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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter April 18, 2023

„Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden“. Der Leib als Entstehungsort der Sprache

  • Marina Silenzi EMAIL logo
From the journal Nietzsche-Studien

Abstract

“Older than Language Is the Mimicking of Gestures”: The Body as the Origin of Language. Nietzsche’s early philosophical ideas about language and its origin occupy a central place in scholarly discussions of his work. In order to examine Nietzsche’s interpretation of the constitution of human language, this article focuses not only on his early writings, but also on the first volume of Human, All Too Human as well as on his later period, in particular his work in 1887 and 1888. The central claim of this article is that Nietzsche begins to view the body, with its gestures and movements, as the site of origin for instinctive unconscious language and the subsequent emergence of conceptual language. Already in 1872, and with the influence of contemporary scientific ideas, he begins to conceive the movement and gesture of the human body as the foundation for the origin of language. Strengthened in Human, All Too Human, this idea appears again in his later writings in 1887, when Nietzsche connects it to Charles Féré’s theories of “psychomotor induction” and “mental suggestion.” Finally, it is the Dionysian artist of 1888 who enjoys par excellence the capacity for suggestion, affect and immediate representation, and who thus becomes the master of communication.

Einleitung

Das Hauptanliegen des Beitrags ist es, die Rolle des Leibes und seiner psychophysiologischen Prozesse bei der Entstehung der Sprache zu analysieren und zu vergleichen, ausgehend vom frühen Nietzsche über Menschliches, Allzumenschliches I (1878) bis hin zur Auseinandersetzung mit diesem Thema in Nietzsches Spätwerk. Meine Haupt- und Leitfrage lautet: Wie konstituiert der Leib die Sprache? Der Schwerpunkt liegt dabei nicht auf der Entwicklung der begrifflichen, bewussten Sprache und damit des bewussten Denkens, sondern auf den Theorien, die Nietzsche in seiner Philosophie über die unbewussten, vor-begrifflichen leiblichen Prozesse und ihren Zusammenhang mit der Entstehung der Sprache aufstellt. Er befasst sich mit dem „Ursprung der Sprache“ vor allem in seinem Frühwerk. Bereits 1869 findet sich in seinen Notizen für die Vorlesungen über lateinische Grammatik (1869/70) ein einleitender Text, der diesen Titel trägt.[1] Auch wenig später, nämlich in den vorbereitenden Schriften zu Die Geburt der Tragödie (1872) wie Die dionysische Weltanschauung (1870) und im Nachlass der Jahre 1871/72, skizziert und artikuliert Nietzsche verschiedene Überlegungen zu diesem Thema. In Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) (re)formuliert er einige seiner bereits vorher ausgearbeiteten Gedanken und bringt sie mit neuen Beobachtungen zum Leib als Entstehungsort der Sprache in einen Zusammenhang. Gerade auf diese frühe Zeit konzentrieren sich die meisten Analysen, die in der Nietzsche-Forschung zum Ursprung der Sprache und den leiblichen Vorgängen der Wahrnehmung vorgelegt wurden. Autoren wie Karl Schlechta, Claudia Crawford, Andrea Orsucci, Christian J. Emden, Sören Reuter u. a. setzen sich in ihren Beiträgen mit jener Periode auseinander und gehen dabei auf Nietzsches Verständnis des Organismus, der instinktiven Sprache, der unbewussten Schlüsse, der Metapher als Trope, der Hierarchie der Musik als Sprache gegenüber der Gebärden- und Bildsprache usw. ein.[2]

In diesem Beitrag liegt der Schwerpunkt, wie schon gesagt, nicht nur auf dem frühen Nietzsche, sondern es werden auch einige Aphorismen aus Menschliches, Allzumenschliches I eine Rolle spielen. Den Abschluss bildet eine ausführliche Analyse der Thematik beim späteren Nietzsche. Fokus der Untersuchung sind durchweg der Leib und seine internen und externen, instinktiv-unbewussten Prozesse bei der Erzeugung von Sprache – Themen, die im Kontext der Nietzsche-Forschung bisher nur wenig beachtet wurden. Die bewusste Sprache und die ihr zugrunde liegenden metaphysischen Kategorien werden hier hingegen nur am Rande thematisiert, da ihnen in der Forschung bereits ausführliche Untersuchungen gewidmet wurden. Die folgenden Thesen werden hier vertreten und begründet:

  1. Die Sprache hat ihren Ursprung in der Bewegung und den Gebärden des Leibes. Diese Theorie tritt bei Nietzsche erstmals in einer Gruppe nachgelassener Aufzeichnungen von 1872 auf, wird in Ueber Wahrheit und Lüge und in MA I 216 vertieft und in einigen Aufzeichnungen von 1888 sowie in GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 10 vervollständigt.

  2. 1888 greift Nietzsche unter dem unbestrittenen Einfluss der Theorien von Charles Féré über die psychomotorische Induktion und die mentale Suggestion die Beziehung zwischen den leiblichen Bewegungen und Gebärden und der Sprache auf.

  3. Zwischen den Jahren 1872/73, 1878 und 1888 lassen sich in Nietzsches Theorie über den Ursprung der Sprache eine Reihe grundlegender Kontinuitäten aufweisen. Das bedeutet, dass der spätere Nietzsche in Férés Werk nur eine wissenschaftliche Rechtfertigung seiner eigenen, bereits viele Jahre zuvor entwickelten Theorien findet.

  4. Wegen seiner außergewöhnlichen Fähigkeit zur Suggestion, zur Wahrnehmung und zur unmittelbaren und unausweichlichen Reaktion wird der dionysische Künstler von 1888 zum Meister der Mitteilung. Der Vorschlag, leibliche Bewegungen und Gebärden praktisch durch Nietzsches gesamte Philosophie hindurch als Grundlage der Sprache anzusehen und dies durch eine Analyse nachgelassener Aufzeichnungen der Jahre 1887/88 zu begründen, die in diesem Kontext bisher nicht bearbeitet worden sind, stellt einen neuen Beitrag zur Nietzsche-Forschung dar. Zu den innovativen Aspekten des Beitrags zählt ferner, dass die Prozesse der instinktiv-unbewussten Spracherzeugung in engem Zusammenhang mit den Theorien Férés wie auch mit der Figur des dionysischen Künstlers erörtert werden.

Frühe Ansätze zur Sprache und zum Leib: Der Beginn der Wende im Jahr 1872

Trotz der im Kontext der Nietzsche-Forschung allgemein anerkannten verschiedenen Perioden seiner Philosophie und der vielfältigen Einflüsse, die auf sie einwirken, gibt es zwei Postulate, die Nietzsche meines Erachtens in seinem gesamten Werk ausarbeitet und beibehält, was den Ursprung der Sprache und ihre allgemeine Charakterisierung betrifft: Für den Ursprung der Sprache sind instinktive Prozesse verantwortlich; das bewusste Denken ist wiederum das Produkt der Sprache und ihr abträglich. Diese Postulate werden bereits im einleitenden Text der Vorlesungen über lateinische Grammatik von 1869/70 unter der Überschrift „Vom Ursprung der Sprache“ angedeutet:

Die Sprache ist weder das bewußte Werk einzelner noch einer Mehrheit. 1. Jedes bewußte Denken erst mit Hülfe der Sprache möglich […]. 2. Die Entwicklung des bewußten Denkens ist der Sprache schädlich […]. Es bleibt also nur übrig, die Sprache als Erzeugniß des Instinktes zu betrachten, wie bei den Bienen (Vorlesungen über lateinische Grammatik, KGW II 2.185 f.).

