Ethische Fragen in sozialen Systemen

Welche Ethik man wählt, welche Ethik sich durchsetzt, welche ethischen Fragen überhaupt gesehen werden, das hängt maßgeblich davon ab, in welchem sozialen System, in welcher Organisation man sich befindet, welche Kommunikationsformen und Wissenshierarchien prägend sind, welche unterschiedlichen Logiken in und zwischen Organisationen bedient und vermittelt werden müssen (vgl. Apelt und Tacke 2012; Besio 2018). Dieser Beitrag geht von der Beobachtung aus, dass gegenwärtige Ansätze ethischer Reflexions- und Beratungsmodelle im Gesundheits- und Sozialwesen (durchaus in Theorie und Praxis) ihre systemisch-organisationalen Verflechtungen konzeptionell nicht ausreichend reflektieren und explizieren. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, eine systemische Perspektive der Organisationsethik anzubieten, um daraus Schlussfolgerungen und Fragen für die kritische Reflexion und Entwicklung ethischer Strukturen und Praktiken in einer Einrichtung und deren Theoriebildung zu gewinnen.

Der Beitrag geht von der Hypothese aus, dass das Wahrnehmen und Reflektieren des spezifischen Organisationskontextes auch für ethische Herausforderungen relevant sei: Es können Fragen und Widersprüche bewusst werden, die sonst unsichtbar bleiben würden. Vielen Ethikansätzen im Gesundheitsbereich, so die zugrundeliegende Beobachtung, mangelt es an einem genuinen „Organisationsblick“, was sich auf jeweilige ethische Kontextpassungen verkürzend auswirkt (für Hinweise und Belege sei aus Platzgründen verwiesen auf z. B. Krobath und Heller 2010a; Schuchter und Heller 2018).

Es macht einen Unterschied, ob sich ethische Fragen beispielsweise in einer Organisation wie einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung, in einer Familie, in Sorge-Netzwerken, in Gemeinden oder Gemeinschaften stellen. All diese sozialen Systeme gehorchen eigenen Logiken, Bedingungen der Mitgliedschaft, Ordnungen der Kommunikation und des „Spiels“ sozialer Rollen, die ihrerseits spezifische Sichtweisen und Interessen der Beteiligten generieren bzw. voraussetzen. Wichtig zu sehen ist dabei, um welche Kernprozesse und Widersprüche eine Organisation gebaut ist, welche Perspektive (welcher Berufsgruppe) zur Thematisierung von ethischen Fragen vorherrscht und wie ein lernender Umgang der Organisation mit ethischen Fragen verstanden werden kann.

Es scheint jedenfalls nicht unplausibel anzunehmen, dass das Was und das Wie des ethischen Fragens abhängig ist:

  1. a)

    von der Eigenlogik der jeweiligen Organisation,

  2. b)

    von der Rolle in der Hierarchie und im Behandlungsarrangement, aus der heraus ethische Fragen aufgegriffen werden,

  3. c)

    von der fachlichen Perspektive (z. B. Medizin oder Pflege oder andere) oder dem persönlichen Involviertsein (z. B. Angehörige),

  4. d)

    von den eigenen ethischen Grundannahmen und Hintergrundtheorien bzw. von jenen Grundannahmen, die Gültigkeit beanspruchen können.

Diese Unterschiede ethischer Fragestellungen in Organisationen lassen sich gut illustrieren an der Differenz der Organisation Krankenhaus zur Organisation Pflegeheim.

