Zusammenfassung
Der Kulturbegriff reflektiert die Moderne: Selbstorganisation des Wirklichen, Kontingenz. Angesichts gegenwärtiger Konflikte können Kulturwissenschaften vor Moral nur warnen. Sie verfügen hingegen über historische und systematische Kompetenz, die symbolische Faktur der Realität zu erkennen: die Verflechtung der Beschreibungen der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit der Beschreibungen.
Abstract
The concept of culture reflects modernism: self-organization of what is real, contingency. In view of present conflicts cultural studies might rather wish to warn against moralizing. They have, however, at their disposal a historical and systematic competence for understanding the symbolic dimension of reality: the interdependence of the descriptions of reality and the reality of descriptions.
Literature
Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, Schriften, hrsg. Henning Ritter, München, Wien 1978, I, 27–60.
Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, hrsg. Lutger Lütkehaus, Zürich 1988, III, 462.
Vgl. Dieter Henrich, „Die Grundstruktur der modernen Philosophie“, und ders., „Über Selbstbewuβtsein und Selbsterhaltung“, in: ders., Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, 83–108; 109–130.
Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 2. Aufl., Darmstadt 1954, 10. Aufl. 1994, 1, 11.
So aber Hartmut Böhme, „Vom Cultus zur Kultur(Wissenschaft). Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs“, in: Renate Glaser, Mathias Luserke (Hrsg.), Literaturwissenschaft- Kulturwissenschaft, Opladen 1996, 48–68, hier: 65
Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 5. Aufl., Bern 1965, 398.
Vgl. den Sammelband Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, hrsg. Friedrich Kittler, Paderborn usw. 1980.
Vgl. Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1991, 499.
Hegeische Belege erübrigen sich eigentlich. Bedeutet „Geist“ doch zumal in seiner Vollendung als absoluter die Identität mit seiner Andersheit. Nur zwei weitere Belege: Hugo von Hofmannsthal, Worte zum Gedächtnis des Prinzen Eugen, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hrsg. Bernd Schoeller, Frankfurt a. M. 1979, Reden und Aufsätze, II, 376: „Der Geist kennt nichts als Gegenwart“. Curtius meint, daβ der Literatur, anders als dem Bild, eine (freilich in Anführungszeichen gesetzte) „‚geistige Gegenwart‘“ eigne. Curtius (Anm. 7), 24 f.
Stellvertretend für viele nenne ich: Jan Assmann, Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988.
Aleida Assmann, „Zur Metaphorik der Erinnerung“, in: dies., Dietrich Harth (Hrsg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, 13–35.
Vgl. Heinz von Foerster, „Was ist Gedächtnis, daβ es Rückschau und Vorschau ermöglicht?“, in: ders., Wissen und Gewissen, Frankfurt a. M. 1993, 299–336
Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, z.B. 75f.: Gedächtnis ist „kein Speicher für vergangene Zustände oder Ereignisse“, sondern ein „laufendes Diskriminieren zwischen Vergessen und Erinnern.“
Zur Terminologie vgl. Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 3. Aufl., Stuttgart 1989, 8 ff. Man kann natürlich schon bei Augustinus, Confessiones, Liber XI, erfahren, daβ es Vergangenheit und Zukunft immer nur in der Gegenwart, nämlich als Gegenwart von Vergangenheit oder Zukunft gibt. Das war freilich immerhin noch verträglich mit einer der berühmtesten der Magazin-Metaphern, nämlich dem Bild von den Hallen des Gedächtnisses im Liber X.
Stephen Greenblatt, „Kultur“, in: Moritz Baβler (Hrsg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a. M. 1995, 48–59 (48).
Vgl. Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, 185 ff.
Niklas Luhmann, „Kultur als historischer Begriff“, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, IV, Frankfurt a. M. 1995, 31–54, hier: 39.
William Shakespeare, Sonett Nr. 18, zit. nach der Ausgabe The Sonnets, London, Melbourne 1976, 11. Vgl. Nr. 55 u.v.a mehr.
Barthold Heinrich Brockes, „Die Zeit. Bei dem Anfange des 1718. Jahres“, zit. n. d. Ausgabe Irdisches Vergnügen in Gott, Stuttgart 1963, 80. Vgl. auch Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1983, Kap. XIII.
Der moderne Kulturbegriff definiert sich–nicht nur äuβerlich–z. B. durch seine Emanzipation von einer Genitivergänzung und findet sich erst bei Herder. So Wilhelm Perpeet, Artikel „Kultur, Kulturphilosophie“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie, IV, Basel 1976, Sp. 1309 ff.
Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. u. Leipzig 1994.
Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt a. M. 1993.
Johann Friedrich Blumenbach, Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte, Göttingen 1781. Hier und im weiteren Verlauf folge ich der ausgezeichneten Studie
von Helmut Müller-Sievers, Epigenesis. Naturphilosophie im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts, Paderborn usw. 1993.
Vgl. Lynn Hunt, Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a. M. 1989.
Vgl. dagegen Manfred Frank, „Die Philosophie des sogenannten ‚magischen Idealismus’“, Euphorion 63 (1969), 88–116 und
Herbert Uerlings, Friedrich von Hardenberg genannt Novalis. Werk und Forschung, Stuttgart 1991, insbes. 128 ff.