Schon hier zeigt sich, dass Nietzsche eine instinktive, unbewusste Art der Sprache vom bewussten Sprachgebrauch, auf dem das begriffliche Denken aufbaut, unterscheidet und die instinktive Sprache zur Grundlage sowohl der bewussten Sprache als auch des bewussten Denkens macht.[3]

Die Ambivalenz zwischen der Akzeptanz und der Ablehnung von Eduard von Hartmanns Theorien ist bekannt.[4] In der gerade zitierten nachgelassenen Aufzeichnung ist ein gewisser Einfluss seiner Philosophie des Unbewussten (1869) zu erkennen, aber in einer anderen Aufzeichnung aus demselben Jahr übt Nietzsche Kritik an ihr. In diesem Buch behauptet Hartmann, dass Gefühle nur insofern mitteilbar seien, als sie in Gedanken übersetzt werden könnten.[5] Darauf antwortet Nietzsche mit einer Frage, in der seine eigene Ironie zu hören ist: „Wirklich?“ (Nachlass 1869/70, 3[18], KSA 7.65), denn es folgt eine unverblümte Antwort, die einfach lautet: „Geberden und Ton!“[6] Die Gebärdensprache besteht aus allgemeingültigen Symbolen, die aus Reflexbewegungen entstehen.[7] Das Auge erfasst jene Reflexbewegungen, die instinktiven Wahrnehmungsprozesse des Leibes ordnen sie ein und erschließen ihre Bedeutung. Ähnlich verhält es sich mit Tönen: Das Ohr erfasst sie und versteht sofort ihre universelle Symbolik.[8] Sowohl der Ton als auch die Gebärden ermöglichen es dem Menschen, durch eine Symbolik, die innerhalb der Gattung allgemein etabliert ist, unmittelbar mitzuteilen, was auf der unbewussten leiblichen Ebene gehört und erfasst wird, seien es Affekte, Gefühle oder Begierden. Die unbewusste Sprache, auf die sich Nietzsche in der Aufzeichnung zum „Ursprung der Sprache“ bezieht, besteht also aus zwei Mitteilungsarten: der Sprache der Gebärde und der Sprache des Tons.

Nietzsche bleibt einigen metaphysischen Grundsätzen aus den Anfangsjahren seiner Philosophie treu, wenn er vorschlägt, die zwei Arten der instinktiven Mitteilung nach der „Wirklichkeitsebene“ zu klassifizieren, was bedeutet, sie einerseits dem Wesen, andererseits der Erscheinung zuzuordnen. Innerhalb der instinktiven Körpersprache gibt es eine interne Hierarchie der Gehalte, die sie auszudrücken vermag. Der Ton drückt das Wesen der Dinge aus, während die begleitenden Gebärden nur die Erscheinung in körperlichen Bildern darstellen: „Aus dem Schrei mit der begleitenden Geberde ist die Sprache entstanden“ (Nachlass 1869/70, 3[15], KSA 7.63). Für den Nietzsche dieser Zeit ist also die Musik das einzige Mitteilungszeichen, das den Urzustand der Wirklichkeit ausdrücken kann.[9] Sie ist „eine Rückkehr zur Natur“ (Nachlass 1869/70, 3[16], KSA 7.64) und sie ermöglicht den Ausdruck und die Erzeugung „einer höheren Erregung“, die dem Wesen der Wirklichkeit entspricht und die Auflösung der Individualität verlangt. Die Musik ermöglicht es dem Urzustand, sich ohne Einschränkungen auszudrücken, was bedeutet, dass sich das „Gattungswesen“ (Nachlass 1869/70, 3[21], KSA 7.66) manifestiert. Fordert sie also den Bruch und das Verlassen der individuellen Ebene in der erreichten Gemeinschaft, so sind die Gebärden im Gegenteil der partikuläre, individuelle Ausdruck eines jeden Leibes, auch wenn sie in jedem Fall einer allgemein etablierten und verstandenen symbolischen Sprache zugehören.[10] Künstlerisch gesehen ist die mimische Sprache des Leibes also die visuelle Darstellung der Musik und des Tones durch dem Rhythmus folgende Bewegungen. Diese Veräußerung ist im Hinblick auf das Wesen der Musik aber ein nur oberflächlicher Ausdruck. Und gerade weil der Leib die Äußerung des Urzustandes symbolisch begleitet, ist die Musik selbst der Kern, der die Sprache der Bewegungen, der Gebärden leitet und bestimmt.[11]

Diese Idee findet sich auch in den vorbereitenden Schriften für die Geburt der Tragödie, insbesondere in der Dionysischen Weltanschauung. Das Gefühl, das fortan als „Komplex von unbewußten Vorstellungen und Willenszuständen“ (DW 4, KSA 1.572) verstanden wird, ist mit den Mitteln der begrifflichen Sprache praktisch nicht kommunizierbar, denn die unbewusste affektive Ebene, auf der sich Lust, Unlust oder Schmerz auf intimste, instinktive Weise abspielen, ist für kognitive Modi des bewussten Typs nicht fassbar und nicht auf diese reduzierbar. Nietzsche wiederholt, dass beide Kommunikationsweisen ohne Bewusstsein, aber instinktiv „zweckmäßig“ stattfinden. Die vom Auge wahrgenommen Symbole der Gebärdensprache sind Abbilder, wobei die Wahrnehmung „sofort den Zustand [vermittelt], der die Geberde hervorbrachte“. Hier verknüpft Nietzsche, wie so oft in seiner Philosophie, die kognitiven Vorgänge des Leibes mit den kreativen Prozessen der Kunst. Die körperlichen Bewegungen sind zwar ein symbolischer Ausdruck der Affekte, aber sie sind, wie Nietzsche bereits deutlich gemacht hat, eine „begleitende[] Vorstellung[]“ (DW 4, KSA 1.574), nämlich begleitende Symbole des kommunikativen Kerns der Affekte, also des Tones. Gerade weil die Gebärdensprache und die Tonsprache die beiden Möglichkeiten sind, die unbewusste affektive Dimension symbolisch auszudrücken, ist es für Nietzsche konsequent, die Bedeutung beider Mitteilungsarten in Bezug auf das dionysische Kunstwerk zu erklären. Im Frühlingsdithyrambus – das gilt auch für den Chor der Tragödie – erreicht der Mensch die unmittelbarste und, man könnte sagen, aufrichtigste Kommunikation zwischen „Seinesgleichen“ (DW 4, KSA 1.577; GT 2, KSA 1.34), die in das universelle symbolische Verständnis eingetaucht sind: Es sind ausschließlich die „dithyrambische[n] Dionysusdiener“ (GT 2, KSA 1.34), die diesen Naturtrieb fassen und einander verstehen. Nietzsche bekräftigt damit einmal mehr die Idee, dass es der Gattungsmensch ist, der kommuniziert, und nicht mehr das Individuum,[12] denn dionysische Ausdrucksformen bedeuten die Zerstörung der Individuation.[13] Musik reicht dem vom Ursprünglichen zerrissenen Menschen nicht mehr aus, um die von ihm erlebte affektive Bandbreite auszudrücken, und so entsteht der Tanz als eine vom Ton getriebene Reflexbewegung als unmittelbarste Manifestation des Naturkerns: „Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde“ (GT 2, KSA 1.33 f.). Die Gebärden nicht nur des Mundes im gesungenen Wort, sondern des ganzen Leibes im Tanz werden durch das erste Symbol der dionysischen Dimension der Wirklichkeit ausgelöst, d. h. durch Musik und Ton.

