote 21 wenn Joshua Groß in FLAUSCHkontraste, einem Text, der E‑Mail-Auszüge, Tweets und andere Formen netzbasierter Kommunikation literarisch verknüpft, fragt, wie man aus der »immerwährenden Gegenwart ausbrechen kann«,Footnote 22 oder wenn Marla, die Protagonistin von Julia Zanges Roman Realitätsgewitter, in ihrer Fokussierung auf Soziale Medien das »Gefühl« hat, sie bestehe »nur aus Gegenwart« und der Text sich über eine Akkumulation von Smartphone-induzierten ›jetzt‹-Markierungen konstituiert,Footnote 23 wird dies ebenso deutlich wie in Leif Randts Roman Allegro Pastell, wenn die Figur Jerome, von der es heißt, sie sei »bislang nie ein Fan purer Gegenwart gewesen«, in der »totalen Gegenwart« anzukommen glaubt, die Gegenwartsfixierung im Text allerdings nicht nur durch Instagram- und Telegram-Messages evoziert, sondern durch eine auf Dauer gestellte »allgemeine Traurigkeit über das Verstreichen der Zeit« und den Modus »vorauseilender Wehmut« zugleich reflexiv gebrochen wird.Footnote 24 So wird die Wahrnehmung von Gegenwart, wie Elias Kreuzmair gezeigt hat, »über den vorgestellten Rückblick aus der Zukunft« immer schon in komplexe »Rückkopplungsschleifen« verwickelt.Footnote 25

In derartigen Reflexionen zur Zeit- und Gegenwartswahrnehmung könnte ein möglicher Grund dafür liegen, dass Verlage wie Literaturkritik seit einigen Jahren kaum eine Möglichkeit auslassen, die Stichworte »Gegenwart« und »Gegenwärtigkeit« in Klappentexten, Verlagsprospekten, Jurydiskussionen und Rezensionen unterzubringen.Footnote 26 Vor allem aber wird deutlich, in welchem Maß sich die Auseinandersetzung mit Sozialen Medien auf Themenwahl, Figurenkonstruktion, Erzählweise und Darstellungsverfahren der literarischen Texte auswirkt. So entfalten sie nicht nur ein beträchtliches zeitdiagnostisches Potenzial, sie entwickeln zugleich komplexe Formen der Zeitreflexion, problematisieren die durch digitale Medien und weltweite Vernetzung veränderte Zeitwahrnehmung und betreiben auf diese Weise auch und gerade auf der Ebene der literarischen Verfahren Arbeit am Begriff der Gegenwart, die immer wieder auf Vorstellungen eines ›Instantanen Schreibens‹ rekurriert, aber nicht darauf beschränkt bleibt und sie nicht selten konterkariert.

Bemerkenswert ist das nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zeitgleich erscheinenden zeitdiagnostischen Reflexionen im weiteren Umfeld der Kultur- und Medienwissenschaften, die über Schlagworte wie »breite Gegenwart«, »present shock«, »enduring ephemeral« oder »endlose Gegenwart« Veränderungen in der Auffassung von Zeit konstatieren, diese Verschiebungen kausal mit dem Phänomen der Digitalisierung in Verbindung bringen und dabei Gegenwart als dominante Zeitform und dominantes ›Thema‹ ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.Footnote 27 Angesichts der Vielzahl von anschaulichen Beispielen, an denen die Überlegungen entwickelt werden, fällt auf, dass Gegenwartsliteratur wie insgesamt das Feld literarischen Schreibens hier so gut wie keine Rolle spielen. Das ist prinzipiell misslich, wenn man an Literatur – und eben auch an Gegenwartsliteratur – deren epistemologisches Potenzial schätzt. In diesem Fall ist das Ausblenden aber auch darüber hinaus insofern signifikant, als die Formen der Zeitreflexion, die an den diversen Schnittstellen zwischen Sozialen Medien und Gegenwartsliteratur zu beobachten sind, insbesondere den kulturpessimistischen Varianten der Zeitdiagnostik mehr Widerstände und komplexere Reflexionen entgegensetzen können als es die üblichen pauschalen Verweise auf ›Facebook, Twitter & Co‹ nahelegen.

Als Herausforderung können in dieser Hinsicht nicht nur neuartige Schreibweisen und ungewöhnliche Formexperimente wirken, sondern auch die gleichermaßen beobachtbaren Wiederaufnahmen, Fortsetzungen und Modifikationen eingeführter Rhetoriken und Darstellungsverfahren. Gerade in der Auseinandersetzung mit den Abstrakta ›Zeit‹ und ›Gegenwart‹ überrascht es nicht, dass hier Bilder, Konzepte und narrative Muster reaktiviert werden, die die Zeitreflexion auch schon ›vor‹ der Digitalisierung geprägt haben. So spricht einiges dafür, die skizzierte Fokussierung auf Schreibweisen der Gegenwart als Wiederaufnahme und Fortführung einer längeren Linie literarischer Zeitreflexion zu verbuchen, auf der die Pop-Literatur der 1990er und 1960er Jahre ebenso zu finden ist wie die Plötzlichkeitsästhetik und Gegenwartsemphase des frühen 20. Jahrhunderts.Footnote 28 Was sie verbindet, ist nicht zuletzt das, was Charles Baudelaire in »Le peintre de la vie moderne« Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Formel »représentation du présent« zu fassen versucht hat, die durchaus das benennt, was auch die hier fokussierte Literatur nach der Digitalisierung kennzeichnet: Gegenwartsvergegenwärtigung.Footnote 29 Parallelen ergeben sich in einem gesteigerten Interesse für das Transitorische, Flüchtige und Kontingente, für jene »qualité essentielle de présent«, die Baudelaire in den Sitten, dem bürgerlichen Leben und der Mode ausmacht und über Stichworte wie »mouvement rapide« und »vélocité d’exécution« zugleich auf der Ebene künstlerischer Darstellungsweisen reproduziert, reinszeniert und reflektiert sieht.Footnote 30 Interessant ist dabei weniger die mögliche literaturhistorische Nobilitierung durch den Verweis auf eine Traditionslinie. Bemerkenswert ist vielmehr die Tatsache, dass Baudelaire seine Ansätze für eine neue, noch nicht etablierte Auffassung von Kunst, in diesem Fall fokussiert auf neu gefasste Konzepte von Schönheit und Modernität, in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten und künstlerischen Techniken von Constantin Guys entwickelt, eines zeitgenössischen, seinerzeit weitgehend unbekannten, in der Kunstwelt nur bedingt anerkannten Künstlers. Der Abstand zu den historischen Kontexten, gesellschaftlichen Verhältnissen, Kunstauffassungen, Schreibweisen und medialen Dispositiven, der die Literatur nach der Digitalisierung von Baudelaires Faszination für Formen der »représentation du présent« trennt, ist beträchtlich und müsste in einer vergleichenden Studie genauer vermessen werden. Unabhängig davon erscheint aber Baudelaires Entscheidung, grundsätzliche Überlegungen zur Ästhetik und zum Modus der Gegenwartsvergegenwärtigung am Beispiel zeitgenössischer, noch nicht kanonisierter Kunst im Blick auf neuartige künstlerische Verfahren zu entwickeln, immer noch und immer wieder als ein vielversprechender Ansatz, auch für die Literaturwissenschaft.