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Publicly Available Published by De Gruyter (A) October 14, 2022

Zur Idee der Freiheit

  • Peter Stemmer

Abstract

European culture is distinguished by a special and indeed unique appreciation of freedom. Understanding why we care so much about freedom requires continual reflection on the heart of the matter. This is especially necessary because the concept of freedom has been constantly reworked and remodelled throughout its long history. This article lists five key characteristics and highlights two in particular: (1) the openness of being free, which means that freedom does not itself determine what it is used for; and (2) the fact that freedom is by its nature an extrinsic, not an intrinsic, end. In addition, the article comments on various highly influential aberrations in the explication of the idea of freedom that began early, in the 4th century, with Plato.

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Es scheint nicht übertrieben, zu sagen, dass sich die europäische Kultur durch eine besondere und tatsächlich singuläre Hochschätzung der Freiheit auszeichnet. [1] Das Ideal der Freiheit des Einzelnen nimmt in dieser Lebensform im privaten wie im politischen Leben eine herausragende Stellung ein. Das spiegelt sich am deutlichsten in der Überzeugung, dass die Freiheit des Individuums den Maßstab bildet, an dem jede politische Organisation des Zusammenlebens zu messen ist. „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten“, schreibt Rousseau im ersten Satz in seinem Contrat social von 1762. Wenig später, 1776, proklamierten 13 nordamerikanische Kolonien im Namen der Freiheit ihre Unabhängigkeit von der britischen Krone. Wiederum gut ein Jahrzehnt später wurde liberté, ergänzt durch egalité und fraternité, zum Losungswort der französischen Revolution. Die USA verstanden sich von Anbeginn an, mit durchaus expansionistischen Untertönen, als „empire of liberty“. Und der Glaube, das freieste Land der Welt zu sein, gehört bis heute zum Kern des amerikanischen Selbstverständnisses. Im Kalten Krieg hat der Westen damit gedroht, die nukleare Karte zu ziehen, um die freiheitliche Lebensform zu verteidigen. Und diese Drohung besteht bis heute fort.

Die zentrale Stellung des Freiheitsideals in der europäischen Kultur hat ihre Wurzeln in der griechischen Antike. Im fünften und vierten Jahrhundert vor Christus entwickelte die Idee der Freiheit besonders in Athen einen ungeheuren Sog. Die Freiheit avancierte zu dem Gut, auf das hin sich das politische Leben organisierte und zu organisieren hatte. Die in Athen erfundene und über fast 200 Jahre gelebte Demokratie entsprang dem Streben nach Freiheit und der Überzeugung von ihrer überragenden Bedeutung im Leben der Menschen. Platon hat in seiner Genealogie der Verfassungsformen gesagt, das höchste Gut in der Demokratie sei die Freiheit. [2] Und das traf zweifellos das Selbstverständnis der Demokraten, zu denen Platon selbst nicht gehörte. Genauso hat Aristoteles geschrieben, das Kennzeichen der Demokratie sei es, dass jeder so leben könne, wie er will. [3]

Wenn wir verstehen wollen, warum uns so sehr an der Freiheit liegt, wenn wir also uns selbst und die Grundlagen unserer Kultur verstehen wollen, und wenn wir uns darüber klar sein wollen, warum wir diese Lebensform für verteidigenswert halten, ist es eine bleibende Aufgabe, darüber nachzudenken, was wir da wollen und worum es im Kern geht. Das ist insbesondere deshalb nötig, weil der Begriff der Freiheit in seiner langen Geschichte nicht einfach wie ein fester Besitz weitergegeben wurde, sondern unaufhörlich bearbeitet und umgemodelt wurde. Er wurde in verschiedene Richtungen ausbuchstabiert, er wurde erweitert, übertragen, gedehnt, verfälscht und ins Gegenteil verkehrt. Dies im Einzelnen auszuleuchten, ist ein weites Feld. Ich werde mich mit einigen wenigen Bemerkungen begnügen.