Dieser Logik folgend, würde die Bewegung des Leibes, der Tanz selbst, den Anstoß durch die Musik unbedingt erfordern. Wenn diese durch den Dithyrambus oder den Chor erweckten Mitteilungsarten im dionysischen Zustand stattfinden, darf man sich fragen, was mit dem dramatischen Schauspieler geschieht, d. h. welche Art von Symbolismus er in der Tragödie schafft. Obwohl bei der Verkörperung der tragischen Helden die Intonation der Sprache und deren Rhythmus sowie die Bewegungen des Leibes anwesend sind, entspricht die Inszenierung des Dramas der apollinischen Dimension der Kunst.[14] Die Bilder erscheinen als „zweite Spiegelung“ (GT 5, KSA 1.44) des Ur-Seins, in der sich der Mensch vor der affektiven Gewalttätigkeit und Widersprüchlichkeit der wahren Wirklichkeit geschützt fühlt. Die Bilder, die die Lyrik als Spiegelbild des Dionysischen schafft, entspringen in ihrem Wesen aus dem Ur-Einen, aber als zweite Repräsentation dieser Wirklichkeit werden sie von den apollinischen Trieben erzeugt. Der Schauspieler, den Nietzsche auch den „instinktiven Dichter Sänger Tänzer“ (DW 3, KSA 1.567) nennt, findet seine Anregung in der dionysischen Dimension der Musik, erscheint aber in der Gestalt des „gespielten dionysischen Menschen.“ Er erreicht die wahre dionysischen Ebene nicht und ist auch nicht wirklich an ihr interessiert, sondern strebt nach dem Schein und repräsentiert damit die vollkommene Vereinigung zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen. In Nietzsches Worten: „er strebt nicht nach der Wahrheit, aber nach Wahrscheinlichkeit. (Symbol, Zeichen der Wahrheit).“ Aus dem bisher Ausgeführten folgt, dass es dem Schauspieler mit seiner Darstellungssprache der zweiten Ebene nicht gelingt, die intimste instinktive Gefühlswelt in der Gemeinschaft der menschlichen Gattung zum Ausdruck zu bringen; mehr noch, er verzichtet darauf, in diese Realität einzudringen. Obwohl der Antrieb von der grundlegenden instinktiven affektiven Ebene ausgeht, versucht der Schauspieler nicht mehr, diese Tiefe so unmittelbar und unbewusst wie möglich auszudrücken, sondern stattdessen diese Mitteilungsarten durch Bilder zu vermitteln.

Dies geschieht in der künstlerischen Dimension, genauer gesagt in der Tragödie. Wie aber bringt Nietzsche die ästhetisch-künstlerische Erklärung in einen Zusammenhang mit der genealogisch-epistemologischen Ebene, auf der die Entwicklung der Ton- und Gebärdensprache erklärt wird? Die Ton- und Musiksprache ist eine direkte Äußerung des Willens überhaupt und daher auch des menschlichen Willens; dabei äußern sich „[d]ie Strebungen des Willens […] als Lust oder Unlust und zeigen darin nur quantitative Verschiedenheit“ (DW 4, KSA 1.572). Nur durch die verschiedenen Töne wird der Grad der Lust oder Unlust auf der affektiven Ebene symbolisiert. Auf diese Weise wird die direkteste Kommunikation der instinktiven Ebene realisiert. Nietzsche geht hier von einem allen Menschen gemeinsamen „Urgrund“ (Nachlass 1871, 12[1], KSA 7.361) affektiver Klänge aus, die mehr oder weniger stark Lust oder Unlust ausdrücken. Der Ton ist also universell für die gesamte menschliche Gattung, und aus ihm entwickeln sich die Gebärden als instinktive visuelle Repräsentationen. Die Spezifizierung der Töne nach den verschiedenen Graden von Lust und Unlust führte dazu, dass der Mund, die Muskeln und die Zunge für die Produktion und die Klangwiedergabe von Vokalen und Konsonanten in einer immer genauer bestimmten Weise positioniert wurden. Obwohl die Bewegungen des Mundes bei der Äußerung von Tönen für Nietzsche zum Arsenal der gestischen Sprache zählen, waren es wiederum die Töne, mit denen Lust oder Unlust bekundet wird, die zur Ausformung solcher Gebärden bei der Artikulation von Worten führten:

Das ganze Bereich des Consonantischen und Vokalischen glauben wir nur unter die Geberdensymbolik rechnen zu dürfen – Consonanten und Vokale sind ohne den vor allem nöthigen fundamentalen Ton nichts als Stellungen der Sprachorgane, kurz Geberden –; sobald wir uns das Wort aus dem Munde des Menschen hervorquellen denken, so erzeugt sich zu allererst die Wurzel des Wortes und das Fundament jener Geberdensymbolik, der Tonuntergrund, der Wiederklang der Lust- und Unlustempfindungen. Wie sich unsre ganze Leiblichkeit zu jener ursprünglichsten Erscheinungsform, dem Willen verhält, so verhält sich das consonantisch-vokalische Wort zu seinem Tonfundamente (Nachlass 1871, 12[1], KSA 7.361 f.).

Dieser Überlegung zufolge leiten sich die Verbindungen zwischen Vokalen und Konsonanten als Gebärden des Gesichts von den Klängen der intimsten Gefühlswelt ab. Der Ton symbolisiert ohne begleitende Vorstellung die verschiedenen Arten von Lust, Unlust oder Schmerz. Die Gesichtsgebärden ergeben sich also aus der Artikulation dieser grundlegenden affektiven Unterschiede. Die Gesten des Leibes begleiten den Ausdruck von Lust und Unlust und charakterisieren visuell die Tonsprache, die den Menschen dazu bringt, diese primitiven Empfindungen visuell vor- und darzustellen, „z. B. wenn wir vom plötzlichen Schreck, vom „Klopfen, Ziehen, Zucken, Stechen Schneiden Beißen Kitzeln“ des Schmerzes reden“ (DW 4, KSA 1.574). Die Gebärden des ganzen Leibes, d. h. sowohl die Bewegungen des Mundes als auch die Reflexbewegungen, die die unmittelbarste affektive Sprache der Tonalität begleiten, entstehen aus letzterer. Nietzsche behauptet, dass „im Allgemeinen […] jeder Geberde ein Ton parallel“ ist (DW 4, KSA 1.575). Die grundlegende unbewusste affektive Dimension besteht aus jenem breiten Spektrum von Formen der Lust und Unlust, die Nietzsche in Bezug auf die Strebungen der Lebewesen und deren Ausdruck durch den Ton definiert.[15] Die visuelle Charakterisierung, die Nietzsche auch „Vorstellung“ der Grundaffekte nennt, leisten die Gebärden bei der Artikulation der Töne sowie der ihnen entsprechende Ausdruck des Leibes in seinen Bewegungen. In der Wiederholung der Leibgebärden, in der Nachahmung der Abbilder, wird der Sinn der Symbole selbst in Verbindung mit einem Klang vorgeprägt. Die Intensität der Gesten des Gesichts und des Leibes ergibt sich aus der Verstärkung des Tons. Auf diese Weise wird eine gemeinsame unbewusste Übereinkunft über den Sinn der Symbole erzielt. Es gibt also zunächst ein „Einverständniß“ (Nachlass 1871/72, 8[29], KSA 7.232) bei der Schaffung der Töne, ein unmittelbares instinktives Erfassen, zu dem ein zweites Einverständnis hinzukommt, denn obwohl die Mitteilung durch Gebärden ebenfalls instinktiv ist, sind diese nur die Abbilder, die das wesentlichste Symbol begleiten. Mit anderen Worten: „das Bild wird erst begriffen, nachdem durch den Ton bereits Einverständniß erzeugt ist.“ Die menschliche Sprache entstand letztlich aus der Vereinigung von Ton und Gebärden, d. h. aus den Funktionen des Ohrs und des Auges, wobei letztere unter die Leistung der ersteren subsumiert werden.

