Als der Erfinder des Dynamits Alfred Nobel im Jahr 1896 starb, hinterließ er ein Testament, in dem er festlegte, dass das Karolinska Institut in Solna, bedeutendste Medizinische Lehr- und Forschungsstätte Schwedens, jährlich einer Person den „Nobelpreis für Physiologie oder Medizin“ verleihen sollte. Das Testament enthält knappe Instruktionen bezüglich der Auswahl der Preisträger: Die Person ist nur dann preiswürdig, wenn sie „im vergangenen Jahr den größten Nutzen für die Menschheit erbracht hat“ und „ihre Nationalität soll dabei keine Rolle spielen“.Footnote 1 Die Vorgaben Nobels schufen und schaffen bis heute aus mehreren Gründen einen großen Interpretationsspielraum für die Mitglieder des Nobelkomitees, das aus zahlreichen Vorschlägen aus der ganzen Welt einen bis drei Wissenschaftler auszuwählen hat. So wurde der Begriff „Physiologie“ Anfang des vorigen Jahrhunderts wesentlich breiter definiert; er umfasste Bereiche, die heute der Biologie, Biochemie und Biophysik zugeordnet werden. Und schon im ersten Jahr der Vergabe 1901,Footnote 2 wie auch später ausgesprochen häufig, hatte sich das Komitee nicht an die Vorgabe gehalten, dass die preiswürdige Person im Jahr zuvor den größten Nutzen für die Menschheit erbracht haben sollte.

Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen die Nominierungen des Chirurgen Ferdinand Sauerbruch für diese „höchste Auszeichnung, die einem Forscher zuteil werden kann“ (NA Stieve 1951). Sauerbruch wird von uns als Beispiel für das Nominierungsverfahren verwendet, weil er mit insgesamt 65 Nominierungen der deutsche Chirurg ist, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am häufigsten für den Preis vorgeschlagen wurde, ohne ihn allerdings jemals bekommen zu haben. Der schwedische Ideenhistoriker Franz Luttenberger hat einen Kandidaten beschrieben, der noch öfter erfolglos nominierte wurde, und den er deswegen als „highly qualified loser“ bezeichnet: den französischen Bakteriologen Emile Roux (1853–1933) (Luttenberger 1992). Roux wurde 120 Mal für den Nobelpreis nominiert. Unter den Preisträgern nimmt der Brite Charles Scott Sherrington (1857–1952) eine Spitzenposition mit 134 Nominierungen ein (Bartholomew 2010: 32).

Die historische Forschung über einzelne Wissenschaftler im Nobelpreis-Kontext ist seit 1974 tiefergehend möglich. Damals wurde das Archiv der Nobelstiftung in Solna für wissenschaftliche Zwecke geöffnet. Seit einigen Jahren gibt es auch im Internet eine (allerdings unvollständige und fehlerhafte) Auflistung der Nominierungen von Nobelpreiskandidaten.Footnote 3 In den letzten Jahrzehnten wurde diese Forschung zunehmend intensiver betrieben und zu den verschiedensten Aspekten rund um den Preis wurde veröffentlicht.Footnote 4

Studien anhand von Dokumenten des Nobelarchivs für Physiologie oder Medizin können zur Wissenschaftsgeschichte hauptsächlich aus drei Gründen beitragen. Erstens weisen sie auf die teils komplexe Verflechtung von Politik und Medizin hin, zweitens deuten sie an, wann und warum eine bestimmte wissenschaftliche Disziplin auf besonderes Interesse stieß und verweisen damit auf historisch-analytische Fragen, und drittens veranschaulichen sie den internationalen Ruf einzelner Wissenschaftler zum gegebenen Zeitpunkt.

In diesem Aufsatz werden wir Schnittstellen dieser drei Themen beleuchten, indem wir die Diskussionen zu Verleihung des Nobelpreises an einen international bekannten deutschen Mediziner über einen längeren Zeitraum schildern. An seinem Fall werden wir das Nominierungs- und Begutachtungsverfahren darstellen. Zusätzlich zu dem Material aus dem Archiv der Nobelstiftung werden biographische Studien über Ferdinand Sauerbruch herangezogen. Folgende Fragen stehen im Mittelpunkt: Spielte Sauerbruchs deutsche Staatsangehörigkeit und seine Affinität zum Nationalsozialismus eine Rolle in den Nominierungsverfahren? Inwiefern wurde er als tonangebender Repräsentant der deutschen Chirurgie beschrieben? Wie sahen die Beziehungen der Vorschlagenden zu ihm aus? Was waren die ausschlaggebenden Gründe dafür, dass Sauerbruch trotz der weit überdurchschnittlichen Zahl der Nominierungen letztlich doch nicht als preiswürdig angesehen wurde?

Es ist nicht das erste Mal, dass Forscher, die den Preis nicht erhalten haben, in diesem Kontext thematisiert werden (vgl. beispielsweise Bartholomew 1998 und 2002). Dies erfolgte bisher jedoch immer nur am Rande – der Fokus lag auf den Preisträgern und auf politischen Aspekten. Eine der umfassendsten Studien zur Beziehung zwischen dem Nobelpreis und der Weltpolitik ist das Buch The Politics of Excellence: Behind the Nobel Prize in Science des amerikanisch-norwegischen Historikers Robert Marc Friedman (Friedman 2001). Friedman thematisiert darin aber ausschließlich die Physik- und Chemie-Nobeldiskussionen und geht nicht explizit auf den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ein.

Mit Letzterem befassten sich im Allgemeinen Göran Liljestrand (1886–1968), Arzt, Professor für Pharmakologie 1927–1951 und Sekretär des Nobelkomitees von 1918 bis 1960 sowie kürzlich der Arzt und Virologe Erling Norrby (Liljestrand 1962; Norrby 2010 und 2013). Da Liljestrand, Norrby und auch andere Wissenschaftler,Footnote 5 die über den Preis geschrieben haben, Mitglieder des Nobelkomitees gewesen sind, beruhen ihre Erläuterungen zum Begutachtungsverfahren auf eigener Erfahrung. Sie waren an mehreren Nobelpreisverleihungen beteiligt und sind auch im Einzelnen thematisch gut informiert. Gleichzeitig ist anzumerken, dass ihre selbstverständliche Loyalität gegenüber der Nobelstiftung auch Einfluss auf ihre Schilderung des Entscheidungsverlaufs im Komitee gehabt haben könnte. Liljestrand und Norrby beleuchten zwei Themen, die auch für diesen Aufsatz von zentraler Bedeutung sind, und anschließend erläutert werden sollen: das Nominierungsprozedere und die Auswirkungen der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik auf den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.

Da einige Nominatoren neben Sauerbruch auch andere Chirurgen vorgeschlagen hatten, werden wir außerdem Diskussionen im Nobelkomitee über andere deutsche Chirurgen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tätig waren, darstellen. Bisher liegen nur wenige Fallstudien über Chirurgen im Nobelpreisverfahren vor. An erster Stelle ist hier die Studie Moniz, lobotomy, and the 1949 Nobel Prize des schwedischen Medizinhistorikers Carl-Magnus Stolt zu erwähnen (Stolt 2002). Stolt beschreibt darin die Diskussion des Nobelkomitees zum portugiesischen Chirurgen Antonio Egas Moniz (1874–1955) und bettet sie in die Geschichte der Lobotomie (auch Leukotomie) ein. Die Idee und Durchführung der präfrontalen Lobotomie bei schweren psychotischen Störungen, einem tiefgreifenden psychochirurgischen Eingriff, wird inzwischen wegen seiner die Persönlichkeit irreversibel verändernden Nebenwirkung als therapeutische Verirrung angesehen (Sigusch 1977; Pressman 1998). Aus Stolts Studie geht hervor, dass 18 Wissenschaftler aus Portugal, Brasilien, USA und Dänemark Moniz zwischen den Jahren 1928 und 1950 nominiert haben, aber Stolt geht nicht explizit auf die Verbindungen zwischen den Verfassern der Nominierungen und dem Nominierten ein. Drei Chirurgen haben neben Moniz den Nobelpreis aufgrund der Entwicklung chirurgischer Methoden erhalten: Emil Theodor Kocher (1841–1917), Alexis Carrel (1873–1944) und Joseph E. Murray (1919–2012). Ersterer wurde in den Jahren 1907–1910 sechsmal für den Nobelpreis von Forschern aus Japan, Polen und Deutschland nominiert und erhielt ihn 1909 für die Übertragung von Schilddrüsengewebe an einen myxödematös gewordenen Patienten, dessen Schilddrüse entfernt worden war. Dies geht aus einem kürzlich veröffentlichten Artikel von Ulrich Tröhler hervor (Tröhler 2013). Der Zweite, der französisch-amerikanische Chirurg Alexis Carrel, bekam 1912 den Nobelpreis für seine Arbeiten darüber, wie man die Verletzung größerer Blutgefäße mit einer zirkulären Gefäßnaht (in Deutschland auch Carrel-Stich-Naht genannt, da der Göttinger Chirurg Rudolf Stich (1875–1960) diese Naht tierexperimentell nachgeprüft hatte) versorgen kann. Carrels Veröffentlichungen über die zirkuläre Gefäßnaht gelten als „the official birth of organ transplantation“ (Schlich 1995: 319). Durch diese Gefäßanastomose war es erstmals möglich geworden neben Arterien- und Venenverpflanzung auch Nieren-, Schilddrüsen- und Herz-Transplantationen am Tier durchzuführen. In der Praxis waren diese jedoch nur kurzfristig erfolgreich. Da die transplantierten Organe trotz einer – technisch gesehen – hervorragenden Ausführung der Operationen nach einiger Zeit abstarben, stand die Forschung über Organtransplantationen von den 1930er bis in die 1950er Jahren beinahe still (Schlich 1998). Die Akten zu den Nominierungen von Murray sind noch nicht freigegeben. Er erhielt den Preis 1990 für die erste erfolgreich durchgeführte Nierentransplantation im Jahre 1954. Somit lässt sich feststellen, dass das Nobelkomitee der Transplantationsmedizin vergleichsmäßig große Aufmerksamkeit gewidmet hat.