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Man kann, was den Begriff angeht, ganz elementar beginnen. Der Kaffee ist koffeinfrei, das Bier alkoholfrei, das Benzin bleifrei, der Tag war sorgenfrei, das Haus ist schuldenfrei. Wenn etwas frei ist, ist es frei von etwas, etwas ist abwesend. Frei zu sein, heißt, ohne etwas zu sein. Nun interessiert uns, wenn wir von der Idee der Freiheit sprechen, nicht der Kaffee oder das Benzin, was uns interessiert, sind wir selbst, was es heißt, dass eine Person frei ist. Ein Mensch kann von vielem frei sein, frei von Kummer, frei von Illusionen, frei von Angst oder frei von Schuld. Aber auch das ist noch nicht das, wonach wir suchen. Uns interessiert, dass jemand in seinem Handeln frei ist. Frei in dem gesuchten Sinne ist jemand, wenn er in seinem Tun und Lassen frei ist. Aber wovon ist er dann frei? Was ist es, was dann in seinem Handeln abwesend ist?

Eine klare Antwort finden wir, wenn wir zurückschauen ins antike Griechenland und speziell nach Athen. Die griechischen Polis-Gesellschaften waren Sklavengesellschaften. In Athen lebten im 4. Jahrhundert schätzungsweise 150 000 Sklaven bei einer Gesamtbevölkerung von ungefähr 300 000. Beides, frei zu sein und Sklave zu sein, waren feste soziale und gesetzlich geregelte Status. Der Sklave war Besitz seines Herrn und seinem Willen unterworfen. Der Freie war hingegen nicht dem Willen eines anderen unterworfen, er war ohne das. Dieser institutionalisierte Gegensatz und der mit ihm verbundene Begriff der Freiheit wurde dann früh vom häuslichen Bereich auf die Polis übertragen. Eine Polis ist frei, wenn sie nicht dem Willen eines anderen unterworfen ist, dem Willen einer fremden Macht, die bestimmt, was zu geschehen hat. Und es kam zu einer weiteren Übertragung: Neben die außenpolitische Freiheit trat die Freiheit des Bürgers im Innern der Polis. Frei in diesem Sinn ist der, der nicht in einer Tyrannis lebt und nicht dem Willen eines Tyrannen ausgesetzt ist.

Frei zu sein bedeutet in diesen drei genannten Bereichen dasselbe: nicht der Sklave eines anderen zu sein. Frei zu sein bedeutet, ohne Befehle und Anordnungen eines anderen zu leben. Positiv formuliert: Frei zu sein heißt, das tun zu können, was man will, was man selbst will. [4] Dieser Gegensatz – „ein anderer bestimmt, was man tut“ und „man selbst bestimmt“ – markiert den Kern des Freiheitsideals.

Dazu passt, dass schon früh, im fünften Jahrhundert, ein anderer Begriff geprägt wurde, der die gleiche Sache auf etwas andere Weise zur Sprache bringt, der Begriff der Autonomie. Eine Polis ist autonom, wenn sie sich selbst die Gesetze gibt, und nicht eine andere Macht. Auch hier haben wir, hervorgehoben durch das auto, den Gegensatz: man selbst und nicht ein anderer.

Ich habe von dem Sog gesprochen, den die Idee der Freiheit im fünften und vierten Jahrhundert entwickelte. Es ist nicht leicht, zu verstehen, was zu dieser energetischen Aufladung des Freiheitswunsches geführt hat. Sklavengesellschaften gab es auch woanders. Aber soweit wir wissen, hat die Freiheitsidee nirgendwo die zentrale Stellung eingenommen wie in Griechenland seit dem fünften Jahrhundert. Natürlich hat die Erfahrung der griechischen Sklavengesellschaft und der große Anteil der Sklaven an der Gesamtbevölkerung eine Rolle gespielt. Ebenso hat die drohende Fremdherrschaft durch die Perser eine Rolle gespielt. Im Krieg gegen die Perser haben die Griechen ihre Freiheit verteidigt, und zugleich stärkte der Erfolg sie in der Überzeugung, dass die Freiheit für sie eine ungleich größere Bedeutung habe als für die Völker im Osten und dass darin wahrscheinlich der wichtigste Grund für ihren Sieg liege. [5] Man darf auch nicht übersehen, dass die Griechen Angst vor dem persönlichen Versklavtwerden hatten. Das konnte, wenn man Pech hatte, relativ leicht passieren. Man konnte schnell auf einem Sklavenmarkt landen. Etwa, wenn man, in der frühen Zeit, seine Schulden nicht bezahlen konnte, wenn die eigene Polis in einem der vielen Kriege besiegt wurde oder wenn man auf einer Seereise Piraten in die Hände fiel. Wenn man der Geschichte trauen darf, ist dies sogar Platon, dem Athener Aristokraten, passiert. Er soll während seines ersten Sizilienaufenthalts von dem Syrakuser Tyrannen Dionysios gefangengenommen und dann auf dem Sklavenmarkt von Ägina als Sklave verkauft worden sein. [6]