Zu dieser Zeit erweitert Nietzsche seine Forschungen auf die Naturwissenschaft und die Physiologie und vertieft sich in die erkenntnistheoretischen Prozesse der Lebewesen, insbesondere in die Prozesse der menschlichen Wahrnehmung. So stellt er in einer Reihe nachgelassener Aufzeichnungen von 1872 einige Überlegungen zu diesem Thema an, die zusammen mit Ueber Wahrheit und Lüge als Vorläufer der radikalen Veränderung der erkenntnistheoretischen Ordnung des Wortursprungs gedeutet werden können. In der Dionysischen Weltanschauung und der Geburt der Tragödie erklärt er den unbewussten instinktiven Mitteilungsvorgang bis zum Wort (und dann zum Begriff), indem er vom Ton als Grund ausgeht und die begleitenden Bewegungen und Gebärden, wie die Bewegung des Mundes zu der des Leibes, als eine weitere Art der Kommunikation qualifiziert. Dieser ganze Prozess zeigt hauptsächlich, was vom Leib nach außen hin geschieht, d. h. die Artikulation der Sprache und die Art und Weise der Kommunikation in der Gattung.

Im weiter unten zu besprechenden Nachlass sowie in einigen Passagen von Ueber Wahrheit und Lüge bemüht sich Nietzsche darüber hinaus, den inneren Vorgang der Sprachgestaltung zu erläutern, bei dem er nicht mehr nur die äußeren Gebärden als Bewegungen thematisiert, sondern auch und vor allem sozusagen die inneren Gebärden, d. h. die Bewegungen und Kontraktionen der Muskeln und Nerven, die sich mit dem Auge nicht erfassen lassen. Dies ist das fehlende Stück für den Nietzsche der Dionysischen Weltanschauung, um sowohl die innere als auch die äußere Erfahrung des Leibes bei der Gestaltung der Sprache zu „vervollständigen“. Es ist notwendig, von der knappen, aber sehr wertvollen Erklärung auszugehen, die Nietzsche in Ueber Wahrheit und Lüge über den inneren leiblichen Ablauf bei der Entstehung der Sprache gibt: „Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten“ (WL 1, KSA 1.878) heißt die Antwort. So erfolgt der Ursprung der Sprache: „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher“ (WL 1, KSA 1.879).[16] Der Leib erzeugt eine Reflexbewegung im Moment der Wahrnehmung, die zwar für das Bewusstsein nicht fassbar ist, wohl aber für die Instinkte, die diese Bewegungen als Symbole der Lust oder der Unlust erfassen. Die Nerven lösen eine Bewegung aus, die dem Grad der wahrgenommenen Lust oder Unlust entspricht und daher je nach der Intensität des Reizes variiert, was von inneren, für das Bewusstsein nicht sichtbaren Bewegungen des Leibes bis hin zu äußerlich ausgeprägten Gebärden reicht, die sich bewusst wahrnehmen lassen. „Das Gedächtniß bewahrt die gemachten Reflexbewegungen“ (Nachlass 1872/73, 19[161], KSA 7.469) des Leibes, und so können auf der Grundlage dieser Bilder die unbewussten Schlüsse erfolgen, die diese Wahrnehmungen mit dem verbinden, was ein Lust- oder Unlustgefühl erzeugt: „Die unbewußten Schlüsse erregen mein Bedenken: es wird wohl jenes Übergehn von Bild zu Bild sein: das letzt-erreichte Bild wirkt dann als Reiz und Motiv“ (Nachlass 1872/73, 19[107], KSA 7.454).[17] Der Umkehrung der Ordnung zwischen dem Ton und den Leibbewegungen fügt Nietzsche in dieser Reihe von nachgelassenen Aufzeichnungen von 1872 ein grundlegendes neues Element hinzu: das organische Gedächtnis. Die Wahrnehmungen von Lust und Unlust sind weiterhin zentral, wenn es darum geht, neue Nervenreize instinktiv so zu ordnen, dass sie den wahrgenommenen und im Gedächtnis gespeicherten Bildern ähneln:

Das eigentliche Material alles Erkennens sind die allerzartesten Lust- und Unlustempfindungen: auf jener Fläche, in der die Nerventhätigkeit in Lust und Schmerz Formen hinzeichnet, ist das eigentliche Geheimniß: das, was Empfindung ist, projicirt zugleich Formen, die dann wieder neue Empfindungen erzeugen (Nachlass 1872/73, 19[84], KSA 7.448).[18]

Kehren wir nun zu Ueber Wahrheit und Lüge und zu der spezifischen Analyse der Genealogie des Wortes zurück. Die erste Metapher, die Nietzsche dort erkennt, ist die Übertragung des Nervenreizes in ein Bild, denn jeder vom Leib wahrgenommene Reiz erzeugt diese Reflexbewegung in den Nerven, die im Gedächtnis als Bild, in Form eines „Bilderdenken[s]“ (Nachlass 1872/73, 19[78], KSA 7.445, und 19[107], KSA 7.454) gespeichert wird. Diese Abbilder dienen den Instinkten zum Verständnis späterer Reize. Das bedeutet, dass das Lebewesen mit Hilfe der inneren Mitteilungszeichen, d. h. der unbewussten organischen Bilder, die auf den mit dem Lust- oder Schmerzgefühl verbundenen Reizen beruhen, nicht nur das gerade wahrgenommene Material genauer bestimmen, sondern auch bestimmte Reize vorhersehbar mit bestimmten Gefühlsbereichen assoziieren kann. Nietzsche postuliert hier zwei Bedingungen für die „angemessene“ Bewahrung von innerlich und äußerlich wahrgenommenen Bewegungsbildern: 1. „Es ist das Wesen der Lust- und Unlustempfindung, sich in adäquaten Bewegungen auszudrücken“ (Nachlass 1872/73, 19[84], KSA 7.448); 2. die Kraft der Einverleibung erzwingt die Nachahmung der im Gedächtnis der Nervenbewegungen gespeicherten Bilder in dem Augenblick, in dem der Reiz gemäß der instinktiven Ordnung von Lust oder Unlust wahrgenommen wird. Mit anderen Worten: Die Reflexbewegungen werden nach einem vorher festgelegten Bilderdenken in Übereinstimmung mit den Nervenbewegungen als Reaktion auf die Reize adäquat ausgedrückt. Die Sinnesnerven erzeugen in Gegenwart der Reize diese gestischen Bilder, die zahlreichen Metaphern, die frühere Bilder nachahmen, und so arbeiten diese inneren leiblichen Prozesse darauf hin, Ähnlichkeiten oder Unterschiede zu finden. Das unbewusste Denken unterwirft die Wahrnehmungen immer wieder der Ordnung der Bilder, um neue Reize zu verstehen und sie nach dem Grad der Lust oder des Schmerzes zu klassifizieren, den sie im Organismus erzeugen. Nietzsche erklärt die Übertragungen der Reize auf Bilder folgendermaßen:

Reiz – Erinnerungsbild / durch Metapher (Analogieschluß) verbunden. / Resultat: es werden Ähnlichkeiten entdeckt und neu belebt. An einem Erinnerungsbilde spielt sich der wiederholte Reiz noch einmal ab. / Reiz percipirt – jetzt wiederholt, in vielen Metaphern, wobei verwandte Bilder, aus den verschiedenen Rubriken, herbeiströmen. Jede Perception erzielt eine vielfache Nachahmung des Reizes, doch mit Übertragung auf verschiedene Gebiete (Nachlass 1872/73, 19[227], KSA 7.490).