Der Protagonist Ernst Ferdinand Sauerbruch

Obwohl Ferdinand Sauerbruch vermutlich einer der bekanntesten deutschsprachigen Ärzte und Wissenschaftler ist, dessen Leben und Wirken besonders häufig sowohl in populären Medien als auch in wissenschaftlichen Publikationen Gegenstand der Beschreibung war, existiert bis heute keine zusammenfassende Darstellung, die auch nur alle ergobiographischen und wissenschaftspolitischen Aspekte seines Wirkens berücksichtigt.Footnote 6 Die sogenannte Autobiographie kann nicht als verlässliche Quelle betrachtet werden (Sauerbruch 1951) (siehe Abb. 1). Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Erinnerungen, die der Journalist Rudolf Berndorff zusammengestellt hatte. Sie waren vom fast 76-jährigen Sauerbruch in einer Zeit frei diktiert worden, in der er schon wegen seiner arteriosklerotisch bedingten Demenz von allen Ämtern der Charité (am 2. Dezember 1949) und der Chirurgischen Gesellschaft (am 20. Februar 1950) zurückgetreten war, und für die sein Zustand von seinem Biographen Wolfgang Genschorek nach Zeitzeugen als „tief von seiner Krankheit gezeichnet“ charakterisiert wurde (Genschorek 1980: 224). Schon 1948 hatte sogar sein ihn verehrender Schüler Rudolf Nissen (1896–1981) einen „erschreckenden“ Abstand von seinen chirurgisch-wissenschaftlichen Arbeitsgebieten bei ihm feststellen müssen (Nissen 1969: 302).

Abb. 1
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Briefmarke zum 100. Geburtstag von Ferdinand Sauerbruch 1975 (Deutsche Bundespost)

Für unseren Zusammenhang wichtige allgemeine Lebensdaten, neben den unten bei der Diskussion der Nominierungen und ihrer Bewertung dargestellten chirurgiehistorischen Verdiensten, sind nach der genannten Literatur folgende: Geboren wurde er am 3. Juli 1875 in Barmen. Von 1903 bis 1905 war er Assistenzarzt an der Chirurgischen Universitäts-Klinik in Breslau bei Johann von Mikulicz-Radecki (1850–1905), habilitierte sich dort 1905, war dann in Greifswald bei Paul Friedrich (1864–1916) bis 1910 Oberarzt an der Chirurgischen Universitäts-Klinik und Leiter der Poliklinik, wurde 1908 außerordentlicher Professor in Marburg und nahm von 1910 bis 1918 sein erstes chirurgisches Ordinariat in Zürich wahr. 1914/1915 fungierte er im Ersten Weltkrieg gleichzeitig als Beratender Chirurg des XV. Armeekorps. 1918 folgte er, bei gleichzeitiger Ernennung zum Geheimen Hofrat, dem Ruf als Professor für Chirurgie nach München und zehn Jahre später als Direktor der Chirurgischen Klinik der Charité nach Berlin. Er wurde gleichzeitig Rektor der deutschen Hochschule für Leibesübungen und engagierte sich schon früh in der Unterstützung des neuen nationalsozialistischen Regimes. Nach seiner Ernennung 1934 zum Staatsrat folgten wiederholt öffentliche, auch publizistische Einsätze für den nationalsozialistischen Staat. Im Reichsforschungsrat war er die oberste Instanz für die Verteilung von Forschungsgeldern an die Medizin, 1937/1938 wurde er als erster (gemeinsam mit August Bier) Träger des Deutschen Nationalpreises, 1942 Generalarzt der Wehrmacht und Mitglied des wissenschaftlichen Senats des Heeressanitätswesens und nahm auch ohne Protest an der militärärztlichen Diskussion medizinischer Humanexperimente teil. Nach 1945 erfolgte gleichwohl seine erneute Ernennung zum Ordinarius und Leiter der Chirurgischen Klinik und Poliklinik in Berlin, 1945 sogar gleichzeitig zum Leiter des Gesundheitswesens im Berliner Magistrat durch die Sowjetische Militär-Administration in Deutschland. Aufgrund seiner politischen Tätigkeit im Nationalsozialismus wurde er aber aus diesem Amt schon im Oktober desselben Jahres durch die Alliierte Kommandantur entlassen. 1949 erzwang die (Ost-)Berliner Hochschulbehörde seine Emeritierung wegen fortschreitender Demenz; trotzdem blieb er weiter in einer Privatklinik im Westberliner Ortsteil Grunewald chirurgisch tätig. Sauerbruch starb an den Folgen eines Schlaganfalls am 2. Juli 1951 in Berlin.

Das Nominierungsverfahren für den Preis Physiologie oder Medizin

Das „Nobelkomitee“ besteht aus fünf Professoren für Physiologie oder Medizin und hat zur Aufgabe, aus allen Nominierungen einen bis drei Kandidaten für den Nobelpreis vorzuschlagen. Heute darf eine Person dem Komitee höchstens sechs Jahre angehören, früher waren auch Mitgliedschaften über mehrere Jahrzehnte möglich. Die Mitglieder des Komitees werden von der „Nobelversammlung“ am Karolinska Institut, die sich aus fünfzig Professoren für Medizin oder Physiologie am Karolinska Institut zusammensetzt, ernannt. Diese Versammlung fasst auch den endgültigen Beschluss über die Vergabe des Preises. Bis 1977 wurde der Beschluss vom Lehrerkollegium des Karolinska Instituts gefasst. Der Sekretär repräsentiert sowohl die Versammlung als auch das Komitee und hat somit eine Schlüsselfunktion inne. Der erste dieser Sekretäre, Göran Liljestrand, arbeitete in dieser Funktion von 1918 bis 1960 (von 1901 bis 1917 gab es keinen Sekretär).Footnote 7 Mit Ausnahme der Nominierungen für 1912 und 1914 fallen alle Nominierungen von Sauerbruch in Liljestrands Amtszeit. Nach der heutigen Regelung kann ein Stockholmer Professor maximal zwölf Jahre als Sekretär fungieren.

Alle Medizinprofessoren in Schweden, Dänemark, Finnland, Island und Norwegen sowie ehemalige Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin dürfen jedes Jahr Kandidaten für den Nobelpreis vorschlagen. Das Nobelkomitee lädt darüber hinaus ausgewählte Universitäten aus der ganzen Welt ein, schriftliche Nominierungen einzusenden. Zudem ergehen ebenfalls Einladungen an einzelne Wissenschaftler und einige wissenschaftliche Gesellschaften. Alle Einladungen sowie das Auswahlverfahren dieser Universitäten unterliegen – wie auch das ganze Verfahren – über fünfzig Jahre der Geheimhaltung. Nach Auskünften von Ann-Mari Dumanski, der Leiterin der Administration im Nobelkomitee für Physiologie oder Medizin der Nobelstiftung lässt sich für die deutschen Hochschulen folgende vorläufige Zusammenfassung geben (siehe Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Nominierungseinladung an Hermann Stieve für das Jahr 1943 (PA Stieve)

In der Regel wird die Aufforderung den Dekanen der jeweiligen Fakultät übersandt, die sie an alle Fakultätsmitglieder (Professoren) weiterleiten. Dann kann jedes Fakultätsmitglied direkt Vorschläge einsenden, denn Fakultäten oder Institute gelten nicht als Absender, nur Individuen. Somit erhält das Komitee jährlich Hunderte von Kandidaten zur Auswahl (Norrby 2010: 18 f.).

Es ist nicht ausreichend, wenn der Vorschlagende als Begründung nur eine eindrucksvolle medizinische Entdeckung des vorgeschlagenen Forschers benennt. Er muss auch erläutern, inwieweit sie als bahnbrechend bewertet werden kann (Norrby 2010: 20). Liljestrand zufolge ist es häufig vorgekommen, dass Wissenschaftler aus „praktisch allen Ländern“ sich selbst nominiert haben, was zu einer neuen Vorschrift des Komitees geführt hat, nämlich dass Selbstnominierungen nicht berücksichtigt werden (Liljestrand 1962: 147). Von allen Nominierungen wählt das Nobelkomitee im Anschluss einige Kandidaten aus, die begutachtet werden. Für die als stark qualifiziert eingeschätzten Kandidaten wurden detaillierte Analysen angefertigt, die nicht selten mehr als 15 Seiten umfassen. Zu dieser Kategorie gehörte auch Ferdinand Sauerbruch, so dass über ihn umfangreiches Material im Nobelarchiv vorliegt.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kandidaten sowohl für den Physiologie oder Medizin-Preis als auch für den Preis für Physik oder Chemie nominiert werden. Circa zehn Prozent der Forscher bekommen heutzutage eine solche Doppelnominierung (Norrby 2010: 21). Umgekehrt haben nicht nur Ärzte den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhalten, sondern beispielsweise auch Zoologen wie Hans Spemann (1869–1941) 1935, Genetiker wie Thomas Morgan (1866–1945) 1933, Hermann Joseph Muller (1890–1967) 1946 und organische Chemiker wie Paul Hermann Müller (1899–1965) 1948 und Tadeus Reichstein (1897–1996) 1950. Sauerbruch taucht nur in den Akten des Nobelkomitees für Physiologie oder Medizin auf.