Ethisch relevante Unterschiede zwischen Krankenhaus und Pflegeheim als Beispiel

Das Krankenhaus ist als Organisation um die Differenz von Gesundheit und Krankheit mit den Kernprozessen der Diagnose und Therapie von Krankheiten gebaut. Das Pflegeheim organisiert sich eher um die Differenz von gutem oder schlechtem Leben bis zuletzt oder von Würdigung und Demütigung mit den Kernprozessen pflegerischer, alltagsgestaltender Versorgung oder besser „Sorgekunst“ (Schuchter 2020; Heller und Schuchter 2018). Die Beziehungen zwischen Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen qualifizieren sich durch eine andere Zeitlichkeit. Im Pflegeheim bilden medizinisch-therapeutische Behandlungsfragen eher die Ausnahme. Es treten nicht nur andere „große“ ethische Entscheidungsfragen in den Vordergrund (z. B. freiheitsentziehende Maßnahmen oder auch die in der Corona-Krise hervorgetretenen Dilemmata zwischen dem Imperativ der „Hygiene“ und den Rechten auf Teilhabe und Freiheit). Es werden darüber hinaus auch noch mehr alltagsethische Fragen relevant und es kommt zu einer gewissen Verschiebung vom ethischen Entscheidungsnotfall hin zum täglichen „Stil“ und der Entwicklung von kollektiver „Klugheit“ und Kreativität in den täglichen Sorgebeziehungen und der Alltagsgestaltung und den damit verbundenen ethischen Fragen (Dinges und Kittelberger o.J., S. 11; Reitinger und Heimerl 2007; Schuchter und Heller 2013, 2016; Bollig et al. 2016). Ethische Themen sind grundsätzlich sowohl vielfältiger als auch alltäglicher als medizinethische Notfälle. Das macht eben schon die Situation im Pflegeheim deutlich. Sie betreffen etwa das Gelingen oder Scheitern unserer Lebensentwürfe, die Möglichkeit von Selbstachtung und Mitgestaltung, die Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit unserer Handlungen und Erfahrungen, sie reflektieren Gefühle und Beziehungen und allgemein die Bedingungen und Widersprüche eines guten Lebens. An dieser Stelle kann und muss durchaus gefragt werden, ob linear anmutende Übertragungen der klinischen Ethik ins Pflegeheim (so aus unserer Sicht etwa Bockenheimer-Lucius et al. 2012; und auch Steinkamp und Gordijn 2010) aufgrund eines Mangels an „Organisationsreflexion“ nicht einen Kategorienfehler begehen.

Als Beispiel sei das einflussreiche klinisch-ethische Interaktionsmodell von Steinkamp und Gordijn angeführt. Es beansprucht, „ethische Probleme der Patientenbehandlung […] sowie ethische Fragen der Organisation Krankenhaus und Pflegeheim als Ganzes gleichermaßen“ zu berücksichtigen (Steinkamp und Gordijn 2010, S. 21). Die „Nimwegener Methode“ zur Strukturierung multidisziplinärer ethischer Fallbesprechungen wurde explizit für die Klinik entwickelt (Steinkamp und Gordijn 2010, S. 308) und ab der zweiten Auflage 2005 auch für Pflegeeinrichtungen empfohlen, was durch eine Erweiterung des Buchtitels um „Pflegeeinrichtungen“ angezeigt wird. Es bleibt aber bei einer bloßen Benennung von Pflegeheimen ohne weitere organisationsspezifische Differenzierung. Das klinische Modell und seine Perspektive werden in einer optimistischen Abstraktionsdynamik in Pflegekontexte hineinreklamiert. Ein augenfälliges Indiz ist, dass fast durchgehend von „Patienten“ gesprochen wird. Die Verknüpfung klinisch-ethischer mit organisationsethischen Fragen verbleibt unter der Vorrangstellung einer medizinisch-berufsethischen Dominanz gegenüber „auch ethisch relevanten Fragen“ des institutionellen Kontextes (Steinkamp und Gordijn 2010, S. 164), die „an ein Gremium“ zu delegieren seien (Steinkamp und Gordijn 2010, S. 149). Beiden Verknüpfungen, derjenigen von Krankenhaus und Pflegeeinrichtung und der von klinischer Ethik und Organisationsethik, liegt eine unreflektierte Vorstellung von Organisation und ein Ausblenden organisationslogischer und organisationskultureller Differenzierungen in ihrer jeweiligen wechselseitigen Prägung praktisch-ethischer Auseinandersetzungen und Diskurse zugrunde (vgl. die detaillierte Analyse und Kritik bei Krobath und Heller 2010b).