„Die unbewußten Schlüsse [sind] jenes Übergehn von Bild zu Bild“ (Nachlass 1872/83, 19[107], KSA 7.454), sie sind das Zurückführen „auf das alles aufbewahrende Gedächtniß“ (Nachlass 1872/73, 19[147], KSA 7.465). Die innere Bewegung des Leibes bei der Wahrnehmung dessen, was Lust oder Unlust hervorruft, ist unweigerlich mit einem äußeren Ausdruck verbunden, der für das Auge mehr oder weniger wahrnehmbar sein kann. Die Bewegung vor dem Reiz ist in Wirklichkeit eine ganze, kontinuierliche Bewegung, die Nietzsche hier lediglich in einzelne Schritte aufteilt, um das innere erkenntnistheoretische Verfahren zu verdeutlichen.

Anregung, Suggestion, Kommunikation: Die Gebärdensprache als Ursprung der Sprache

Die offensichtliche Umkehrung des ganzen Vorgangs der Spracherzeugung, nämlich nicht nur den inneren Ablauf des Leibes zu betrachten, sondern auch die äußeren Erscheinungen als unmittelbaren Ausdruck der inneren zu erklären, führt Nietzsche erneut in MA I 216 („Gebärde und Sprache“) durch. Wie schon in seinen Anfängen und später in den nachgelassenen Aufzeichnungen von 1872 und in Ueber Wahrheit und Lüge stellt er die unbewusste Sprache, in diesem Fall vor allem die der Gebärden, historisch vor die bewusste Sprache: „Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden“ (MA I 216). Hier verweist er nicht nur auf die unbewusste Instinktsprache, sondern betont auch die wichtige Rolle der Nachahmung bei der Mitteilung visueller Körperzeichen. Die Tatsache, dass die Gebärden „unwillkürlich“ auftreten, verweist auf die Spontaneität des Leibes; jedoch erfolgte in der Funktion der Kommunikation und Verständigung zwischen den Mitgliedern der Gattung eine „Zurückdrängung der Gebärdensprache“. Im Laufe der Zeit lernte der Mensch, durch die „gebildete[] Beherrschung der Muskeln“ bestimmte Bewegungen zu beherrschen, zu verstärken oder zu unterdrücken. Diese instinktive Vereinbarung, die sich im Laufe der Zeit etablierte, wurde so fest, dass Sympathie bis hin zur Nachahmung der Gebärden des jeweils anderen unvermeidlich wurde. Nietzsche schreibt dazu, „dass wir ein bewegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesicht ansehen können“ (MA I 216), worauf ein Beispiel folgt, das auf ganz ähnliche Weise etwa zehn Jahre später auch in dem Buch Sensation et mouvement (1887) des französischen Arztes Charles Féré zu finden ist: „man kann beobachten, dass fingirtes Gähnen bei Einem, der es sieht, natürliches Gähnen hervorruft.“[19] Nun entsteht durch diese unwillkürliche Nachahmung nicht nur eine Art Nachbildung der Bewegung, sondern gerade durch die Nachahmung wird das unbewusste Gefühl im anderen geweckt und verständlich. Nietzsche schreibt in diesem Sinne: „Die nachgeahmte Gebärde leitete Den, der nachahmte, zu der Empfindung zurück, welche sie im Gesicht oder Körper des Nachgeahmten ausdrückte“ (MA I 216). Dieses primitive Zeichensystem der instinktiven Klassifizierung von Reizen nach dem Grad ihres Wohlgefühls oder Missfallens wird ebenfalls durch den Leib realisiert und ohne Worte, geschweige denn Begriffe, erfasst. Man kann nun von einer gemeinsamen Affizierung in der unbewussten affektiven Dimension sprechen, die es ermöglichte, dass die Menschen einander verstehen lernten, und so ist es, um mit Nietzsche zu sprechen, das früheste Stadium des Lebens, die ersten interkommunikativen Erfahrungen des Kindes, wenn es seine Mutter zu verstehen und mit ihr zu kommunizieren versucht.[20]

Nietzsche knüpft hier an die schon 1872 entworfenen Thesen an, die erklären sollten, wie die Grundaffekte der Lust und Unlust alle spätere Erkenntnis organisieren, und verweist erneut auf die Schmerz- und Lustempfindungen als Grundlage der Entstehung einer vor-sprachlichen Symbolik sowie auf den Stillstand von Muskel- und Nervenbewegungen. Er fügt hinzu, dass die Gebärden, die die Empfindungen der Unlust begleiten, selbst schmerzhaft sind, während die Gebärden, die Lust und ein Gefühl des inneren Wohlbefindens ausdrücken, selbst Freude erzeugen. Dadurch wird die Kommunikation dieser Reize und das Verständnis der entsprechenden Bewegungen erleichtert:

Im Allgemeinen mögen schmerzhafte Empfindungen wohl auch durch Gebärden ausgedrückt worden sein, welche Schmerz ihrerseits verursachen […]. Umgekehrt: Gebärden der Lust waren selber lustvoll und eigneten sich dadurch leicht zum Mittheilen des Verständnisses (Lachen als Aeusserung des Gekitzeltwerdens, welches lustvoll ist, diente wiederum zum Ausdruck anderer lustvoller Empfindungen) (MA I 216).

Nietzsche betont in dieser Passage erneut die Zusammengehörigkeit, in der die inneren Prozesse der Reaktion und Einordnung von Reizen und die äußerlich sichtbaren Gebärden aufeinander folgen: Die Empfindungen der Nervenenden sowie die Reflexbewegungen der Muskeln manifestieren sich (manchmal auch in übertriebener Weise) zur Verständigung mit anderen Personen, schmerzhafte Empfindungen drücken sich „zum Beispiel durch Haarausraufen, die-Brust-schlagen, gewaltsame Verzerrungen und Anspannungen der Gesichtsmuskeln“ aus. Hier setzt Nietzsche deutlich die Wendung seiner in der Dionysischen Weltanschauung und der Geburt der Tragödie dargestellten Sichtweise fort: Aus dem gemeinsamen Verständnis von Gebärden entstand die ganze Symbolik der unbewussten Instinktsprache, und auf der Basis dieses unmittelbaren Verständnisses entstand dann die Zeichensprache der Töne. Letztere ist aus einem Aggregat von Körperbewegungen hervorgegangen, wobei die Leibgebärden die Voraussetzung für die Symbolik der Tonsprache sind. Um die Tonsymbolik zu verstehen, mussten also Ton und Gebärden gemeinsam erfasst werden, und sobald der Sinn, den die gestische Symbolik dem Ton gab, ebenfalls feststand, erhielt der Ton seine eigene Symbolik, ohne dass man auf Gebärden zurückgreifen musste. So erklärt Nietzsche nun:

– Es scheint sich da in früher Zeit das Selbe oftmals ereignet zu haben […]: während zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz und Mimus (Gebärdensprache), leeres Geräusch ist, wird durch lange Gewöhnung an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das Ohr zur sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Höhe des schnellen Verständnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe versteht“ (MA I 216).