Dass ein Kandidat schon nach einer oder wenigen Nominierung(en) den Preis verliehen bekommt, ist ungewöhnlich. Dies geschah jedoch 1912 im Fall von Alexis Carrel (1873–1944), 1922 bei Archibald Hill (1886–1977) und Otto Meyerhof (1884–1951), 1923 bei Frederick Banting (1891–1941) und John Macleod (1876–1935). Spitzenkandidaten werden meist über einen Zeitraum von mehreren Jahren beobachtet und in dieser Zeit von verschiedenen Experten Gutachten für das Nobelkomitee verfasst. Somit ist die Vorschrift Nobels, dass das Komitee eine wissenschaftliche Leistung eines Forschers, die „im vergangenen Jahr“ stattfand, wie bereits erwähnt, nur in einzelnen Fällen eingehalten worden.

Fünfzig Jahre nach dem Nominierungsjahr wird das entsprechende Jahrbuch, das alle Gutachten, Nominierungen und sonstige dazugehörige Protokolle beinhaltet, prinzipiell für eine begründete und gezielte historische Forschung freigegeben. Nur der Sekretär des Nobelkomitees und die Leiterin der Administration der Nobelstiftung haben uneingeschränkten Zugang zum Nobelarchiv. Die Mitglieder des Komitees oder die Gutachter, die für besondere Aufträge engagiert werden, bekommen nur die Akten zu sehen, die ausschließlich die Kandidatin oder den Kandidaten betreffen, deren oder dessen Leistung der Gutachter zu beurteilen hat.

Die von uns gesichteten Jahrbücher bestehen alle aus zwei Teilen. Der erste Teil besteht aus den Nominierungen, die wiederum in sieben Sektionen aufgeteilt sind:

  • Gruppe I: Anatomie und Histologie;

  • Gruppe II: Allgemeine Biologie, Physiologie, physiologische Chemie, Pharmakologie;

  • Gruppe III: Pathologie und pathologische Anatomie;

  • Gruppe IV: Medizin, Chirurgie, Therapie;

  • Gruppe V: Bakteriologie, Ätiologie, Hygiene;

  • Gruppe VI: Immunitätslehre;

  • Gruppe VII: Nominierungen, bei denen die Nominierungsfrist nicht eingehalten wurde.

Außer einigen Nominierungen auf Englisch, Deutsch, Italienisch oder Französisch, liegen darin alle Dokumente – zumindest in den von uns gesichteten Jahrgängen – auf Schwedisch vor. Die Jahrbücher enthalten alle Dokumente, die Nominierungen, den Schriftwechsel, die Gutachten, nicht im Original sondern als Abschrift. Die Originale stehen zur Einsichtnahme im Archiv nicht zur Verfügung. In den Abschriften der auf Deutsch abgefassten Nominierungen finden sich eine Reihe von kleineren grammatikalischen Unklarheiten und vermutlichen Flüchtigkeitsfehlern. Wir gehen davon aus, dass diese nicht von den deutschsprachigen Nominatoren stammen, sondern bei der Abschrift durch schwedisches Personal entstanden sind. Entsprechend haben wir sie, wenn eine Sinnentstellung des Textes dadurch ausgeschlossen werden kann, stillschweigend korrigiert.

Im zweiten Teil sind die Gutachten des Nobelkomitees aufgeführt. Die Gutachten unterscheiden sich betreffend Umfang, Gliederung und Stil voneinander. Die meisten stellen jedoch die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis bis zur spezifischen Entdeckung dar und einer Bewertung des Anteils der vorgeschlagenen Person (hierbei werden oft auch konkurrierende Wissenschaftler erwähnt), einer Passage zu der Originalität der Entdeckung und einer Einschätzung ihres praktischen Nutzens. Abschließend schreibt der Gutachter eine Konklusion, die eine positive oder negative Empfehlung für das aktuelle Jahr beinhaltet. Die Gutachten sagen selbstverständlich auch immer etwas über deren Verfasser und dessen Interessen aus, oder wie Friedman es ausdrückt: „the selection process has a human face“ (Friedman 2001: 271). Der menschliche Faktor wird von Georg Klein (geb. 1925), einem ehemaligen Mitglied des Nobelkomitees, sogar in folgender Weise bewertet: „Der Nobelpreis ist Monte Carlo. […] Er hängt von unendlich vielen Zufällen und Konstellationen ab. Man darf ihn nicht ernst nehmen“ (Källstrand 2012: 261).

Die Kontroversen im Komitee werden in den Jahrbüchern in der Regel nicht explizit dokumentiert, aber Berichte ehemaliger Komitee-Mitglieder zeugen davon, dass teils sehr lebhafte Debatten stattgefunden haben. Die Verfasser dieser Texte haben ihre Notizen vermutlich schon kurz nach dem Treffen im Komitee gemacht, da die Diskussionen teils detailliert wiedergegeben sind (beispielsweise Henschen 1957: 198 f.; Pernow 1997). Jedoch kann man nicht ausschließen, dass diese lückenhaft und aus dramaturgischen Gründen beschönigend oder verzerrt wiedergegeben sind.

Die Auswirkungen von Hitlers Nobelpreisverbot

Am 30. Januar 1937, exakt vier Jahre nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten in Deutschland, trat ein Erlass des „Führers und Reichskanzlers“ in Kraft, demzufolge „für alle Zukunft Deutschen“ die Annahme des Nobelpreises „untersagt“ wurde (Hitler 1937). Das Verbot war eine direkte Reaktion Hitlers auf die Verleihung des Friedensnobelpreises 1935 an den seit 1933 in KZ-Haft befindlichen Journalisten und Pazifisten Carl von Ossietzky (1889–1938) (Crawford 2000: 37–53).Footnote 8 Die Vorschrift Hitlers galt nicht nur für die Vergabe des Nobelpreises für Frieden, sondern auch alle anderen Preise. Betroffen waren davon Richard Kuhn (1900–1967) 1938 und Adolf Butenandt (1903–1995) 1939 (Chemie) und ebenfalls 1939 Gerhard Domagk (1895–1964) (Physiologie oder Medizin). Diese Wissenschaftler haben später Medaille und Diplom bekommen, nicht jedoch das Preisgeld. Einzelne schwedische Wissenschaftler formulierten öffentlich Kritik zum Verbot, darunter der in Deutschland geborene aber in Schweden lebende Forscher und Nobelpreisträger für Chemie (1929) Hans von Euler-Chelpin (18731964): „Von schwedischer Seite muss man dies als einen hysterischen Ausbruch eines zeitlich beschränkten Regimes betrachten, das mit allen Mitteln versucht, seine Macht und Autorität aufrecht zu erhalten. Dies gelingt ihm nur oberflächlich“ (Almgren 2005: 78).

Aus einer internationalen Perspektive scheint das Verbot für das Nominierungsprozedere tatsächlich bloß „oberflächliche“ Konsequenzen gehabt zu haben. Zwischen 1901 und 1961 wurde im Jahr 1937 die höchste Anzahl von Nominierungen überhaupt erreicht. In diesem Jahr gab es 161 Nominierungen für 89 Kandidaten (davon wurden 18 begutachtet) aus 18 Ländern (Liljestrand 1962: 159). Es ist noch nicht ausreichend belegt, wie deutsche Wissenschaftler auf das Verbot reagierten. Laut Mitchell Ash, der sich vermutlich auf Crawford (Crawford 2000: 42) stützt, gab es als Folge davon „keine Nominierungen für Nobelpreise von deutscher Seite im Jahre 1937 und nur sehr wenige im folgenden Jahre“ (Ash 2004: 97). Diese Aussage trifft für den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin nicht zu. Es war auch im Jahr 1937 möglich, in Deutschland einheimische Kandidaten für den Preis vorzuschlagen. Beispielsweise schlug der Bakteriologe Eduard Boecker (1886–1953) aus Berlin seinen ebenfalls aus Berlin stammenden Kollegen Fred Neufeld (1869–1945) vor, und der Gießener Physiologe Karl Bürker (1872–1957) nominierte den Göttinger Physiologen Hermann Rein (1898–1953) sowie den Münchener Physiologen Otto Frank (1865–1944). Allerdings hatte das Verbot, Sekretär Liljestrand zufolge, klare Auswirkungen auf die interne Auswahl von vorschlagsberechtigten Universitäten: Für die Jahre 1939 bis 1947 ergingen keine Nominierungs-Einladungen über deutsche Universitäten an deutsche Wissenschaftler, ehemalige deutsche Preisträger für Physiologie oder Medizin ausgenommen (Liljestrand 1962: 149). Für das Jahr 1938 hatten nachweislich die Universitäten in Greifswald, Frankfurt und Heidelberg Vorschlagsrecht (vgl. Tabelle 1). Beispielsweise nominierte der Frankfurter Physiologe Albrecht Bethe (18721954), der 1937 von den Nationalsozialisten mit einem Berufsverbot belegt wurde, 1938 den Göttinger Physiologen Erich von Holst (1908–1962). Bethe, der offenbar das Verbot Hitlers kannte, informierte das Komitee über die Nationalität Holsts in seiner Begründung: „Holst ist zwar Assistent am zoologischen Institut in Göttingen, besitzt aber meines Wissens die Danziger Staatsangehörigkeit, würde so, wenn die Wahl auf ihn fallen sollte, den Nobelpreis annehmen dürfen. Zweifellos gehört er zu den begabtesten und erfolgreichsten Physiologen der jüngeren Generation“ (NA 1938 Gruppe 2 Bethe).