Wie immer man die historische Frage „Warum an diesem Ort, warum zu dieser Zeit?“ im Einzelnen beantwortet, auch für die Idee der Freiheit gilt offenkundig, dass die vornehmsten Ideale der Menschen kontrastiv aus elementaren NegativErfahrungen entstehen, aus der Erfahrung des Leids, der Gewalt, des Krieges, der Grausamkeit, der Demütigung – und eben auch aus der Erfahrung der Sklaverei und der Angst vor der eigenen Versklavung.

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Wir können jetzt festhalten: Freiheit ist wesentlich ein negativer Begriff. Frei zu sein bedeutet, ohne etwas zu sein. Und das gilt auch für die Freiheit im Handeln. Zweitens, Freiheit ist etwas Interpersonales oder Soziales. Man ist frei in der Beziehung zu anderen, und es geht darum, ob das Wollen eines anderen bestimmt, was man tut, oder das eigene Wollen. Die Frage „frei oder unfrei?“ stellt sich, weil Menschen über andere Menschen Macht ausüben können. Hieraus erklärt sich auch, dass man nicht über Freiheit sprechen kann, ohne die Frage zu stellen, welche politische Ordnung die richtige ist und wo die Grenzen politischer Machtausübung liegen.

Ich füge dem drei weitere Charakteristika hinzu. Zunächst: Im Handeln frei zu sein, ist etwas, was wir notwendigerweise wollen. Jeder hat dieses Wollen, und niemand kann sich davon losmachen. Caesar hat in De bello gallico gesagt, alle Menschen strebten von Natur aus nach Freiheit und hassten die Sklaverei. [7] Mit dieser Tatsache erklärte sich der Feldherr den hartnäckigen Widerstand seiner Gegner, auf den er regelmäßig stieß. Das „von Natur aus“ betont, dass es bei allen Menschen so ist, es gehört zur menschlichen Konstitution. Aber wie kann man dieses „von Natur aus“ verstehen? Eine überzeugende Erklärung bietet sehr viel später Kant. In seinen seit den 1770er Jahren gehaltenen Vorlesungen zur Anthropologie unterscheidet er „formale“ und „materiale“ Wünsche, Kant spricht von Neigungen. [8] Der Wunsch nach Freiheit ist ein formaler Wunsch. Damit ist Folgendes gemeint: Wenn man etwas tun will, will man immer auch, dass man nicht gehindert wird, das Gewollte zu realisieren. Man will, gleichgültig, was man materialiter will, ungehindert seinem eigenen Wollen folgen können. Diese Freiheit von einem Eingriff von außen ist immer die Bedingung dafür, das, was man will, auch tatsächlich tun zu können. Und deshalb ist die Freiheit, unabhängig davon, was man inhaltlich will, ein notwendiges Ziel der Menschen. [9]

Kant lässt keinen Zweifel daran, an welche Art von Hindernissen er denkt. „Diese Hindernisse […] nach unserer Neigung zu leben, legen uns“, so sagt er, „immer die Menschen: daher ist unsere Neigung der Freiheit, bloß auf Menschen gerichtet.“ [10] Es geht darum, nicht „unter der Herrschaft eines anderen“ zu stehen. [11] Dem entspricht Kants gleichsam offizielle Definition der Freiheit in den Druckschriften: Freiheit bedeute die „Unabhängigkeit von eines Anderen nöthingender Willkür“. [12] Auch hier besteht also das Freisein darin, dass etwas abwesend ist. Deshalb spricht Kant auch von einer „negativen Neigung“. [13]