Bedenkt man, dass der junge Nietzsche die Sprache der Musik als unmittelbarsten und intimsten Ausdruck des Willens und die Bewegungen des Leibes als deren symbolischen Begleiter interpretiert, so erscheint die in MA I 216 eingeleitete Wende noch akzentuierter – erst recht, wenn man diesen Aphorismus mit dem vorhergehenden zusammen liest, der den schlichten Titel „Musik“ trägt. Indem Nietzsche den Sinn und die Rolle der primitiven Affekte als innere Phänomene aufgreift, erklärt er, dass die Musik weder tief genug noch „erregend“ genug sei (MA I 215), um die Zeichensprache zu werden, die das Gefühl so direkt wie möglich ausdrückt. Hier vereint Nietzsche zwei zentrale Elemente, die er beide aus seinen Anfängen übernimmt: das Gefühl als Spektrum der Affekte und die erregende Eigenschaft, die dem Ausdrucksmittel des Gefühls innewohnen muss. Die notwendige Erregbarkeit, diese grundlegende Eigenschaft, die eine Einheit zwischen dem instinktiven Affekt und dessen unmittelbarstem Ausdrucksmittel stiftet, wird in den die Kunst betreffenden Streifzügen eines Unzeitgemässen der Götzen-Dämmerung (1889) zur unabdingbaren Voraussetzung für den Zugang zu dieser engeren affektiven Dimension. Hier führt Nietzsche sogar metaphysische Kategorien aus seinem frühen Werk wieder ein, um deutlich zu machen, dass die Musik „nicht vom „Willen“, vom „Dinge an sich““ spricht (MA I 215). Kehrt man nun zu MA I 216 zurück, so kann man schließen, dass es die Bewegungen und Gebärden des Leibes sind, die in erster Linie die Tiefe solcher Affekte erreichen.

Die Schaffung und Wahrnehmung von Zeichen in einem erregten und gesteigerten „Affekt-System“: Der dionysische Künstler wird zum Meister

Im Werk des späten Nietzsche stehen die Lust- und Unlustgefühle, die er ja an vielen Stellen erwähnt, im Zusammenhang mit den Ereignissen des Willens zur Macht. Somit werden sie als Folgen der Zunahme oder Abnahme der eigenen Kräfte einer jeden Organisation interpretiert. Bevor wir uns den Streifzügen über die Kunst und den dionysischen Künstler, der nun vor allem als Meister der Kommunikation auftritt, zuwenden, ist es notwendig, uns noch einmal die inneren erkenntnistheoretischen Prozesse zur Ordnung der Reize vor Augen zu führen, wie sie Nietzsche in seinen letzten Schriften in Bezug auf die Ästhetik und auf die Sprache darstellt. Er beschäftigt sich mit dem Thema in einer Reihe von nachgelassenen Aufzeichnungen aus den Jahren 1887 und 1888. In seiner Philosophie dieser Jahre ist die Ordnung und die interpretative Normativität von Reizen nach dem Grad der Lust oder Unlust ein prägnanter Zug, ähnlich der Deutung von Schmerz, Lust und ihrer Symbolik, die Nietzsche 1872 durchgeführt hatte. In den Aufzeichnungen aus den Heften W II 2 und W II 5, deren gemeinsame Lektüre im Hinblick auf ein weiteres Verständnis der Interpretationsprozesse und ihres Verhältnisses zur Kunst sinnvoll scheint, verbindet Nietzsche bereits die Bereiche untrennbar, die er einerseits als „Ästhetik“ bezeichnet, andererseits solchen normativen Erkenntnisprozessen zuordnet.[21] So führt Nietzsche, wie schon im früheren Nachlass von 1872, die fundamentale Rolle der Instinkte wieder ein, auf deren Grundlage der Mensch die Erfahrungen unmittelbarer Abstoßung oder Anziehung hinsichtlich von Faktoren der Außenwelt macht: „Was uns {instinktiv} widersteht, aesthetisch, ist aus allerlängster Erfahrung dem M. als schädlich, gefährlich, mißtrauen-verdienend bewiesen“ (Nachlass 1887, 10[167], KSA 12.554 / KGW IX 6, W II 2.27). Zu den unbewussten Schlüssen, die auf der Gestaltung des instinktiven Wissens in der Geschichte wie auch in der Vorgeschichte der Gattung beruhen, fügt Nietzsche nun ein regulierendes Element hinzu: das instinktgeleitete Urteilsvermögen. Er behandelt in dieser Aufzeichnung das für jedes Individuum „Nützliche[], Wohlthätige[], {Lebenssteigernde[]}“ als gleichbedeutend mit der Kategorie des „Schöne[n]“, die er gerade aufgrund der normativen Deutungswerte für das Leben als biologische Kategorie definiert. Hier stellt Nietzsche die Ästhetik auf eine Stufe mit den interpretativen Prozessen der Klassifizierung von Reizen. Wie schon einige Jahre zuvor betont er die Bedeutung des Gedächtnisses, das aus der Wahrnehmung von Reizen entsteht, aber diesmal nicht explizit in Bezug auf die Abbilder von Leibbewegungen. Die Verbindung von Erinnerungen an Reize ist jedoch das, was der Mensch nutzt, um zu verstehen, was vorteilhaft, d. h. schön, oder nicht vorteilhaft, d. h. hässlich ist:

doch so, daß eine Menge Reize, die ganz von Ferne an nützliche Dinge u Zustände erinnern u. anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen erregen {dh. der Vermehrung von Machtgefühl geben} (– nicht also bloß Dinge, sondern auch die Begleitempfindungen solcher Dinge oder ihre Symbole) (Nachlass 1887, 10[167], KSA 12.554 / KGW IX 6, W II 2.27).

Die Suche nach Ähnlichkeiten weckt und verstärkt das Gefühl der Lust an bestimmten Reizen. Hier unterscheidet Nietzsche die internen Interpretationsprozesse, die von den instinktiven Urteilen ausgeführt werden, vom Verstand und stellt sie in einen Gegensatz. Während erstere die unmittelbare unbewusste Reaktion auslösen, vermitteln und verlangsamen die Prozesse des Verstandes die Reaktion; sie führen dazu, dass der Mensch bewusst entscheidet, ob es das Beste ist, zu reagieren oder nicht. Somit hemmt der Verstand das instinktive Urteilsvermögen.[22]

In den nachgelassenen Aufzeichnungen von 1888 fügt Nietzsche dem instinktiven Urteil zur Einordnung dessen, was biologisch gut oder schlecht für das Leben ist, eine spezifische Voraussetzung der Steigerung der inneren Kräfte und damit des Gefühls des eigenen Wohlbefindens hinzu: den Rausch. Es geht hier nicht darum, die vielfältigen Veränderungen der physiologischen Prozesse und der psychischen Zustände zu analysieren. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die spezifischen Veränderungen in Bezug auf die kommunikative Produktion.[23] Nun nennt Nietzsche im Nachlass von 1888 (14[117], KSA 13.293 f. / KGW IX 8, W II 5.102) einige durch den Rauschzustand hervorgerufene innere leibliche Vorgänge, die hier kurz aufgezählt werden sollen:

  1. Die Raum- und Zeitempfindung wird verändert; der Mensch, der diese Steigerung der inneren Kräfte fühlt, kann nun aufgrund seines erregten Leibes über unvorstellbare Entfernungen hinweg wahrnehmen, was sich als „die Ausdehnung des Blicks über größere Mengen u. Weiten“ zusammenfassen lässt.

  2. Neben der Wahrnehmung großer Entfernungen sind für den Menschen im Zustand des Rauschs auch Details der kleinsten und flüchtigsten Dinge wahrnehmbar.