Tabelle 1 Nominierungen zwischen 1919–1962. Von dem Nobelkomitee dazu aufgefordert, konnten Mitglieder der in der Tabelle genannten medizinischen Fakultäten für die bezeichneten Jahre Vorschläge für die Vergabe des Nobelpreises für Physiologie oder Medizin einsenden. Zusätzlich hierzu waren jeweils auch einzelne Wissenschaftler dazu aufgefordert

In den Jahren 1938 bis 1944 wurden deutlich weniger deutsche Wissenschaftler vorgeschlagen als zuvor. Von 1940 bis 1945 wurden unserer Recherche nach keine deutschen Wissenschaftler nominiert, 1940 bis 1942 kriegsbedingt kein Nobelpreis für Physiologie oder Medizin vergeben.

Als Alternative zum Nobelpreis schuf Hitler den Deutschen Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft. Den deutschen Wissenschaftlern und der Welt sollte gezeigt werden, dass der Nationalsozialismus Wissenschaft und Forschung nicht schlechter behandeln wolle als die übrige Welt. Auch im Jahr nach der Olympiade in Berlin 1936 kam es der NS-Führung ganz besonders darauf an, sich vor der Welt in ein gutes Licht zu setzen. Der neu geschaffene Nationalpreis wurde von Hitler wie folgt eingeführt (Erlaß 1937):

Um für alle Zukunft beschämenden Vorgängen vorzubeugen, verfüge ich mit dem heutigen Tage die Stiftung eines Deutschen Nationalpreises für Kunst und Wissenschaft. Dieser Nationalpreis wird jährlich an drei verdiente Deutsche in der Höhe von je 100.000 Reichsmark zur Verteilung gelangen. Die Annahme des Nobelpreises wird damit für alle Zukunft Deutschen untersagt.

Er sollte künftig jährlich in einem feierlichen Akt auf dem Reichsparteitag verliehen werden. Für die erste Verleihung wurden die beiden Berliner Chirurgen August Bier (1861–1949) und Ferdinand Sauerbruch zu gleichen Teilen bedacht. Die Verkündung erfolgte im September 1937 auf dem Reichsparteitag und die Übergabe zum symbolischen Datum am 30. Januar 1938. Sauerbruch nahm den Preis nicht nur an, sondern bedankte sich in zwei öffentlichen Reden ausführlich bei Hitler und bei der Reichsregierung für die ihm dadurch erwiesene Ehre. Dabei verband er seine eigene Biographie mit der seines Führers. Hitlers fehlgeschlagenen Putsch in München zur Absetzung der Reichsregierung schilderte er in folgender Weise: „Es kam der 9. November 1923, wo die erste nationale Machtprobe scheiterte und Enttäuschung und Verzweiflung unsere Hoffnungen begruben. […] Damals wurden die Grundlagen geschaffen für Werk und Leistung, die heute durch den Führer höchste Anerkennung fanden“ (Dewey et al. 2006b: 332).

Der Chirurg Rudolf Nissen (1896–1981) berichtete in seinen, dem Freund und früheren Vorgesetzten Sauerbruch gewidmeten Memoiren Helle Blätter - dunkle Blätter, dass Sauerbruch ihm gegenüber von einer Zwangslage bezüglich der Annahme des Deutschen Nationalpreises gesprochen habe, in der er sich wegen der vermuteten Verleihung befände. Eine Ablehnung wäre nur denkbar gewesen, wenn Sauerbruch Deutschland verlassen hätte. Der Deutsche Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft war nicht die einzige Auszeichnung, die Sauerbruch von der nationalsozialistischen Regierung akzeptierte: 1934 wurde er zum Staatsrat und 1942 zum Generalarzt ernannt, und 1943 erhielt er das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz von Hitlers Vertrautem, dem für die „Euthanasie“-Morde verantwortlichen Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen Karl Brandt (1904–1948) (Dewey et al. 2006a: 316 f.). Sauerbruchs Einstellung zum Nationalsozialismus und zum Krieg war ohne Zweifel grundsätzlich positiv und fördernd, auch wenn er beispielsweise in der Frage der „Euthanasie“ persönlich beim Minister gegen ihre Durchführung protestierte (Kudlien and Andree 1980: 221). Seine überaus positive Haltung beweisen die bereits genannten Reden, aber auch schon jene aus dem Jahr 1933, in der er seinen Optimismus über Hitler ausdrückte: „[E]in gewaltiges Bekenntnis der ganzen Nation zum Willen unseres Führers und seiner großen Aufgaben muss der Welt zeigen, dass Deutschland erwacht ist“ (Dewey et al. 2006b: 331). Keinesfalls kann er als Widerstandskämpfer gelten, weil er einigen Opfern des Nationalsozialismus geholfen habe. Im Entnazifizierungsverfahren Sauerbruchs sei hervorgehoben worden, dass er „selbstverständlich vom Nationalsozialismus stark umworben“ worden, „seine Einstellung aber […] zurückhaltend“ gewesen sei (Nissen 1969: 168).

Die Nominierungen Ferdinand Sauerbruchs

Sauerbruch wurde in den Jahren von 1912 bis 1951 von 65 deutschen und ausländischen Wissenschaftlern nominiert. Von so vielen wurde, soweit wir das bisher feststellen konnten, kein Chirurg für den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin vorgeschlagen, möglicherweise auch deshalb, weil frühere Nominierungen eben nicht erfolgreich waren (siehe Tabelle 2).

Tabelle 2 Folgende 65 Nominatoren schlugen Ferdinand Sauerbruch für den Nobelpreis vor

Die Protokolle des Nobelkomitees sollen nun am Beispiel Sauerbruch veranschaulicht werden. Wir werden längere Passagen aus den Nominierungen zitieren, die ausführlichere Begründungen enthalten, also beispielhaft hervorheben, welche Leistungen Sauerbruchs als besonders wichtig eingestuft wurden und inwiefern diese allein Sauerbruch zuzuschreiben sind. Zahlreiche Nominierungen, die nur aus wenigen Absätzen bestehen, werden, auch wegen der Doppelungen, hier nicht eigens dargestellt. Die gewählten Nominierungen sind insofern repräsentativ, da die vier bekanntesten wissenschaftlichen Leistungen Sauerbruchs darin erwähnt werden: Das Druckdifferenzverfahren (im Bereich der Lungenchirurgie), die von ihm entwickelte Armprothese, die Parabiose ("die künstliche Verbindung von zwei oder mehr Laboratoriumstieren“ (Nissen 1978: 346) und seine Diät-Theorie für Tuberkulose-Patienten.

Im Folgenden sollen die Nominierungen Sauerbruchs aus den Jahren vor dem Verbot Hitlers, den Preis anzunehmen, chronologisch (1919, 1920, 1923, 1927, 1931) besprochen werden. Danach werden die Nominierungen aus den zwei letzten Jahrbüchern, in denen Sauerbruch behandelt wird (1937 und 1951), erläutert. Die wichtigsten Zäsuren im Nobelpreisverfahren Sauerbruchs findet man 1919 und 1931, da das Komitee lediglich in diesen Jahren ausführliche Gutachten über ihn hat anfertigen lassen.

Für 1919 durfte die medizinische Fakultät in Kiel Kandidaten für den Nobelpreis vorschlagen. Obwohl jede einzelne Nominierung geheim sein soll, haben sich die Professoren in Kiel offenbar gemeinsam überlegt, wen sie für preiswürdig hielten. Kampagnen dieser Art – mehrere Professoren an derselben Fakultät schlagen einen Kandidaten vor – sind keine Rarität in den Protokollbüchern. Der Sekretär des Nobelkomitees schrieb zu diesem Thema:

Frequently several members of the same faculty propose a common candidate – in most cases a fellow-countryman, who is sometimes, moreover, one of their own faculty colleagues – and they usually do it, either in a joint statement, or in personal letters which in content vary very little from each other. This procedure is probably due to the erroneous assumption that the prize-distributing bodies will be impressed and influenced in proportion to the number of supporters a candidate has among those officially invited to submit nominations. This idea has become so common that it has often been possible to predict with a fair degree of accuracy, even before opening a letter to the Committee, the name of the candidate it has supported. (Liljestrand 1962: 149 f.)