Diese Überlegung Kants lässt uns verstehen, warum die Menschen, wie Caesar gesagt hat, „von Natur aus“ nach Freiheit streben. In der Notwendigkeit dieses Wunsches liegt eine grundsätzliche Differenz zu Wünschen wie denen nach Gleichheit oder Gerechtigkeit oder Brüderlichkeit. Keinen dieser Wünsche haben wir notwendigerweise. Der Wunsch nach Freiheit geht, eben weil wir ihn notwendigerweise haben, allen Unterschieden der Kulturen voraus. Die Menschen haben diesen Wunsch, weil sie Wesen sind, die etwas wollen.

Dass wir die Freiheit notwendigerweise wollen, besagt aber natürlich nicht, dass uns nicht anderes wichtiger sein kann. Wir können zweifellos etwas, was wir nicht notwendigerweise wollen, höher schätzen als die Freiheit. Hier gibt es Spielräume, und je nach ihrer Ausgestaltung unterscheiden sich die verschiedenen Lebensformen und Kulturen.

Ich will nebenbei wenigstens darauf hinweisen, dass Kant noch einen anderen – jetzt positiven – formalen Wunsch kennt, „die Neigung zum Vermögen“, das heißt zum Besitz der Mittel, die dafür nötig sind, das, was man tun will, auch zu realisieren. [14] Damit weist er darauf hin, dass, wenn jemand etwas wegen fehlender Mittel nicht tun kann, dies kein Fall von Unfreiheit ist, sondern etwas anderes. Das ist ein für das Verständnis des Freiheitsideals sehr wesentlicher Punkt. Er verdeutlicht noch einmal, dass das Freisein bedeutet, vom Willen eines anderen unabhängig zu sein. Manche wollen diesen Unterschied verwischen – oder finden die Gemeinsamkeit, nicht tun zu können, was man will, wichtiger als die Differenz in den Gründen für dieses Nicht-Können. Wie immer in solchen Fällen kann man auch in diesem Fall die Differenz betonen, wie Kant es tut, oder die Gemeinsamkeit herausstreichen, um sie als Brücke für die Erweiterung des Freiheitsbegriffs zu nutzen. Hier gibt es kein „richtig“ und „falsch“, sondern nur ein „tunlich“ oder „untunlich“. Man sollte sich allerdings bewusst sein, wie einschneidend die Veränderung ist, wenn man Kants Unterscheidung zwischen der negativen Bedingung der Freiheit und dem positiven Vermögen fahren lässt. Man gibt damit zwei Kernelemente des Freiheitsbegriffs auf, nämlich dass frei zu sein bedeutet, frei von etwas zu sein, und dass Freiheit etwas Interpersonales, etwas in Beziehung zu anderen ist. Ich gehe auf diese umkämpfte und politisch aufgeladene Frage nicht weiter ein.

Kants grundlegende Einsicht, dass der Wunsch nach Freiheit ein formaler Wunsch ist, lässt noch eine weitere wesentliche Eigenschaft der Freiheit erkennen. Frei zu sein ist bloß die negative Bedingung dafür, das eigene – materiale – Wollen zu realisieren. Freiheit bedeutet deshalb nur, dass es einen freien Raum gibt, in dem das Individuum nach seinen Wünschen leben und sein Glück suchen kann. Die Freiheit lässt aber völlig offen, welche Wünsche es sind, die man in diesem Raum verfolgt. Das bleibt jedem selbst überlassen. Der Zustand der Freiheit enthält keinerlei Festlegungen oder Ansprüche für die materialen Wünsche, die diesen Raum füllen. Es ist, wie wir noch sehen werden, von großer Bedeutung für das Verständnis der Freiheitsidee, diese wesentliche Offenheit des Freiseins klar vor Augen zu haben.