  3. Nietzsche gibt dem Rausch auch die Kraft der „Divination, die Kraft des Verstehens, auf die leiseste Hülfe hin, auf jede Suggestion hin, die „intelligente“ {Sinnlichkeit}.“

  4. Skizziert er das Gefühl einer größeren Muskelbeherrschung bei der Erzeugung von Bewegungen und eine größere Flexibilität, die von der Lust an der Bewegung begleitet wird.

Freilich sind diese Vorgänge eng miteinander verknüpft: Das durch den Rausch hervorgerufene Gefühl innerer Fülle steigert die Erregbarkeit der Organe und der Muskeln und erleichtert die Reizung der Nervenenden, und daher ist Nietzsche der Ansicht, dass bei diesen Menschen in höherem Maße eine Wahrnehmung des Größeren, des Kleineren oder des Flüchtigeren eintritt. Auch auf die Tonisierung der erregten Muskeln gibt es dann eine Reaktion in Form von Bewegung. Wenn sich das ganze Nervensystem des Leibes in diesem Grad der totalen Erregung befindet, werden die Wahrnehmungen im Allgemeinen größer sein, so dass, wenn man das gleiche Schema betrachtet, das Nietzsche bereits im Nachlass von 1872 ausgearbeitet und in MA I 216 wieder verteidigt hat, die Herstellung eines Zeichensystems notwendigerweise eintritt: „Der aesthet. Zustand hat einen Überreichthum von Mittheilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize u. Zeichen“ (Nachlass 1888, 14[119], KSA 13.296 / KGW IX 8, W II 5.100). Der Reichtum der Mittel ist in der Tat auf die gesteigerte Wahrnehmung zurückzuführen und diese wiederum auf den psychophysischen Zustand der Person in der Rausch-Erfahrung. Aus diesem Grund definiert Nietzsche den ästhetischen Zustand als den „Höhepunkt der Mittheilsamkeit u. Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen“. Mehr noch, dieser Zustand ist „die Quelle der Sprachen“, sie „haben hier ihren Entstehungsherd.“

Es ist unbestreitbar, dass Férés Theorien über die psychomotorische Induktion und die mentale Suggestion einen Einfluss auf Nietzsches Nachlass ausgeübt haben, insbesondere auf die zwei schon angeführten Aufzeichnungen sowie auf Nachlass 1888, 14[170], KSA 13.356 f. / KGW IX 8, W II 5.34.[24] Nietzsches Rezeption von Férés Werken beschränkt sich nicht auf Sensation et mouvement von 1887, dessen Spuren in seiner Philosophie spätestens 1888 nicht zu bestreiten sind, sondern erstreckt sich auch auf Férés nächstes veröffentlichtes Buch Dégénérescence et criminalité (1888), das ebenfalls eine relevante Rolle in Nietzsches Analyse und Erklärung pathologischer Vorgänge spielt.[25] Anhand bestimmter Experimente erwies Féré, dass auf jede Art von Stimulus oder mentaler Repräsentation, seien sie nun bewusst oder, wie es meistens der Fall sei, unbewusst, eine Zunahme der inneren Kräfte folge. Er behauptet, die Intensität der sensorischen oder mentalen Reize bestimme die Intensität der körperlichen Bewegung, die eben durch die Anspannung der Nerven und Muskeln erzeugt werde. Außerdem erhöhe die Muskelkontraktion als Reaktion auf Reize die Empfindlichkeit der Haut aufgrund der verstärkten Durchblutung. Die psychomotorische Induktion – ein Phänomen, das bei Nervenkranken besonders stark ausgeprägt ist – spielt eine erhebliche Rolle bei der Ansteckung durch Emotionen und Gefühle, denn der Anblick einer Bewegung lädt zur Reproduktion dieser Bewegung ein. Der Prozess der psychomotorischen Induktion verweist somit auf einen weiteren zentralen Punkt dieser Theorie, die sogenannte „mentale Suggestion“.[26] Sie besteht in der Fähigkeit, die mentale Repräsentation des Gesprächspartners durch die Nachahmung von Bewegungen oder Gebärden zu verstehen. Féré stellt fest, dass es möglich ist, Neuropathen durch mentale Suggestion dazu zu bringen, die gleiche Emotion, sozusagen den gleichen Gedanken auszusenden. Die mentale Suggestion ist jedoch ein allgemeines Phänomen, das jeder Mensch erfährt, allerdings nicht unbedingt bis zum Stadium der konkreten Nachahmung, sondern bis zu dem Punkt, an dem sich bestimmte Muskeln, die an der beobachteten Gebärde oder Bewegung beteiligt sind, in geringem Maße zusammenziehen und es dem Gesprächspartner so ermöglichen, die Emotion des anderen zu erfassen. So erzeugt für Féré jeder physische oder geistige Reiz eine Bewegung im Körper, und er geht sogar so weit zu behaupten, dass die Idee der Bewegung bereits eine beginnende körperliche Bewegung ist,[27] was Nietzsche folgendermaßen umschreibt: „auch heute hört man noch mit den Muskeln, man liest selbst noch mit den Muskeln“ (Nachlass 1888, 14[119], KSA 13.297 / KGW IX 8, W II 5.100). Entscheidend in Bezug auf die Theorien der psychomotorischen Induktion und der mentalen Suggestion ist nun, wie Nietzsche beide im Zusammenhang mit dem Themenfeld der Kommunikation interpretiert: „Man theilt sich nie Gedanken mit, man theilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurück gelesen werden …“

Im Nachlass bekräftigt Nietzsche die kommunikativen Fähigkeiten und Eigenschaften der Menschen im Zustand des Rausches:

die extreme Schärfe gewisser Sinne: so daß sie eine ganz andere Zeichensprache verstehen – {– dieselbe, die mit manchen Nervenkrankheiten verbunden erscheint –} u schaffen … die größte {die extreme Beweglichkeit, aus der} {eine extreme} Mittheilsamkeit {wird}; {das Redenwollen alles dessen, was Zeichen zu geben weiß …} ein Bedürfniß, sich {gleichsam} loszuwerden durch Zeichen u. Gebärden; Fähigkeit, von sich durch hundert Sprachmittel zu reden … ein explosiver Zustand – dem entspricht ein erstaunliches Verstehen= u. Hörenwollen an Personen die gleich erregt sind … Unfähigkeit, die Reaktion zu verhindern; der Hemmungsapparat gleichsam ausgehängt […] – man muß sich das {diesen Zustand zuerst} als Zwang u Drang denken, gleichsam durch {alle Art} Muskelarbeit u. allgemeine Beweglichkeit die Exuberanz der inneren Spannung los zu werden: sodann als {unfreiwillige} Coordination dieser Bewegung {mit zu}zu den inneren Vorgängen (Bildern, Welten {Gedanken}, Begierden) – {als} eine Art Automatismus des ganzen Muskelsystems unter dem Impuls innerer {von Innen wirkender} starker Reize (Nachlass 1888, 14[170], KSA 13.356 f. / KGW IX 8, W II 5.34 f.).

Das Phänomen ist klar: Nietzsche beschreibt hier den Prozess der psychomotorischen Induktion und der mentalen Suggestion, wobei er aber keine Nervenkrankheit, sondern den Rausch als Bedingung und Auslöser dieser Fähigkeiten darstellt. Der höchste Grad der kommunikativen Qualitäten kommt zustande, wenn das Gefühl der inneren Kraft zunimmt, das wiederum eine Schärfung der Sinne, der Wahrnehmungsfähigkeit und schließlich der mentalen Repräsentationen hervorruft, worauf der unvermeidliche Ausdruck in Bewegung folgt. In der Götzen-Dämmerung schreibt Nietzsche diese kommunikative Eigenschaft ausschließlich dem dionysischen Künstler zu:

Der apollinische Rausch hält vor Allem das Auge erregt, so dass es die Kraft der Vision bekommt. Der Maler, der Plastiker, der Epiker sind Visionäre par excellence. Im dionysischen Zustande ist dagegen das gesammte Affekt-System erregt und gesteigert: so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet (GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 10).