Solche Kampagnen treten auch in späteren Jahren zutage: 1924 haben vier Bonner Professoren und 1937 neun Breslauer Professoren Ferdinand Sauerbruch nominiert. Die Kieler Nominierung für das Jahr 1919 lautete:

Nach Abstimmung der Fakultätsmitglieder, Herren Prof. Hensen, Siemerling, Graf. v. Spee, Stoeckel, Anschütz, Heine, Jores, Kisskalt, Höber, Schrittenhelm, ist Herr Prof. Sauerbruch in München, für seine großen Verdienste auf dem Gebiete des Chirurgie der Brustorgane und Nutzbarkeitmachung der Muskelstümpfe der Extremitäten, einstimmig für den Nobelpreis in Vorschlag gebracht. Der Dekan der mediz. Fakultät Prof. Heine. Gutachten des Fachmannes beiliegend. (NA 1919 Gruppe 4 Sammelnominierung Kiel)

Das angesprochene fachmännische Gutachten seitens der Nominatoren ist von Wilhelm Anschütz (1870–1954) verfasst:

Als den Hauptverdienst des Professor Sauerbruch ist anzusehen die Erfindung des Druckdifferenzverfahrens für die Thoraxchirurgie, welches sich über die ganze Welt verbreitet hat. Diese geniale Idee […] verdient in ihrer Grossartigkeit höchste Anerkennung. […] Sauerbruch hat die operative Lungenchirurgie in hervorragender Weise gefördert und ausgebaut. Seine Erfolge auf diesem Gebiet haben ihm Weltruf gebracht. (NA 1919 Gruppe 4 Anschütz)

Anschütz schrieb in seiner Nominierung, dass „Hunderte der im Kriege verstümmelten […] den Segen dieser Erfindung [der Armprothese] noch erfahren [werden]“. Die große Anzahl Verwundeter im Ersten Weltkrieg war sicherlich ein wichtiger Faktor, weshalb die willkürlich bewegliche künstliche Hand in diesen Jahren in den Nominierungen besonders relevant erschien.

1919 wurde ein Gutachten im Auftrag des Nobelkomitees über Sauerbruch im Allgemeinen und die Armprothese im Besonderen angefertigt (NA Gutachten Westermark 1919). Nach dem Gutachten des schwedischen Chirurgen Frans Westermark (1853–1941), Mitglied des Nobelkomitees 1914 und 1917–1919, fehlte es dieser Entdeckung an Originalität. Westermark nannte den, von Mayrhofer in seinem späteren Vorschlag (1920, siehe unten) unerwähnten, Giuliano Vanghetti (1861–1940) als „Primärerfinder“, weswegen Sauerbruch für den Preis 1919 nicht in Frage käme. Vanghetti habe nach dem Italien-Äthiopien-Krieg über fünfzig funktionelle Prothesen-Methoden entwickelt. Diese Thematik wurde auch in der Sauerbruch-Nominierung des Chirurgen Eugen Enderlen (1863–1940) im Jahr 1920 genannt:

In weiterer Linie kommen seine Verdienste um die willkürlich bewegliche Hand. Es heisst Vanghetti [sei der Primär-Erfinder]. Ich weiss bestimmt, dass er [Sauerbruch] von dessen Idee nicht wusste; als er mir seinen Operationsplan mitteilte, war er sehr überrascht, als ich ihn auf Vanghetti und Cecei verwies. Vanghettis Resultate sind kümmerlich. Für Sauerbruchs Erfolge sprechen die zahlreichen Beifallskundgebungen gelegentlich der verschiedenen Demonstrationen. Er hat seine Idee fruchtbar durchgesetzt, trotz des anfänglichen intensiven Widerstandes der Orthopaeden. (NA 1920 Enderlen)

1920 nominierte der Chirurg August Bier (1846–1949) aus Berlin seinen damals noch in München wirkenden Kollegen Sauerbruch: Diese Nominierung sollte Bier 1924 wiederholen. Bier listete die, seiner Meinung nach, wichtigsten Leistungen Sauerbruchs auf, und erläuterte hierbei die Ausbildung der Thoraxchirurgie, die Parabiose und die willkürlich bewegliche künstliche Hand. Übrige Arbeiten Sauerbruchs, wie die Entdeckung der Entstehung der traumatischen Darmzerreißung, die Pathologie des Pneumothorax und die künstliche Anämisierung des Gehirns durch Absaugung des Blutes aus dem Schädel, gehörten Bier zufolge nicht zu den originellsten. Bier fügte hinzu: „Bemerkenswert ist, dass Sauerbruch mitten in seiner Arbeit drinnen steht, dass er ununterbrochen weiterarbeitet und sicherlich noch viele wertvolle Errungenschaften von ihm zu erwarten sind“ (NA 1920 Gruppe 4 Bier). Sauerbruch wurde also in den 1920er Jahren als ein vielversprechender Forscher inszeniert, von dem man künftig viel erwartete.

In jenem Jahrzehnt erreichte das Komitee die ausführlichste Nominierung von Sauerbruch überhaupt. Der Medizinhistoriker Bernhard Mayrhofer (1868–1938) aus Innsbruck gab auf zehn Seiten einen historischen Exkurs in die Enttäuschungen, Misserfolge und Erfolge des künstlichen Ersatzes von Körperteilen (NA 1927 Gruppe 4 Mayrhofer). Ausgehend von der eisernen Hand Götz von Berlichingens (circa 1480–1563) zog er eine Entwicklungslinie, die ihren Höhepunkt erst durch die Arbeiten Sauerbruchs zur Schaffung willkürlich bewegbarer Arm-, Hand- und Beinprothesen erreichte. Wie bereits erwähnt, wird einer der ersten Entwickler von durch Muskeln bewegbaren Armprothesen, Giuliano Vanghetti, von Mayrhofer nicht erwähnt. Eine ausführliche Diskussion darüber, wie Sauerbruchs Arbeiten in der Geschichte der Armprothetik einzuordnen sind, liefert die Dissertation von Martin Friedrich Karpa (Karpa 2005). Karpa hebt hervor, dass Sauerbruch erkannt habe, dass die komplexe Konstruktion einer willkürlich bewegbaren Prothese nur durch Arbeitsteilung und mit Hilfe von „Anatomen, Techniker[n], Physiologen, Chirurgen, Krankenpfleger[n] […], Industrieunternehmen, Behörden und Sponsoren“ zu bewältigen sei (Karpa 2005: 201). Von der Notwendigkeit einer solchen Zusammenarbeit ist in den Nominierungen keine Rede – in ihnen wird Sauerbrauch vielmehr als Einzelkämpfer geschildert, mit Ausnahme des Vorschlags des Göttinger Chirurgen Rudolf Stich im Jahr 1919: „Auch die Herstellung zweckmässiger Arbeitsprothesen ist Sauerbruch in enger Zusammenarbeit mit Physikern und praktischen Technikern gelungen, wenngleich der Autor in strenger Selbstkritik stets betont, dass weitere Verbesserungen gerade auf diesem Gebiet notwendig und möglich sind“ (Hervorhebung im Original, NA 1919 Gruppe 4 Stich).

1923 schlug der Frankfurter Chirurg Victor Schmieden (1874–1945) zwei Kandidaten vor: „Die Führerstellung unter den Deutschen nehmen zwei Männer von Weltruf ein“ (NA 1923 Gruppe 4 Schmieden): gemeint waren August Bier und Sauerbruch. Schmieden kannte beide gut. Er war ehemaliger Schüler von Bier und mit Sauerbruch hatte er die „Chirurgische Operationslehre“ herausgegeben. 1927 schrieb auch der Gießener Professor für Geburtshilfe und Gynäkologie Heinrich Walther (1866–1950) im Sinne von Biers Einschätzung von 1920:

[Sauerbruch], der nicht nur im Kriege, sondern auch in der Nachkriegszeit durch hervorragende Arbeiten, Operationen und Entdeckungen sich einen wissenschaftlichen Namen gemacht hat, der weit über die Grenzen Deutschlands hinaus reicht, und welcher, ein Wohltäter der Menschheit ist im wahren Sinne des Wortes, zur Heilung unendlich vieler Kranker, seien es Schwerverletzter, seien es chirurgisch oder intern Leidender getan hat, eines Mannes, von welchem die Zukunft noch Vieles zu erwarten hat. (NA 1927 Gruppe 4 Walther)

1931 wurde Sauerbruch erneut in zwei Doppel-Nominierungen erwähnt. Der Berliner Gynäkologe Walter Stoeckel (1871–1961) nominierte Ludolph Brauer und seinen inzwischen in Berlin tätigen Kollegen Ferdinand Sauerbruch: „Sie haben durch ihre wissenschaftliche Forschung die Grundlage für die moderne Lungenchirurgie gelegt und die Lungenchirurgie auf ihre heutige Höhe gehoben“ (NA 1931 Gruppe 4 Stoeckel).

Im Januar 1931 wurde Sauerbruch auch von dem Berliner Neurologen Karl Bonhoeffer (1868–1948) nominiert. Bonhoeffer schrieb: „Sollte sich wegen Prioritätsstreitigkeiten eine Einigung auf Prof. Sauerbruch nicht erzielen lassen, so bin ich der Meinung, dass auf dem Gebiete der Physiologie Prof. Otto Warburg (1883–1970) […] der Nobelpreis für seine Arbeiten zur Atmungsphysiologie der Zelle zuerkannt werden sollte“ (NA 1931 Gruppe 4 Bonhoeffer).