In einem jeweils anderen Organisationskontext verschiebt sich nicht nur der Fokus ethischen Fragens, sondern es verändern sich auch die vorrangigen professionellen Perspektiven z. B. von der Medizin zur Pflege (vgl. Kohlen 2009), die sich wiederum erweitern kann, wenn Betroffene oder Angehörige in diese Fragedynamik einbezogen werden. Im Kontinuum der Pflege und Betreuung, im Fluss des Erlebens von körperlichen und psychischen Anstrengungen, von Abschiedsschmerz und Trauer, werden „Entscheidungen“ nicht unbedingt als solche erlebt oder „gerahmt“. Beispielsweise zeigen Wegleitner und Schumann (2010) auf, dass, während etwa Vertreter und Vertreterinnen der Berufsgruppen der Medizin und der Pflege im Betreuungsverlauf punktuelle Entscheidungsknoten entlang ihrer jeweiligen Arbeitsprozesse identifizieren, sich für Angehörige schwierige Sorgesituationen gesamtheitlich als sehr belastend darstellen, ohne diese auf die eine Entscheidungssituation oder das eine Ereignis zurückzuführen. Elliott et al. (2009) weisen entsprechend darauf hin, dass auch Entscheidungsfindungen in Familien im Rahmen narrativer Ethik stattfinden bzw. verstehbar werden – und weniger im Rahmen der Prinzipienethik (die in der klinischen Ethik relevanter ist). Das wirft die Frage auf, welches Verständnis von Ethik bzw. welche Hintergrundtheorie zur „Rahmung“ des ethischen Fragens herangezogen wird (vgl. auch z. B. Fiester 2015) – eben aufgrund des Organisationskontextes, der spezifischen „Machtverhältnisse“ der Thematisierung usw. Ethische Verständigungen mit Angehörigen können adäquater gestaltet werden, wenn die narrativen Sprachfiguren der Betroffenen aufgenommen werden und beispielsweise im Sinne der Care-Ethik und weniger von einer abstrakteren Prinzipienethik her prozeduralisiert werden. Diese Hinweise seien hier nur als Fragen festgehalten und es gibt dazu natürlich auch kleinere diskursive Bewegungen im Feld (Es lässt sich etwa beobachten, dass care-ethische Ansätze zumindest vermehrt in Betracht gezogen werden, etwa Porz 2016; für eine systematische Auseinandersetzung sei wiederum verwiesen auf Schuchter 2016, S. 267–370).

Aus diesen Andeutungen möge für die vorliegende Gedankenentwicklung festgehalten werden: Es ist sinnvoll mehr Aufmerksamkeit dafür aufzubringen, wie ethische Fragen und Wahrnehmungen in unterschiedlichen Organisationen unterschiedliche Formen annehmen – und dass deshalb auch vielfältigere Formen von Ethikprozessen etabliert werden müssten. Ethik in unterschiedlichen Organisationen und die Organisation von Ethikprozessen bilden letztlich ein (zu) wenig thematisiertes Spannungsfeld und brauchen eine multiperspektivische Betrachtungsweise. Denn Organisationen, nicht nur im Gesundheitsbereich, sind mächtige Akteurinnen und Brennpunkte moralischer Konflikte (Ortmann 2010, S. 9–25), in ihnen findet die Suche nach einem guten Leben komplexe und im Grunde vielfältige Formen (Vossenkuhl 2006, S. 16). Deshalb soll in einem nächsten Schritt einem angemessenen Verständnis von „Organisation“ nachgegangen und die Genese von Organisationsethik (hin zu einem vorgeschlagenen Verständnis) in groben Zügen rekonstruiert werden.

Ein systemtheoretisches Verständnis von Organisationen

Mit dem Organisationsbegriff werden oft Vorstellungen verbunden, wonach Organisationen entweder ein (harmonierender bzw. kranker) Organismus oder aber eine auf Betriebsziele ausgerichtete Maschine zur Optimierung von Zweck-Mittel-Relationen (Effizienz, Effektivität) seien. Diese positivistischen Vorstellungen erschweren ein gerade für die ethische Auseinandersetzung angemessenes Verständnis von Organisation.

Eine Organisation soll hier im Anschluss an Niklas Luhmann (2000) verstanden werden als soziales System, das sich (anders als Interaktionen) nicht allein auf die Kommunikation unter Anwesenden stützt, sondern seine Funktion und seine Leistungen (Koordination von Prozessen und Projekten zur Entwicklung, Evaluation und Verbesserung von Produkten bzw. Dienstleistungen) durch die Kommunikation von Entscheidungen unter (abwesenden) Mitgliedern erfüllt. Entschieden werden Regeln der Mitgliedschaft („Stellen“, „Arbeitsverträge“), der Programmgestaltung (strategische „Ziel-Fokussierung“, „Zweck-Mittel-Relationen“, „Angebote“) und für Kommunikationswege („Hierarchie“, „Organigramm“). So entstehen Routinen, die Zielerreichung, Ressourcenschonung und Motivation der Mitarbeiter*innen erwarten lassen und zugleich immer wieder auch verfehlen. Jede Organisation kann multiperspektivisch beschrieben werden als nicht-triviale Maschine (Von Foerster 1997) mit formalen Elementen (Personal, Programme, Management), mit informellen Prozessen (implizite Regeln) und mit meist beschönigenden Selbstbeschreibungen. Aus diesen z. T. widersprüchlichen Beobachtungsperspektiven lassen sich Strukturen von Kulturen unterscheiden. Eine Organisation kann Interessenkonflikte nicht beseitigen, aber ihre Bearbeitung in entlastenden Routinen kanalisieren.