Wilhelm von Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, Werke, 2. Aufl., Darmstadt 1969, 1, 235 f.: „Die letzte Aufgabe unseres Daseins: dem Begriff der Menschheit in unserer Person, sowohl während der Zeit des Lebens, als noch über dasselbe hinaus … einen so groβen Inhalt als möglich, zu verschaffen.“
Zum Sinn-Begriff vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt a. M. 1984, 92 ff.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke in 20 Bänden, Frankfurt a. M. 1986, XIV, 236.
Vgl. zum Vorstehenden: Aleida und Jan Assmann, „Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis”, in: Die Wirklichkeit der Medien, hrsg. Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt, Siegfried Weischenberg, Opladen 1994, 114–140.
Hermann Lübbe, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin, Heidelberg, New York usw. 1992, 213.
Ein Ausdruck von Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1971, 377 ff.
Vgl. Heinz Schlaffer, Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1981 und jetzt
Jochen Hörisch, Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt a. M. 1996, 11 ff., 117ff.
Vgl. Erich Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987.
So schon die These von Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek 1957, z.B. 58, 62: „Die moderne Seele (entsteht) gleichzeitig mit der Wissenschaft von ihr und mit der Kunst…, in denen sie abgespiegelt wird.“
Vgl. Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Werke, Reinbek 1962, IV, 13: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu selbst verhält.“
E.T.A. Hoffmann, Fantasie- und Nachtstücke, hrsg. Walter Müller-Seidel, München 1960, 341.
Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M. 1983, 335.
Vgl. Georg Simmel, „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, in: ders., Philosophische Kultur, Berlin 1983.
Helmut Niehaus, Hegels Theorie der Entfremdung, Heidelberg 1995.
Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik, Einleitung, Husserliana, XVII, Den Haag 1974, 7. Vgl. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana, VI, Den Haag 1954.
Aleida Assmann (Anm. 23), 110. Vgl. Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989.
Zur Kritik der Identifikation von „Kultur“ mit „Verständigung“ und „Konflikt“ mit Gewalt und Abbruch der Kultur vgl. Aleida und Jan Assmann, „Kultur und Konflikt. Aspekte einer Theorie des unkommunikativen Handelns“, in: Jan Assmann, Dietrich Harth (Hrsg.), Kultur und Konflikt, Frankfurt a. M. 1990, 11–48.
Botho Strauβ, „Anschwellender Bocksgesang“, in: Der Spiegel, 8.2.1993. Zit. nach dem Wiederabdruck in: Franz Josef Görtz (Hrsg.), Deutsche Literatur 1993, Stuttgart 1994, 255–269, Zitate hier und folgenden direkt im Text belegt.
Samuel P. Huntington, „The Clash of Civilizations?“, in: Foreign Affairs, Nr. 3, Sommer 1993.
Niklas Luhmann, Paradigm lost: über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt a. M. 1990.
Luhmann (Anm. 58), 26. Vgl. Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991.
Vgl. Richard Herzinger, Hannes Stein, Endzeit-Propheten oder Die Offensive der Antiwestler. Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte, Reinbek 1995, insbes. 102 ff.
Odo Marquard, „Der angeklagte und entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts“, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 39–66, hier: 47ff.
Katharina Rutschky, „Monokultur und Multikulturalismus“, Merkur 3 (1996), 234–239, hier: 234.
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont, Hamburg 1988, 396.
Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt a. M. 1993, 73 f. Ziate werden im folgenden im Text belegt.
Vgl. Odo Marquard, „Hegels Kritik des Sollens“, in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1982, 37ff.
Vgl. Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 1971, 210.
Hans Robert Jauβ, „Hermeneutische Moral: der moralische Anspruch des Ästhetischen“, in: ders., Wege des Verstehens, München 1994, 30–48, hier: 39.
Vgl. Andreas Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannmythos: zur Entstehung des Nationalbewuβtseins der Deutschen, Reinbek 1996, insbesondere Kap. 1.
Ernst Cassirer, „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“, in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956, 8. Aufl. 1994, 169–200, hier: 175 f.
Vgl. E.G. Nisbit, C. M. R. Fowler, „Is metal disposal toxic to deep oceans?“, Nature, Volume 375, Nr. 6534, 25 June 1995, 715. Vgl. ebd., 708.
Vgl. John L. Austin, How to do Things with Words, Oxford 1962.
Vgl. Roman Jakobson, „Linguistik und Poetik“, Poetik, Frankfurt a. M. 1979, 83–121.
Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a. M. 1985, 126 ff.
Cassirer, The Myth of the State, New Haven 1946, 282 f.
Zum Begriff vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, 167 ff.
Vgl., durchaus nicht ohne „kulturoklastische“ Neigungen: Jacob Taubes, Vom Kult zur Kultur. Gesammelte Aufsätze zur Religions- und Geistesgeschichte, hrsg. Aleida und Jan Assmann u.a., München 1996.
Author information
Authors and Affiliations
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Steiner, U.C. „Können die Kulturwissenschaften eine neue moralische Funktion beanspruchen?“ Eine Bestandsaufnahme. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 71, 5–38 (1997). https://doi.org/10.1007/BF03374595
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/BF03374595