Warburg hat in diesem Jahr schließlich den Preis erhalten, auch wenn zunächst die Mehrheit des Nobelkomitees die Gynäkologen Bernhard Zondek (1891–1966) und Selmar Aschheim (1878–1965) für ihre Entdeckung der Bedeutung der vorderen Hypophysenabschnitte für die Sexualfunktionen und Schwangerschaftsreaktionen als erste Wahl vorgeschlagen hatte. Doch das Lehrerkollegium am Karolinska Institut entschied sich dann für Warburg.

Am 7. September 1931 schrieb der Stockholmer Internist Hans Christian Jacobaeus (1879–1937), Mitglied des Nobelkomitees von 1925 bis 1933, ein elfseitiges Doppel-Gutachten über den Hamburger Chirurgen Ludolph Brauer (1865–1951) und Sauerbruch (NA 1931 Jacobaeus). Dieses Gutachten war die letzte ausführliche Stellungnahme für das Komitee in den Akten zu Sauerbruch. Jacobaeus zufolge seien diese beiden Forscher mit zwei Methoden, nämlich dem Druckdifferenzverfahren und der Kollapstherapie bei Lungenerkrankungen, von großer Bedeutung für die moderne Chirurgie gewesen. Brauers „Überdrucktherapie“ wurde der Sauerbruch’schen „Unterdruckkammer“ vorgezogen. Die Gründe, weshalb Jacobaeus diese Entdeckungen nicht für preiswürdig hielt, waren zum einen, dass es – wie auch bei der Handprothese – schon wichtige Vorgänger dieser Therapie gegeben hatte, und zum anderen, dass schon viele Jahre seit der Entdeckung vergangen waren. Jacobaeus referierte zwei von Sauerbruchs Aufsätzen, „Technik der Thoraxchirurgie“ (1911) und „Die extrapleurale Thorakoplastik“ (1913). In seiner Konklusion schrieb er, dass der bereits verstorbene Carlo Forlanini (1847–1918) aus Pavia der wichtigste Chirurg auf diesem Gebiet gewesen sei, gefolgt von Brauer und erst an dritter Stelle von Sauerbruch. Deshalb sei auch eine Teilung des Preises zwischen Brauer und Sauerbruch nicht begründet. Jacobaeus geht auch auf die Nominierung Sauerbruchs wegen einer salzfreien Diät für Tuberkulosepatienten ein: „Bei chirurgischer Tuberkulose und Lupus hat man durch salzfreie, vitaminreiche Kost schöne Resultate erreicht, in einigen Fällen bessere als mit Heliotherapie.“ Aber auch das sei kein origineller Beitrag: „Bei der Lungentuberkulose hat sich bisher keine Wirkung gezeigt.“ Schließlich wurden diese Fragen in erster Linie von Adolf Hermannsdorfer und Max Gerson (1881–1959) beleuchtet“ (NA 1931 Jacobaeus).

Auch die Nominierung durch den Breslauer Chirurgen Karl Heinrich Bauer (1890–1978) im Jahre 1937 sollte diese von Jacobaeus begründete Einschätzung des Nobelkomitees nicht ändern:

Diejenige wissenschaftliche Entdeckung Sauerbruchs, die die Voraussetzungen für die Nobelpreisnominierung erfüllt, ist die Erfindung des Druckdifferenzverfahrens im Jahre 1904. […] Durch den folgerichtigen Aufbau dieser Erfindung wurde Sauerbruch sowohl zum Begründer, wie Vollender der erfolgreichen Chirurgie der Brustorgane. Wenn auch diese Erfindung des Jahres 1904 in ihrer ganzen theoretischen Bedeutung sogleich erkannt wurde, so hat sie ihre grosse praktische Bedeutung doch erst im Laufe der folgenden Jahrzehnte voll und ganz erwiesen […]. So kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die ebenso originell, wie folgerichtig im Unterdruck- und Überdruckverfahren durchgearbeitete Idee der Druckdifferenz und die Erfindung der entsprechenden technischen Apparate im Laufe der Jahrzehnte eine ungeheure Entwicklung für die Chirurgie der Brustorgane gebracht hat und dass heute, – man denke nur an die Schussverletzungen, die Geschwulstkranken, die Kranken mit Lungentuberkulose etc. – ein großer Teil kranker Menschen gerettet wird, der vordem sicher verloren war, so dass es keinem Zweifel begegnen kann, dass die Sauerbruch‘sche Erfindung im wahrsten Sinne des Wortes der leidenden Menschheit zugutekommt und dass sie einen der grössten Fortschritte der modernen Medizin ueberhaupt darstellt. (Hervorhebung im Original, NA 1937 Gruppe 4 Bauer)

Nur wenige Wochen vor Bekanntgabe des deutschen Nobelpreisverbots 1937 wurde Ferdinand Sauerbruch erneut für den Nobelpreis nominiert: Neun Breslauer Professoren empfanden zwei Mediziner, beide Chirurgen, als preiswürdig: Ferdinand Sauerbruch und den Breslauer Lehrstuhlinhaber Otfrid Foerster (1873–1941). Karl Stolte (1881–1951), der Direktor der Breslauer Kinderklinik, schrieb in seiner Nominierung: „Mir selbst fällt es schwer, die Leistungen des einen gegenüber des anderen abzuwägen. Bei Sauerbruch war es der geniale Gedanke, bei Foerster zäheste, kritische jahrelange Forscherarbeit, die zu den für die Menschheit so wichtigen Erfolgen führte. Beide Herren dürften in gleicher Weise der hohen Auszeichnung würdig sein“ (Hervorhebung im Original, NA 1937 Stolte).

Foersters Nominierung wurde primär mit einem – im Vergleich zu Sauerbruchs Leistung – aktuelleren Lebenswerk motiviert, nämlich der Klarlegung der Physiologie des Rückenmarks, die Foerster in dem 18-bändigen Handbuch der Neurologie in der ersten Auflage im Jahr 1936 zusammengefasst hatte (Bumke and Foerster 1936). Zu Otfrid Foerster wurde am 7. April 1937 (und damit circa zwei Monate nach dem Nobelpreisverbot Hitlers) ein fünfseitiges Gutachten vom Stockholmer Neurologen Nils Antoni (1887–1968) angefertigt (NA 1937 Antoni). Antoni, der am Karolinska Institut zwischen 1931 und 1954 den Lehrstuhl für Neurologie innehatte, drückte sich darin vorsichtig aus. Er behauptete zuerst, dass er wohl kaum in der Lage wäre, eine einzelne Entdeckung Foersters zu finden, die für den Nobelpreis in Frage kommen könnte. Darauf folgend betonte er, dass Foersters Experimente am Menschen jedoch viele neue Erkenntnisse gebracht hätten. Als besonders wichtig hob er die Entdeckung der vasodilatatorischen Hautzonen der hinteren Nervenwurzeln für die Erforschung der spinalen Segmentlehre beim Menschen sowie die zeitdiskriminatorische Funktion der Hinterstränge hervor. Es war kein Zufall, dass Antoni den Auftrag bekommen hatte, über Foerster zu schreiben. Er hatte selbst einige Artikel zum Thema auf Deutsch und Schwedisch veröffentlicht, die auch außerhalb Schwedens rezipiert wurden, wie Über Rückenmarkstumoren und Neurofibrome (1920) und Om nervsjukdomar [Über Nervenkrankheiten] (1928).

Das Gutachten Antonis 1937 war aber nicht das erste Mal, dass die Leistungen Foersters im Komitee diskutiert wurden. Schon 1926 hat sich das Komitee eingehend für Foerster interessiert, nachdem er in Kassel 1925 einen Vortrag über die Behandlung der genuinen Epilepsie gehalten hat (NA 1926 Marcus). Foerster vertrat in diesem Vortrag, bei dem auch der Stockholmer Psychiater und Neurologe Henry Marcus (1866–1944), ein weiterer Verfasser eines Gutachtens für das Komitee, anwesend war, die Ansicht, dass die genuine Epilepsie auf Irritationen bestimmter pathohistologischer Prozesse in der Rinde oder in anderen Teilen des Nervensystems beruhte. Marcus hatte bei Foerster im Jahr 1918 und im Sommer 1925 gearbeitet und war der Meinung, dass seine Ergebnisse zu vage für eine ernsthafte Kandidatur seien, aber sollte er seine Theorien nachweisen können, sei dies eine Leistung, die den Statuten Nobels entspräche (NA 1926 Marcus).