Das systemtheoretische Verständnis kann hier nicht vertieft werden. Als zentrale Begriffe sind für das Folgende jedoch noch „Differenz“ und „Prozess“ zu erwähnen. Die zentrale Differenz eines sozialen Systems ist die zu seiner Umwelt und die Frage ist, wie eine Organisation diese Differenz herstellt. Für das Begreifen von Organisationen ist es weniger hilfreich, sie als Entitäten zu sehen, sondern sie in ihrem Umgang, ihrem Procedere mit der sie prägenden Systemdifferenz zu beobachten (vgl. grundlegend z. B. Wimmer et al. 2009).

Ursprünge der Organisationsethik

Dieser systemtheoretisch informierte Organisationsbegriff steht in deutlichem Kontrast zu einer gängigen Vorstellung von Organisation in Ökonomie und Wirtschaftsethik. Die dort üblichen Maschinenmodelle prägen zunächst auch das Verständnis von Unternehmensethik als „Organisationsethik“: Die Bezeichnung ‚organizational ethics‘ bildete sich in den USA in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Disziplin ‚business ethics‘ heraus (Lozano 2000, S. 18–20), als Resonanzphänomen auf die Dynamik der kapitalistischen und neoliberalen Marktentwicklung, die sich in nahezu alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens übersetzt. Philosophen, Ethikerinnen und Theologen brachten verstärkt Fragen nach dem moralischen Status von Organisationen und ihrer sozialen Verantwortung in den ökonomischen Diskurs ein. Mitte der 80er-Jahre konsolidierte sich ‚business ethics‘ als eine aus der Betriebswirtschaft ausdifferenzierte Fachrichtung (De George 1987). Der Wallstreet-Skandal 1987 führte zur Förderung von Forschungsprogrammen zu ‚business ethics‘ (Marcoux 2008).

Die Rede von ‚organizational ethics‘ begleitete diese Entwicklung von Anfang an (vgl. Golembiewski 1989). Die praktische Ausrichtung auf z. B. codes of conduct, ethical programs und corporate social responsibility zeigt eine Tendenz, Verhaltensregeln zur Vermeidung moralisch unerwünschten und vor allem gesetzeswidrigen Verhaltens zu etablieren (vgl. z. B. Ferrell 2005, S. 4).

Organisationsethik im Gesundheitssystem

Parallel zur Etablierung der ‚business ethics‘ beginnt sich der biomedizinethische Diskurs in den USA zu entwickeln. Er prägt den health care-Diskurs mit seinen ethischen Kriterien, die aber angesichts der Haftungsfragen in amerikanischen Krankenhäusern zu kurz griffen. Hier kam es unter dem Einfluss der ‚business ethics‘ zu einem breiten organisationsethischen Diskurs und zur verpflichtenden Einführung von ‚organizational ethics‘-Programmen in den Krankenhäusern (Spencer et al. 2000).

Ab Ende der 90er-Jahre zeigte der Ansatz der ‚organizational ethics in health care‘ starke Wirkungen auf Theorie und Praxis europäischer Gesundheitssysteme und führte zur Einführung der bekannt gewordenen klinischen Ethikkomitees in Krankenhäusern (Frewer et al. 2008), auch mit der Intention, abstrakte, idealisierende Leitbilder in den spannungsvollen Alltag, zunächst von Krankenhäusern, später auch von stationären Langzeitpflegeeinrichtungen zu übersetzen. Diese Komitees werden als eine Erweiterung klinischer Ethik angesehen, die sich häufig noch vor allem auf das Arzt-Patienten-Verhältnis konzentrieren. Klinische Organisationsethik sieht ärztliches Handeln jedoch darüber hinaus in die komplexe Organisation Krankenhaus eingebettet und fragt daher nach übergeordneten Strukturen der Ethik in dieser Organisationsform.