Kants Einsicht bringt noch ein drittes, kaum beachtetes, aber äußerst bedeutsames Charakteristikum der Freiheit ans Licht: Wir wollen die Freiheit extrinsisch und nicht intrinsisch. Das heißt, wir wollen sie um anderer Dinge willen, nicht um ihrer selbst willen. Wir wollen frei sein, weil es die Bedingung dafür ist, das zu erlangen, was wir eigentlich, was wir materialiter wollen. Wir wollen die Freiheit im Dienste unserer eigentlichen Ziele. Dass es so ist, geht bereits aus der Definition der Freiheit als Tun-Können, was man will, hervor. Das eine ist das, was man will, das andere ist das Tun-Können. Und am Tun-Können ist man – extrinsisch – interessiert im Dienste dessen, was man will. Das ist ein überraschender, vielleicht zunächst irritierender Befund. Er wirft eine Reihe schwieriger Fragen auf: so die Frage, wie es möglich ist, etwas, was nur extrinsisch gewollt ist, einen so hohen Stellenwert zuzusprechen. Man kann glauben, diese hohe Stellung setze voraus, die Freiheit nicht nur extrinsisch, sondern auch intrinsisch, also auch um ihrer selbst willen zu wollen. Und dann würde sich die Frage anschließen, welche Motive es sein könnten, aus denen wir die Freiheit auch intrinsisch schätzen.

Statt hierauf im Detail einzugehen, möchte ich nur folgendes festhalten: Es ist gewiss so, dass man das Freisein auch intrinsisch wollen kann. Es ist immer wieder gesagt worden, unfrei zu sein, dem Willen eines anderen unterworfen zu sein, bedeute eine Dehumanisierung oder eine Degradierung des Menschen. Wer die Freiheit verliert, verliert, so hat Rousseau gesagt, das Menschsein. [15] Nun sind auch Sklaven Menschen, „Mensch“ ist in diesen Vorstellungen also in einem idealen Sinn verstanden. Man hat eine Idee davon, wie ein Mensch leben sollte. Und wenn man so leben will, um seiner selbst willen, ganz unabhängig davon, welche anderen Ziele es befördert, und wenn das Freisein Teil eines solchen Lebens ist, dann will man die Freiheit um ihrer selbst willen. Dieser intrinsische Wunsch kann äußerst stark sein, er kann sogar der stärkste Wunsch sein, den jemand hat. Aber er ist offenkundig von anspruchsvollen Vorannahmen abhängig, wir haben diesen Wunsch nicht notwendigerweise. Der extrinsische Wunsch nach Freiheit ist hingegen von vergleichbaren Prämissen unabhängig, wir haben den Wunsch notwendigerweise, wir haben ihn, wie gesagt, weil wir überhaupt etwas wollen. Die Freiheit extrinsisch zu wollen ist das basale Phänomen. Sie intrinsisch zu wollen ist etwas Hinzukommendes. Für die Griechen war man frei, wenn man tun kann, was man will, und man war Sklave, wenn man Befehlen und Anordnungen eines anderen gehorchen muss. Von Dehumanisierung oder davon, dass, wer nicht frei ist, kein Mensch ist, haben sie, soweit ich sehe, nicht gesprochen. Das sind sehr viel spätere Vorstellungen. Auch dies unterstreicht, dass der Freiheitswunsch primär extrinsisch ist.

Und noch etwas ist wichtig: Selbst wenn man die Freiheit auch intrinsisch anstrebt, bleibt sie ihrem Wesen nach eine bloße Bedingung dafür, das zu tun, was man will. Sie bleibt eine bloße negative Bedingung dafür, sein eigenes Wollen, was immer sein Gegenstand ist, in die Tat umzusetzen. Sie steht immer im Dienste dessen, was wir materialiter wollen. Die Freiheit ist deshalb ein wesentlich extrinsischer Wert. Daran ändert die Tatsache, dass sie auch intrinsisch gewollt werden kann, nichts.