Obwohl Nietzsche hier auch dem apollinischen Künstler zugesteht, dass er in einen Zustand des Rausches eintritt, um seinem schöpferischen Tun nachzugehen, ist es nur der dionysische Künstler – eigentlich der dionysische Mensch überhaupt –, der sich dieser großen Erregbarkeit seines gesamten Affekt-Systems erfreut. Dieser Wendung hinsichtlich der Beschreibung des inneren Zustands – das Apollinische war in der Geburt der Tragödie die Befreiung der stärksten Emotionen[28] – folgt eine weitere radikale Innovation, die sich aber folgerichtig aus Nietzsches Überlegungen zu den psychophysiologischen Prozessen ergibt, denn diese legen es nahe, dem dionysischen Künstler die gesteigerte Wahrnehmungs- und Mitteilungsfähigkeit zuzuschreiben: Er ist nun der Künstler des „Darstellens, Nachbildens“, der „Mimik und Schauspielerei“ (GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 10). Während in der Dionysischen Weltanschauung und der Geburt der Tragödie die Rolle des Schauspielers, obwohl sie durch den Kern der Tragödie, den Chor, angeregt ist, meist visuell darstellend und daher im Rahmen jener Schriften apollinisch ist, gehört diese Eigenschaft dem späten Nietzsche zufolge zum dionysischen Künstler: Er ist jetzt der Mimiker und Schauspieler par excellence. Diese Umkehrung findet ihre Grundlage hauptsächlich, und ich glaube sogar ausschließlich, in jener Wahrnehmungs- und Mitteilungsfähigkeit des dionysischen Künstlers: Ihm ist es „unmöglich, irgend eine Suggestion nicht zu verstehen, er übersieht kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und errathenden Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mittheilungs-Kunst besitzt“ (GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 10). Der Ausdruck all seiner fein abgestimmten Wahrnehmungen, seines gesamten affektiven Vermögens, muss nach Nietzsche selbst und auch auf der Grundlage der Theorien von Féré seine Parallele in leiblichen Bewegungen haben. Der wahre dionysische Zustand, den Nietzsche hier auch als „Urzustand“ bezeichnet und zudem mit dem „dionysischen Histrionismus“ identifiziert, ist also nicht die Musik, sondern die unmittelbare Bewegung des Leibes, die wiederum eine unvermeidliche Reaktion auf alle Arten von Reizen in Form der Nachahmung ist. Musik ist dagegen nun „die langsam erreichte Spezifikation“ der leiblichen Bewegung.

Schluss

In diesem Beitrag wurde gezeigt, dass für Nietzsche die Sprache, zunächst als System unbewusster Zeichen, später aber auch in Form von Wort und Begriff, ihren Ursprung in der Bewegung und den Gebärden des Leibes hat. Obwohl der junge Nietzsche der Dionysischen Weltanschauung den Ton und die Musik als Grundlage der Sprache ansieht, kehrt er selbst schon sehr früh seine Theorie um, nämlich in einer Reihe nachgelassener Aufzeichnungen von 1872, die er in Ueber Wahrheit und Lüge vertieft und in seiner späteren Darstellung in MA I 216 weiter verteidigt. 1888 greift Nietzsche unter dem Einfluss der Lektüre von Férés Sensation et mouvement das Verhältnis von ästhetischem Zustand, Leib und Mitteilung auf. In den untersuchten Aufzeichnungen sowie in GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 10 wurde deutlich, dass sich in einem Gefühlszustand gesteigerter Kräfte, nämlich dem ästhetischen Zustand, der Bereich der psychophysischen Wahrnehmung erweitert und damit zwangsläufig die Mitteilungsfähigkeit des Leibes erhöht. Der unmittelbare Ausdruck erfolgt durch Gebärden und Bewegungen, je nach Intensität des Reizes. So unterscheiden sich die Theorien, die Nietzsche 1872 und in den folgenden Jahren in den genannten Schriften entwickelt hatte, praktisch nicht von dem, was er in den analysierten späten Aufzeichnungen sowie in GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 10 darlegt. Wenn wir schließlich noch das Schema einbeziehen, das er insbesondere im Nachlass von 1887 entwirft, um das ästhetische Urteil und die instinktive Fähigkeit des Menschen zu skizzieren, durch dieses Urteil das biologisch Gute oder Schlechte, also das „Schöne“ oder „Hässliche“ zu bestimmen, dann erhalten wir ein vollständiges Bild des Gedankens, den Nietzsche 1888 darstellt. Dieser deckt sich aber praktisch mit Nietzsches Konzeption von 1872: Der Leib ahmt den Reiz nach, der ihn trifft, indem er ihn in einer unmittelbaren, inneren und äußeren Bewegung zum Ausdruck bringt – innerlich in der Kontraktion von Nerven und Muskeln, äußerlich in einem für das menschliche Auge mehr oder weniger wahrnehmbaren Ausdruck. Jener Vorgang ermöglicht die Entstehung einer Zeichensprache, die auf die ursprünglichsten Affekte der Lust oder Unlust sowie auf die im Gedächtnis abgelagerten Abbilder des Schönen oder Hässlichen Bezug nimmt. Dies führt auch zu einer instinktiven Übereinstimmung zwischen Menschen, die auf dem Verständnis von Bewegungen beruht. Ist dies der Fall, so verwendet Nietzsche die von Féré ausgearbeiteten und demonstrierten Theorien der psychomotorischen Induktion und der mentalen Suggestion als wissenschaftliche Begründung für die von ihm bereits zehn bis fünfzehn Jahre zuvor formulierten Theorien.

Wie wir gesehen haben, drückt der dionysische Mensch der Dionysischen Weltanschauung und der Geburt der Tragödie das Ur-Sein durch die Musik und den sie begleitenden Tanz aus. Es wurde auch kurz erwähnt, dass der dionysische Mensch in seinem eigenen Rauschzustand von der Natur zerrissen wird, da der Kern der Natur das principium individuationis vernichtet, und dass Nietzsche im dionysischen Künstler eine noch nie dagewesene Art des symbolischen Ausdrucks dieser Dimension der Welt erkennt, die aber nur von Seinesgleichen verstanden werden kann. Damit ist diese Mitteilungsart tatsächlich auf eine bestimmte Gemeinschaft von Menschen beschränkt, die sich von sich selbst entfremdet haben: Es ist das Ur-Sein, das durch die Leiber der Menschen singt und tanzt, während ihre Individualität aufgehört hat zu existieren. Der dionysische Mensch von 1888 hat nichts mit dieser metaphysischen Dimension zu tun, und weit entfernt davon, seine Individualität aufzugeben, bejaht dieser Künstler sein eigenes Leben, seine Individuation, die Gesamtheit seines Leibes. Seine Auffassungsgabe, sein Ausdrucksvermögen und seine kommunikativen Fähigkeiten sind insgesamt gesteigert, da er nicht nur in der Lage ist, jede Art von Anregung zu verstehen, sondern auch, sie bestmöglich darzustellen. Deshalb wird in Nietzsches Spätphilosophie, insbesondere in der Götzen-Dämmerung, der dionysische Mensch zum Meister der Mitteilung.

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Published Online: 2023-04-18
Published in Print: 2023-10-27

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

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