Angesichts der Fragilität, der Unsicherheiten und Ambivalenzen des Lebens, wie sie in Organisationen des Gesundheitssystems täglich erfahren werden, wächst das Bedürfnis nach Verständigung, nach miteinander ausgehandelten Positionierungen und letztlich zu verantwortenden Entscheidungen. In dieser Spannung zwischen routinisiertem Alltag und reflektierender Unterbrechung, zwischen moralischer Inspiration und normativer Indoktrination bewegt sich Organisationsethik. Dienstleistungen mit dem Ethik-Etikett sind permanent dem Risiko ausgesetzt, Ethik zu instrumentalisieren. Organisationsethik als Kompetenz, die Fähigkeit und Verantwortung zur Selbstmitteilung in existentiellen Fragen zu stärken und dazu auch strukturell an geeigneten Räumen und Regeln sowie kulturell an förderlichen Rahmenbedingungen mitarbeiten zu können. Die bleibende Spannung zwischen Person und Organisation darf nicht einseitig aufgelöst werden: weder als absolute Autonomie der Person, als ob Menschen unabhängig von Organisationen existieren könnten, noch als Dominanz der Organisationen über alle menschlichen Interessen hinweg. Organisationsethik ist von dem Bemühen gekennzeichnet, die individuelle Autonomie zur Geltung zu bringen und sie in Beziehung zu setzen, zu relationieren. Das erfordert spezielle und angemessene Formen der Organisation von ethischen Verständigungen. So wird die „Autonomiezumutung“ (Heintel 1999, S. 75) an die Personen kollektiv aufgenommen und in Beziehungen und Verfahren prozeduralisiert.

Organisationsethische Lernprozesse

Vor diesem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte orientiert sich unser Ansatz einer Organisationsethik im Gesundheitssystem vor allem an der Entwicklung gemeinsam geteilter Verantwortung mittels der Etablierung organisationaler Lern- und Reflexionsprozesse. Damit versuchen wir, eine Engführung auf einzelne Berufsethiken zu überwinden, zugunsten einer Orientierung an partizipativen Verständigungsprozessen. Um solche in einer Organisation zu etablieren, bedarf es der Organisation und Evaluation gemeinsamer Lernprozesse, die über interdisziplinäre Ansätze hinausgehen, indem sie die Betroffenen selbst in transdisziplinäre Diskurse einbeziehen. Darauf wird in den nächsten zwei Punkten kurz eingegangen, um daraus im nachfolgenden Kapitel entsprechende Fragerichtungen für die organisationale Praxis abzuleiten.

Organisation gemeinsamer Verantwortung

‚Organizational ethics‘ wird als Verantwortungsethik zunächst im Management angesiedelt. Kettner fasst sie als „Querschnittsethik“, in der für Organisationen des Gesundheitswesens drei „moralische Horizonte“ in einer umfassenden Moralperspektive „verschmelzen“:

  1. 1.

    der Horizont der klinischen Ethik,

  2. 2.

    unterschiedliche Professionsethiken (Medizin und Pflege) und

  3. 3.

    unternehmensethische, ökonomische Gesichtspunkte (Kettner 2005, S. 31 f., 37).

Wie kann die Organisation dieser „Horizontverschmelzung“ (vgl. Kettner 2005) gelingen? Organisationen im Gesundheitssystem (etwa Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Versorgungsnetzwerke) sind komplex. Auch das Management kann eine Organisation nicht linear steuern („durchregieren“), sondern jeweils nur durch Kontextbedingungen beeinflussen (Kontextsteuerung durch Partizipation: Rosenbrock und Hartung 2012). Organisationsethik geht davon aus, dass Balancen nicht allein durch behauptete Werte und formalisierte Normen gewonnen werden, sondern erst durch regelmäßige Rückmeldungen (Krainer und Heintel 2010) und gemeinsame Bewertungen der Praxis im rekursiven Vergleich zwischen Selbstbeschreibung und Fremdbeobachtung. Organisationsethik identifiziert Widersprüche und Spannungsfelder, die sich nicht vereindeutigen und auflösen lassen (z. B. zwischen der Orientierung am Wohl und der Autonomie von Patientinnen und einer rational-ökonomischen Logik oder zwischen dem eigenen leitbildhaften Selbstverständnis und erlösgesteuerten Behandlungslogik). Diese Widersprüche betreffen die Organisationen als solche. Sie brauchen daher vor dem Zufall und vor Interventionen durch Macht geschützte Verfahren und Prozeduren des Wahrnehmens und der Reflexion ihrer Auswirkungen auf die Organisation sowie der Verständigung darüber, wie im weiteren damit umgegangen werden könnte.