Daran würde sich auch nichts ändern, wenn sich zeigen ließe, dass, die Freiheit intrinsisch zu wollen, mit der menschlichen Konstitution gegeben ist, dass wir diesen Wunsch gar nicht nicht haben können und dass er deshalb der Fundierung in hochstufigen Vorstellungen von einem idealen Menschsein oder von einem besonderen Rang der Menschen nicht bedarf. Folgende Annahmen gehen in diese Richtung: Die Menschen wollen, so die Idee, dass sie zählen, dass sie jemand sind. Man will nicht übersehen, nicht übergangen, nicht hin- und hergeschoben werden. Man will etwas sein, und das soll zählen und Anerkennung finden. Dies will man intrinsisch. Man fühlt sich schlecht, wenn es anders ist. Nun kann man offenkundig nur jemand sein, wenn man nicht der Sklave eines anderen ist, sondern frei ist, selbst über sein Tun und Lassen zu bestimmen. Nur dann zählt man. Ist der Freiheitswunsch in dieser Weise verankert, ist er ein intrinsischer Wunsch und zudem ein Wunsch, den jeder Mensch hat. Jeder will dann intrinsisch die Freiheit. Und damit wäre dieser Wunsch unabhängig von anspruchsvollen Vorannahmen.

Aber auch wenn man diese Überlegung überzeugend findet, bleibt es dabei, dass die gewollte Freiheit ihrem Wesen nach nur die negative Bedingung dafür ist, das eigene Wollen, wie immer es ausfällt, in die Tat umzusetzen. Es bleibt dabei, dass sie immer im Dienste dessen steht, was wir materialiter wollen. Es bleibt deshalb dabei, dass die Freiheit in diesem Sinne ein wesentlich extrinsischer Wert ist.

Dass die Offenheit und die Extrinsizität konstitutive Elemente der Freiheit sind, bestätigt sich auch aus einer anderen Perspektive. Es ist für unser Leben entscheidend, dass wir, wenn wir frei sind, innerhalb des Freiheitsraumes etwas von ganzem Herzen wollen, dass es etwas gibt, woran uns wirklich liegt, dass es Dinge gibt, für die wir uns um ihrer selbst willen engagieren und die wir lieben.

Wenn das nicht der Fall ist, wenn man nicht mehr hat, als die Zeit tot zu schlagen, dann wird man seiner Freiheit nicht froh, dann ist sie einem zu nichts nutze. Genau dies haben die Kritiker der freiheitlichen Lebensform vor Augen. Sie sagen, kurz zusammengefasst: Ihr seid frei, aber euer Leben hat kein Ziel, keinen Inhalt. Es ist leer, und deshalb nützt euch eure so gefeierte Freiheit nichts. In dieser Kritik tritt die Spezifik der westlichen Lebensform, ein extrinsisches Ziel in den Mittelpunkt zu stellen und offen zu lassen, welche Ziele die Individuen innerhalb des Freiheitsraumes verfolgen, sehr deutlich hervor. Gerade in der wesentlichen Extrinsizität und Offenheit des zentralen Wertes liegt die großartige und zugleich äußerst ambivalente Besonderheit dieser Form des Lebens.

4

Ich habe jetzt, so hoffe ich, mit einigen groben Strichen den Kern des Freiheitsideals fixiert: Frei zu sein, bedeutet, dass nicht ein anderer bestimmt, sondern man selbst. Dieses Verständnis wurde, wie schon gesagt, in der Geschichte des Begriffs kontinuierlich diskutiert, kritisiert, erweitert, umgedeutet. Dabei kam es schon früh zu verschiedenen falschen Weichenstellungen mit erheblichen Konsequenzen für das Denken und Sprechen der Menschen und damit auch für ihr Tun. Ich möchte im folgenden kurz drei Einwände gegen das Freiheitsideal kommentieren. Ich gehe dazu zurück in die Antike, genauer zu Platon und seiner historisch überaus folgenreichen Kritik am gängigen Freiheitsverständnis, frei sei der, der tun kann, was er will.