Als Grund für die Sammel-Nominierungen Sauerbruchs 1937 wurde dessen Persönlichkeit hervorgehoben. Der Breslauer Gynäkologe Schultze-Rhonhof schrieb in jenem Jahr:

Wenn laut Statuten der Nobelstiftung der Preis des jeweiligen Fachgebietes der Persönlichkeit zuzuerkennen ist, die der Menschheit durch ihre Tat grössten Nutzen gebracht hat, dann wird dieser Forderung nicht nur im vollsten Ausmass, sondern wohl auch in erster Linie Geheimrat Professor Dr. Sauerbruch gerecht. Sauerbruch gehört zu den ganz überragenden Persönlichkeiten der Medizin, die sich durch ihr Werk unvergängliche Verdienste erworben und in ihnen ein bleibendes Denkmal gesetzt haben. In Sauerbruch vereinigen sich der geniale Arzt und Wissenschaftler, ja in ihm verkörpert sich der schöpferische Arzt schlechthin, der durch wahrhaft medizinische Grosstaten für die Menschheit unendlichen Segen gestiftet hat. […] Sauerbruchs Verdienste sind einmalig, und seine Erfindungen, vor allem das Druckdifferenzverfahren, haben der Menschheit in der Tat zum allergrössten Nutzen gereicht. Sauerbruch gebührt daher die hierfür höchste Auszeichnung der Wissenschaft, der Nobelpreis für Physiologie und Medizin. […] Wegweisend sind seine Versuche der Tuberkulosebehandlung mit bestimmten Kostformen, besonders bei der Knochen- und Gelenktuberkulose und bei der Behandlung des therapeutisch so schwer erfassbaren Lupus. Die Sauerbruch-Hermannsdorfersche Diät ist hierbei fraglos von souveräner Bedeutung. (Hervorhebung im Original, NA 1937 Gruppe 4 Schultze-Rhonhof)

In seiner Dissertation über die Darstellung der Nobelpreisträger in der Presse betont der schwedische Historiker Gustav Källstrand, dass sie nicht selten als große Persönlichkeiten dargestellt wurden (Källstrand 2012). Laut Källstrand sei dies möglicherweise dem Umstand geschuldet, dass ihre wissenschaftliche Tätigkeit schwierig zu vermitteln sei. Die Hagiographien waren jedoch nicht nur in den Medien zu beobachten. Auch in den Nominierungen wurden (meist) Männer als großartige, historische Individuen charakterisiert. Als Beispiel dafür dient eine Passage aus der vorher zitierten Sauerbruch-Nominierung durch Karl Heinrich Bauer:

[Man kommt] zu der Erkenntnis, dass es sich auch sonst, abgesehen von jener grundlegenden Entdeckung bei Sauerbruch um einen der vielseitigsten und produktivsten Köpfe in der Geschichte der Medizin und eine der grössten Arztpersönlichkeiten ueberhaupt handelt. Ewigen Ruhm wird ihm die grundlegende Erfindung des Druckdifferenzverfahrens als der Wegebereiter in der ganzen Chirurgie der Brusthöhle einbringen. (NA 1937 Gruppe 4 Bauer)

Von den zahlreichen Sauerbruch-Nominierungen wurden nur zwei von Repräsentanten medizinischer Fakultäten außerhalb Deutschlands, Österreichs und der Schweiz verfasst: 1926 vom Chirurgen Hayari Miyake (1867–1981) vom Fukuoka Medical College an der Kyoto Imperial University und 1937 vom Chirurgen Rudolf Nissen, der zu dieser Zeit in Istanbul arbeitete. Beide waren ehemalige Schüler Sauerbruchs. Hayari Miyake arbeitete einige Jahre Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts unter Sauerbruch in Breslau. Seine Nominierung, die auf Deutsch verfasst ist, ist sehr kurz und hebt Sauerbruchs „bahnbrechende Leistungen im Gebiete der Brusthöhlen-Chirurgie“ hervor (NA 1926 Gruppe 4 Miyake). Rudolf Nissen war bis 1933 Sauerbruchs erster Oberarzt in Berlin an der Chirurgischen Universitätsklinik. Unter die Rassegesetze fallend verließ er, gegen Sauerbruchs Rat, aber die Entwicklung voraussehend, im Mai 1933 Deutschland, wurde Professor für Chirurgie in Istanbul, ging kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in die USA und war von 1952 bis 1967 Ordinarius für Chirurgie in Basel (Nissen 1969: 137). Rudolf Nissen, der im gleichen Jahr auch Sigmund Freud nominiert hatte, verschwieg in seiner Nominierung nicht, dass er Sauerbruch persönlich kannte:

Wenn ich im folgenden Sauerbruch zur Verleihung des Nobelpreises vorschlage, so wird man vielleicht mir, als seinem Schüler, eine sympathisierende Voreingenommenheit entgegenhalten. Ich darf aber für mich in Anspruch nehmen, dass ich grade als Kenner des chirurgischen Fachgebietes, dem Sauerbruch die Grundlagen der Entwicklung gegeben hat, seine Leistung besser als die meisten anderen abzuschätzen weiss, und dass ich weiterhin in der vieljährigen Zusammenarbeit seine wissenschaftliche Persönlichkeit ebenso kennen lernte, wie seine Fähigkeit neue operative Wege zu finden. Ich sehe in der modernen Chirurgie, vielleicht abgesehen von Cushing’s Anteil an der Entwicklung der Hirnchirurgie, kein anderes Gebiet, auf dem ein Einziger so entscheidende Leistungen vollbracht hat, wie Sauerbruch auf dem der Thoraxchirurgie. (NA 1937 Gruppe 4 Nissen)

Das Druckdifferenzverfahren wurde auch noch 15 Jahre später, 1951, in einer Nobelpreis-Nominierung des Neurologen Max Nonne (1861–1959) aus Hamburg unterstrichen. Für Nonne gab es in diesem Jahr nur einen möglichen Kandidaten:

Ich habe mir die Frage sehr durch den Kopf gehen lassen und habe mich mit meinen Kollegen im Gremium der medizinischen und der naturwissenschaftlichen (Physiologie) Fakultät in Verbindung gesetzt. – Wir haben zu unserem lebhaften Bedauern niemand finden können, der in den letzten Jahren den hohen Ansprüchen genügen könnte, die angesichts der mir übersandten Liste der bisherigen Preisträger gestellt worden sind. Andererseits haben wir vermisst, dass ein international bekannter und anerkannter Forscher wie Prof. Sauerbruch den Preis noch nicht erhalten hat. Die heutige chirurgische Thorax-Therapie ist ohne die Epoche machende Einführung des Operierens in Ueberdruck nicht zu denken. (Hervorhebungen im Original, NA 1951 Gruppe 4 Nonne)

Auch der Chirurg Emil Karl Frey (1888–1977) aus München, der viele Jahre unter Sauerbruch gearbeitet hatte (Nissen 1969: 69–71), hob 1951 in seiner Nominierung diese Methode hervor:

Es kann aber kein Zweifel bestehen, dass auf dieser Erfindung [die Druckdifferenzmethode] die ganzen gewaltigen Fortschritte beruhen, die die Thoraxchirurgie gerade in den letzten Jahren aufzuweisen hat, sowohl was die chirurgische Behandlung von Erkrankungen der Lungen als des Herzens und der Speiseröhre anlangt […]. Sein Werk weist in die Zukunft und trägt immer neue Früchte. (NA 1951 Gruppe 4 Frey)

Sauerbruch selbst hat sich – soweit bekannt – nie öffentlich über seine Chancen, einen Nobelpreis zu bekommen, geäußert, jedoch wird in seiner bereits angesprochenen sogenannten Autobiographie auf den Nobelpreis eingegangen. In einem Abschnitt wird ein Glückwunschschreiben von Willy Anschütz (1870–1945), dem damaligen Kieler Chirurgen und Freund Sauerbruchs, zitiert, das Sauerbruch nach der Verleihung des ersten Deutschen Nationalpreises für Kunst und Wissenschaft, der auch als „deutscher Nobelpreis“ bezeichnet wurde, erhielt.

Lieber Ferd! Zu der großen Ehrung, die dir widerfahren ist, möchte ich Dich als Dein alter treuer Freund herzlich beglückwünschen! […] Ich habe es schon lange als einen Mißklang empfunden, daß du nicht von Stockholm aus den Nobelpreis bekommen hast, jedenfalls, wenn ich befragt worden bin, habe ich mich für dich eingesetzt. Aber dort hatte man offenbar irgendwelche Gegenbewegung. Du kannst aber sicher sein, daß die internationale Chirurgen- und Ärztewelt diese Ehrung mit Freuden begrüßen und anerkennen wird. (Sauerbruch 1951: 529)

Auch der Göttinger Physiologe Hermann Rein (1898–1953) formulierte entsprechend – allerdings darauf bezogen, dass er selbst gegen seine Hoffnungen nicht berücksichtigt worden war. Die von ihm wahrgenommene Voreingenommenheit in Schweden gegenüber dem Deutschen Reich wirke sich auch auf wissenschaftliche Bewertungen aus:

Was nützt es, wenn man in einer Tischrede versichert bekommt, daß man mich als den ‚Führer’ der europäischen Physiologie betrachtet, mein ‚armes Vaterland’ bemitleidet u. doch voll Voreingenommenheit die wirkliche Situation verkennt? Was nützt es, wenn man mich feiert u. mir versichert, daß ich unter anderen politischen Konstellationen Nobelpreisträger sein würde? - Während ich in anderen Ländern noch immer auf eine Front derer, die guten Willens sind, derer, die höhere Werte als das hysterische Gezänk der Politiker als Ziel u. Richtlinien hatten, gestoßen bin, war das zum ersten Mal hier nicht der Fall. (PA Rein)