Dazu scheint uns ein Lernen von und in Organisationen erforderlich, das sich anders vollzieht als das Lernen von Personen, die sich über Bewusstseinsbildung und Gefühlsdifferenzierung weiterentwickeln. Organisationen haben gegenläufig zu Personen keine Gefühle und kein Bewusstsein. Deshalb gewinnen Konzepte des Organisationslernens an Bedeutung. Aus ihnen greifen wir drei Bezugsquellen auf, die aus unserer Sicht bereits organisationsethisch aufgeladen sind.

Organisation von Lernprozessen: Drei Zugänge

Business Ethics

Lozano (2000, S. 12–16) stellt die Macht der Organisationen in den größeren ethischen Bezugsrahmen eines Verantwortungsdenkens, das individuelle und kollektive Akteure einbezieht, im Sinne einer Ethik der Menschlichkeit, die in den organisationalen Prozessen zum Ausdruck kommen soll. Organisationshandlungen werden als Lernprozesse verstanden. Diese sind auf dialogische Settings als gemeinsames Erkunden und Prüfen (inquiry) angewiesen. Zwecke und Ziele des Arbeitens in der Organisation werden nicht nur in ihren operativen Möglichkeiten, sondern auch in ihren moralischen Voraussetzungen und Legitimationen geprüft. „The point then is not a simple exchange, but also a shared rethinking“ (Lozano 2000, S. 163). Es geht um die gemeinsame Vergewisserung dessen, was und wozu etwas getan wird, um die Identität der Organisation. Das setzt ausreichende Spielregeln für autonomes Handeln und Partizipation voraus.

Der Prozessablauf kann unterschiedliche Schritte und Instrumente vorsehen, er ist aber ausdrücklich auf einen narrativen und dialogischen Zuschnitt angewiesen und nicht kompatibel mit dem Vor-Setzen von Werten durch das Management (Lozano 2003, S. 58–59). „In view of all […] we think it is important to bear in mind that a true process of reflective OE fosters learning, which in turn affects fundamental aspects of identity, both personal and corporate“ (Lozano 2010, S. 155). Dazu gehört auch die Frage nach dem Beitrag der Organisationen für die Allgemeinheit (good society). Lozano spricht von einer „organizational citizenship“ (2003, S. 60–61) oder einer „corporate citizenship“ (2010, S. 86–90), die seinen Ansatz in die Nähe einer Wirtschaftsbürgerethik (Ulrich 2008, S. 313–359) rückt.

Organisationspädagogik

Ähnlich versteht Geißler seine Pädagogik der Organisation als eine „handlungspraktisch selbstverpflichtete wie gleichermaßen auch gesellschaftskritisch-ethisch reflektierte“ Bildungstheorie (Geißler 2009, S. 248) und konzipiert ein normatives Identitätslernen sowohl der einzelnen Organisationsmitglieder als auch der Organisationen unter Einbezug gesellschaftsrelevanter Fragen. Er modelliert den praktischen ethischen Diskurs als moralisches Organisationslernen und bereichert die für verfahrensethische Ansätze unerledigte Frage nach den materialethischen Bezügen und Implikationen mit dem „normativen Referenzpunkt“ (Geißler 2009, S. 246) der helfenden Beziehung und des wertschätzenden Dialogs (Geißler 2000).

Prozessethik

In ihrem Ansatz der „Prozessethik“ sehen Krainer und Heintel (2010) den einzelnen Menschen in seiner Gewissensautonomie in der modernen Gesellschaft konstitutiv dem Risiko der Überforderung durch eine permanente „Autonomiezumutung“ (Heintel 1999, S. 75) ausgesetzt. Viele Fragen können aufgrund der Komplexität der hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft von Einzelnen gar nicht mehr entschieden werden. Die Ethik erlaubt keine Ganzheitlichkeit mehr. Individuelle Autonomie bleibt gegenüber Systemen wirkungslos. Hier bringt der Ansatz der Prozessethik die Gedankenfigur der „kollektiven Autonomie“ ins Spiel. Dazu bedarf es in Organisationen der Setzung einer „doppelten Differenz“ (Krainer und Heintel 2010, S. 68): zuerst die gemeinsame, organisierte Anstrengung, die Alltagsroutine praktisch zu verlassen, und im nächsten Schritt die Suche nach einer reflexiven und kollektiven Distanz zur gelebten Alltagspraxis. Diese zweite Differenz besteht in der Verständigung auf eine gemeinsame Sichtweise der Probleme und Aufgaben: Worum geht es hier? Was in der Diskursethik von Habermas noch abstrakt als „ideale Sprechsituation“ (Habermas 1984 [1973], S. 179–181) postuliert wird, konkretisiert sich in der Prozessethik dort, wo im System zunächst ein Unterschied zur Alltagsroutine markiert wird – durch Innehalten, Unterbrechung und Entschleunigung. „Im selbstreflexiven Akt der Praxisdistanzierung ist immer die Frage nach dem Guten versteckt“ (Heintel 2003, S. 37). Prozessethik wird somit beschrieben als „organisiertes Differenzgeschehen, immer darauf bedacht, die Freiheit, das Wollen-Können aus ihren Selbstobjektivierungen wieder zurückzuholen“ (Krainer und Heintel 2010, S. 58).

Ethik organisieren als praktische Kompetenz

Organisationsethik hat den Charakter von Projekten und Entwicklungsprozessen und ist damit auf organisationales Lernen angewiesen. Drei Orientierungen scheinen für das Gelingen organisationsethischer Differenzsetzungen von besonderer Relevanz. Sie betreffen:

  1. a)

    die Orte der Differenzsetzung und Reflexion,

  2. b)

    die (implizite) ethische Hintergrundtheorie, innerhalb derer die offene Frage nach dem „Guten“ schließlich konkretisiert wird und

  3. c)

    die Reflexionsarchitektur in der Organisation insgesamt.

Orte der Reflexion sichern – und Partizipation reflektieren und ermöglichen

Ob ein bestimmtes Modell des ethischen Gesprächs in einer Organisation in Form von Geschäftsführungsklausuren, Qualitätsentwicklungsprojekten, Stakeholderdialogen, Dienstübergaben, Befundbesprechungen oder in anderen Formen gestaltet wird: Es kommt darauf an, solche (in der Regel bereits etablierten) Gelegenheiten als Möglichkeiten der Reflexion ethischer Fragen zu nutzen, zu gestalten und gemeinsam zu evaluieren. All diese Settings können selbst als „ethische Arrangements“ (Heintel 2003, S. 33) interpretiert werden, die eine organisationsethische Praxis ermöglichen, vorausgesetzt, dass einer entsprechenden Tiefe des Fragens, des Zuhörens, des Erzählens und des Aushandelns von Standpunkten und Entscheidungen Raum gegeben wird.

Für die organisationsethische Selbstbefragung hinsichtlich der Qualität der Strukturen und Prozesse für Ethik, können folgende Fragen eine Hilfe sein:

  • Werden ethische Fragen (auf allen Ebenen und in allen Hinsichten der Organisation) in bereits etablierten Kommunikationssettings gestellt? Oder werden ethische Fragen („nur“) als Spezialfragen in Spezialzuständigkeiten an eigene Reflexionsorte delegiert? Wenn ja, wie erreichen die Fragen und Ergebnisse der delegierten Ethik wieder die Gesamtorganisation?

  • Gibt es explizite Regeln der Thematisierung? Wer darf fragen, kritisieren, sprechen – wer nicht?

  • Wer müsste und sollte beteiligt werden und warum? Wem wird wie Beteiligung ermöglicht? (Warum sind z. B. in bestimmten ethischen Arrangements die Betroffenen, ihre An- und Zugehörigen nicht beteiligt?)

Hintergrundtheorien und moralische Intuitionen thematisieren und strukturell aufnehmen

Die ethische Frage nach dem „Guten“ eröffnet den weiten Raum der Differenzsetzung. Die Kunst besteht darin, in der Konkretisierung diese Weite ethischen Fragens zu erhalten – häufig findet hingegen eine Verengung statt, weil unter „Ethik“ nur einseitig bestimmte Typen von Fragen verstanden werden. Fragen des „guten Lebens“ und der „Lebenskunst“ (Hadot 2005) werden gegenüber moralischen Fragen in der Regel ausgeblendet. Es sind Fragen danach, wie (kollektive) Klugheit in zentralen Lebensfragen entwickelt werden kann. Es wird also darauf ankommen, die Weite der Frage nach dem Guten nicht einseitig rasch wieder zu beschränken, sondern verschiedenen Fragerichtungen Raum und Zeit zu geben (Schuchter und Heller 2018; Schuchter et al. 2018). Auch die Logiken und Leitdifferenzen der jeweiligen Organisation haben hier einen Einfluss auf das Wie und Was des Fragens (z. B. im Vergleich von Krankenhaus und Pflegeheim). Auch eine voreilige und scheinbar allzu selbstverständliche Einengung von ethischer Reflexion auf Entscheidungen und Lösungen empfiehlt sich nicht, weil dadurch Räume für Verständigung und („philosophische“) Vertiefung fehlen.