Häufige Nominierung durch Freunde – kein Hinweis auf politische Ablehnung

Bis heute ist Ferdinand Sauerbruch eine der prägendsten Gestalten der deutschen und internationalen Chirurgie geblieben. Die folgenden seiner engsten Schüler sind selbst in die Position eines Ordinarius für Chirurgie und Direktor einer Chirurgischen Universitätsklinik gerückt: Alfred Brunner (1890–1972) in Zürich, Emil Karl Frey in München, Willi Felix in Berlin, Hermann Krauss (1899–1971) in Freiburg i. Br. und Rudolf Nissen in Basel. Weitere wie Ludwig Zukschwerdt (1902–1974) in Hamburg und Hayari Miyake in Kyoto könnte man ebenso aufführen. Ärzte und Wissenschaftler berufen sich immer noch und wieder auf ihn, auch bei Gelegenheiten, die mit seinen eigentlichen Leistungen auf dem Gebiet der Vervollkommnung chirurgischer Operationsmethoden wenig zu tun haben. Heutige Lehrstuhlinhaber der Chirurgie bezeichnen sich gerne als Enkel Sauerbruchs, um darauf hinzuweisen, dass sie von einer besonders hochstehenden und wirkungsmächtigen Schule der Operationstechnik geprägt wurden. Straßen und Schulen sind nach Sauerbruch benannt. Seine sogenannte Autobiographie wurde in ungezählten Auflagen bis 1998 nachgedruckt. Eine in der DDR publizierte Biographie erschien noch bis 1989 in acht Auflagen (Genschorek 1979). Ein Film, der die Leistungen Sauerbruchs ins Märchenhafte überhöht und als Muster für die Entstehung des Mythos vom „Halbgott in Weiß“ betrachtet werden kann, wird, trotz seiner technischen Patina, altväterlichen Kamera- und Schnittführung sowie seines vorhersagbaren Drehbuchablaufs, regelmäßig von deutschen Fernsehanstalten gezeigt.

Dass ein solcher Mann, der zu seiner Zeit die deutsche Chirurgie, ein die gesamte Medizin zumindest in der Wahrnehmung der Laien am stärksten prägendes Fachgebiet, schlechthin repräsentierte, auch häufig für die Verleihung des Nobelpreises vorgeschlagen wurde, verwundert daher zunächst nicht. Erstaunlich ist allerdings die tatsächliche Zahl der 65 Nominatoren: So viele konnte bis heute vermutlich kein anderer deutscher Chirurg auf sich vereinigen. Auch der Zeitraum seiner Nominierungen von 1912 bis 1951 verblüfft.

Mehrfach wird als Begründung für die Tatsache, dass Sauerbruch trotzdem den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin nicht erhalten hat, eine politische Voreingenommenheit der schwedischen Auswahlgremien angenommen. Dies gilt insbesondere für den diesbezüglichen deutschen Diskurs, wie die angeführten Äußerungen von Wilhelm Anschütz und Hermann Rein belegen. Weil Hitler aus politischen Gründen deutschen Wissenschaftlern die Annahme des Nobelpreises verboten habe, oder weil die Nobelgremien die deutsche Wissenschaft mit den NS-Machthabern identifiziert hätten und nicht damit das deutsche NS-Reich hätten aufwerten wollen, oder weil Sauerbruch selbst sich zu eng mit dem nationalsozialistischen Deutschland identifiziert habe, sei ihm der Preis nicht verliehen worden. Dass diese Argumente nicht zutreffen und in den Bereich der Mythenbildung gehören, nach denen „die deutschen“ Opfer von Weltverschwörungen seien, zeigen nicht zuletzt die Beschlüsse der Nobelkomitees, die Nobelpreise für Chemie 1938 an Richard Kuhn beziehungsweise 1939 an Adolf Butenandt und den Nobelpreis 1939 für Physiologie oder Medizin an Gerhard Domagk zu verleihen (Crawford 2000: 42–47). Ebenso lässt die Ernsthaftigkeit der dargestellten Begutachtung von Otfrid Foerster, auch in Konkurrenz zu Sauerbruch, durch das fünfseitige Gutachten des Stockholmer Neurologen Nils Antoni vom 7. April 1937, zwei Monate nach Hitlers Annahmeverbot des Nobelpreises, keinerlei Verdacht in diese Richtung aufkommen.

Die meisten Nominatoren, fast ausschließlich aus Deutschland, begründen ihre Vorschläge nicht nur mit Sauerbruchs als originell empfundenen wissenschaftlichen Leistungen, sondern schildern ihn auch als herausragenden Repräsentanten der zeitgenössischen Chirurgie. Auch die beiden entscheidenden Gutachten des Nobelkomitees, 1919 des schwedischen Chirurgen Frans Westermark und 1931 des Internisten aus Stockholm Hans Christian Jacobaeus in seinem umfangreichen Doppel-Gutachten über Ludolph Brauer und Sauerbruch leugnen dies nicht. Sie weisen aber im Einzelnen nach, aus welchen Gründen sie den Arbeiten von Sauerbruch nicht die preiswürdige Originalität attestieren können. So entbehre die Sauerbruch’sche Entwicklung der Armprothese, die im Mittelpunkt des Westermark’schen Gutachtens von 1919 stand, der Originalität, da nach Westermark Giuliano Vanghetti als „Primärerfinder“ anzusehen sei. Hinsichtlich der Idee und der Umsetzung des Druckdifferenzverfahrens kam Jacobaeus 1931 zu dem Schluss, Sauerbruch gebühre in der Prioritätenreihenfolge nach den Beiträgen von Carlo Forlanini aus Pavia und Ludolf Brauer aus Breslau nur der dritte Platz.

Die Autoren verschiedener Abhandlungen zur Vergabe der Nobelpreise, aber auch schwedische Mitglieder des Nobelkomitees, sind bezüglich der Auswahl preiswürdiger Kandidaten durchaus kritisch. Die Gutachten, so Friedman, sagen aber auch immer etwas über deren Verfasser und dessen Interessen aus (Friedman 2001)..Das gilt umso mehr für die Vorschlagenden. Eine große Anzahl der Nominatoren definierte sich als Schüler Sauerbruchs oder sie waren enge Fakultätskollegen.

Die ausschlaggebenden Gründe dafür, dass Sauerbruch trotz der weit überdurchschnittlichen Anzahl an Nominierungen letztlich doch nicht als preiswürdig angesehen wurde, waren, wie aus den zitierten Gutachten eindeutig hervorgeht, dass seine von der Chirurgenwelt als bahnbrechend angesehenen Leistungen letztlich nicht als originell genug eingestuft werden konnten und er damit das wichtigste Vergabekriterium für die Verleihung des Nobelpreises für Medizin und Physiologie nicht erfüllte. Wenn wir dies feststellen, so maßen wir uns damit allerdings nicht an zu behaupten, dass dieses „wichtigste Kriterium“ immer und bei allen Verleihungen eingehalten worden ist.

Unveröffentlichte Quellen

Die jeweilige Bezeichnung des zitierten Dokumentes folgt wie üblich den Signaturen des Nobelarchivs (NA). Zitierte Jahrbücher mit näherer Angabe:

  • NA 1919 Gruppe 4 (Sammelnominierung Kiel)

  • NA 1919 Gruppe 4 (Anschütz)

  • NA 1919 Gutachten (Westermark)

  • NA 1919 Gruppe 4 (Stich)

  • NA 1920 Gruppe 4 (Bier)

  • NA 1920 Gruppe 4 (Enderlen)

  • NA 1923 Gruppe 4 (Schmieden)

  • NA 1926 Gutachten (Marcus)

  • NA 1926 Gruppe 4 (Miyake)

  • NA 1927 Gruppe 4 (Mayrhofer)

  • NA 1927 Gruppe 4 (Walther)

  • NA 1931 Gruppe 4 (Stoeckel)

  • NA 1931 Gruppe 4 (Bonhoeffer)

  • NA 1931 Gutachten (Jacobaeus)

  • NA 1937 Gruppe 4 (Bauer)

  • NA 1937 Gruppe 4 (Stemmler)

  • NA 1937 Gutachten (Antoni)

  • NA 1937 Gruppe 4 (Schultze-Rhonhof)

  • NA 1937 Gruppe 4 (Nissen)

  • NA 1937 Gruppe 4 (Stolte)

  • NA 1938 Gruppe 2 (Bethe)

  • NA 1951 Gruppe 1 (Stieve)

  • NA 1951 Gruppe 4 (Nonne)

  • NA 1951 Gruppe 4 (Frey)

Privatarchiv Fam. Rein.

Rein, Herrmann, bearbeitet von Elisabeth Rein. Erinnerungen. Tagebucheintrag Schwedenreise 22.11.-1.12.1943. Original im Familienbesitz.

Privatarchiv Familie Stieve.

Nobelpreisnominierungseinladung an Hermann Stieve im Jahr 1943 vom Nobelkomitee für Physiologie oder Medizin. Original im Familienbesitz.

Danksagung

Wir danken Thomas Schlich, Montreal, sowie den anonymen Gutachtern für hilfreiche Kommentare. Für die Möglichkeit der Einsichtnahme in das Archivmaterial der Nobel Archive (NA) danken wir Frau Ann-Mari Dumanski und dem Nobel Committee for Physiology or Medicine.