Für die organisationsethische Selbstbefragung sehen wir in dieser Hinsicht folgende Fragen:

  • Sind z. B. die Ethik-Schulungen, die Leitfäden für ethische Gespräche usw. hinlänglich offen oder vielfältig, um ethische Fragen in ihrer ganzen Vielfalt aufzunehmen (große und kleine Fragen, typische und ungewöhnliche usw.)?

  • Können ethische Beunruhigungen, Gefühle von jedem und jeder thematisiert werden in großer Offenheit? Werden Mitarbeiter*innen, Patient*innen, Angehörige usw. dazu ermutigt, Gefühlen Ausdruck zu verleihen wie „Hier stimmt etwas nicht!“ (Vgl. dazu Weick und Roberts 1993) oder „Das bewegt mich …“? Wie werden beteiligte Personen ermutigt, auch angstbesetzte Themen anzusprechen?

  • Welche Intuitionen (z. B. „So kann man doch mit Menschen nicht umgehen!“, „Ich weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll“, „Das ist doch ungerecht!“ etc.) werden wie thematisiert und finden welchen Ort und welchen Prozess der ethischen Bearbeitung?

Vielfältige Arrangements und Architekturen der Reflexion verknüpfen

Schließlich stellt sich die Frage nach Verknüpfung dieser Reflexionsorte. Krainer und Heintel (2010, S. 215 f.) sprechen – entlang der Hierarchielinien – von „Delegationssystemen“ von oben nach unten und „Feedbackschleifen“ von unten nach oben. Horizontal und in die Umwelten der Organisation stellt sich die Frage, wie ethisches Wissen in der Entstehung und als Ergebnis jeweils geteilt und kommuniziert wird. Das Gesamtbild der verknüpften Reflexionsräume ergibt gewissermaßen die ethische „Reflexionsarchitektur“ einer Organisation. Entsprechende Fragen wären:

  • Wie sieht die ethische Reflexionsarchitektur in unserer Organisation aus?

  • Sind Settings und Informationen verknüpfbar: über Hierarchieebenen, zwischen Organisationseinheiten, zu relevanten Umwelten?

Kritische Organisationsethik

Ethikformate in Organisationen werden zunehmend komplexer: Sie brauchen strukturelle Verankerung, ausdifferenzierte und sichtbare Organisationsformen, Zuständigkeiten und Rollen, prozedurale und partizipative Verfahren der Beobachtung ihrer Wirkungsmöglichkeiten. Sie sind einerseits auf entsprechende Organisationsformen angewiesen, um wirksam werden zu können. Gleichzeitig müssen sie aber auch in der Lage sein, kontinuierlich Reflexionsformen zu etablieren, die ihre eigene Infragestellung durch die Entwicklung von neuen Systemdifferenzen ermöglichen. Nur so können sie sich vor einer fragwürdigen Instrumentalisierung zur „Optimierung“ einer Organisation schützen. Es braucht eine (selbst-)kritische Organisationsethik, die die Paradoxien der Organisation von Ethik reflektiert und sich zu ihrer eigenen Systemwerdung in Differenz setzt (Krobath 2010, S. 577; Schmidt 2017, S. 335 ff.).

Die im vorigen Abschnitt genannten praktischen Hinweise und Fragen mögen einfach erscheinen, stellen aber in der praktischen Umsetzung eine anspruchsvolle Intervention dar. Sie sind gewissermaßen das Grundinventar dafür, dass die Organisation als Organisation zu sich in kritische Differenz zu treten vermag.

Eine prozessethisch radikalisierte Organisationsethik schreibt keine Normenkataloge vor und bleibt skeptisch gegenüber Standardisierungen von Ethikprozessen. Die Idee des Guten wird nicht als „moralisches Korsett“ verstanden, sondern als „ein Strukturprinzip und eine regulative Idee für die Möglichkeit und Denkbarkeit des guten Lebens“ (Vossenkuhl 2006, S. 243). Organisationsethik geht es um den Sinn der Organisation und um die Qualität ihrer Selbstentwicklung, auch durch Entscheidungen. Die „einfache“, aber immer wieder zu erneuernde Grundfrage, die aus- und durchgehalten und ethikproduktiv organisiert und evaluiert werden muss, kann so formuliert werden: Halten wir das, was geschieht, wie wir uns eingerichtet haben, für gut? Wollen wir es so oder anders? (vgl. Krainer und Heintel 2010, S. 38, 63, 171).