Ein erster Kritikpunkt war dieser: Das Streben nach Freiheit ist, so Platon, unersättlich, man will immer mehr davon. [16] Man strebt am Ende nach einem Leben ganz ohne Einschränkungen, und das führt, so die leicht nachvollziehbare Diagnose, ins politische Verderben. Es unterminiert die Autorität der Gesetze. Denn natürlich bringen Gesetze den Willen eines anderen, des Gesetzgebers, zur Geltung, und sie nötigen einen, sich entsprechend zu verhalten. Auch wenn sie von der Volksversammlung beschlossen werden, kann es zu einem Konflikt mit dem eigenen Wollen kommen. Und wenn nur letzteres zählt, kommt es zur Aushöhlung der gesetzlichen Ordnung und letztlich zur Anomie, zur Gesetzlosigkeit. Auch besteht die Gefahr, dass sich die Volksversammlung, die politische Administration und die Volksgerichte selbst nicht mehr an die Gesetze halten. Das Sinnbild des uneingeschränkt Freien war für die Griechen der Tyrann. Der Tyrann, gehasst und zugleich bewundert, kann ohne alle Einschränkung tun, was er will. Er ist durch kein Gesetz gebunden. Damit verkörpert er die platonische Gleichung: uneingeschränkte Freiheit gleich vollkommene Gesetzlosigkeit. [17]

Man könnte glauben, was Platon hier vorbringt, sei doch selbstverständlich. Wer plädiere denn für eine uneingeschränkte, totale Freiheit? Doch Platon hatte aufgrund verschiedener Ereignisse in der jüngsten Geschichte Athens Anlass, die Gefahr der Gesetzlosigkeit im Namen der Freiheit zur Sprache zu bringen. Eines dieser Ereignisse war der Arginusenprozess, der 406 in Athen stattfand. Die Arginusen sind eine kleine Inselgruppe in der nördlichen Ägäis. Dort fand im Sommer 406 eine große Seeschlacht zwischen Athenern und Spartanern statt, mit insgesamt 300 Schiffen. [18] Die Athener siegten, verloren aber 25 ihrer Schiffe. Man versuchte, die Schiffbrüchigen zu bergen, das misslang jedoch wegen eines starken Unwetters, so dass viele starben.

Die verantwortlichen Generäle mussten sich vor der Volksversammlung in Athen rechtfertigen. [19] Als in dem Prozess der Verdacht aufkam, dass die Verfahrensregeln nicht eingehalten würden, man also gesetzwidrig verfahre, schrien die Leute, „es sei ungeheuerlich, wenn man das Volk hindere, zu tun, was es wolle“. [20] In dieser Stimmung des uneingeschränkten Freiseins wurden die Generäle zum Tode verurteilt und gleich danach hingerichtet. Schon bald sah man in dem Prozess einen Justizskandal erster Güte und einen verheerenden Tiefpunkt in der Geschichte der griechischen Demokratie. Platon hält in der Apologie ausdrücklich fest, dass das Vorgehen gegen die Generäle gesetzeswidrig war. [21]

Man braucht nicht lange darüber nachzudenken, die Organisation des Zusammenlebens verlangt Gesetze und Regeln. Zumindest ein wesentlicher Grund ergibt sich aus dem Freiheitsstreben selbst. Weil die eigene Freiheit durch die Freiheit der anderen bedroht ist, dienen die Gesetze der eigenen Freiheit. Denn sie binden die anderen. Und dass man dann auch selbst den Gesetzen unterliegt, ist der unvermeidliche Preis für diesen Vorteil. Man gibt Freiheit ab, um die verbleibende Freiheit zu sichern.

Wenn die Notwendigkeit von Gesetzen und der Wunsch der Menschen, nicht der Sklave eines anderen, auch nicht der eines Gesetzgebers, zu sein, zusammengebracht werden müssen, stellt sich die Frage, welches die richtigen Gesetze sind.

Platon stellt sie in der Form: Wer muss herrschen? Wer muss der Gesetzgeber sein? Und welche Qualifikation muss er mitbringen? Die entscheidende Qualifikation ist in seinen Augen ein bestimmtes Wissen, die sophia. Der Gesetzgeber muss wissen, was das eigentliche Ziel im Leben der Menschen ist und wie man es erlangt, und die Gesetze dann dementsprechend ausgestalten. Wir stoßen hier auf das platonische Wissens-Paradigma, das uns noch wiederbegegnen wird. Und wir ahnen bereits, dass in dieser Konzeption der Wert des Wissens und damit des Wahren und Richtigen den Wert der Freiheit übertrumpft und tatsächlich beiseite schiebt.

Wenn es uns um unsere Freiheit geht, scheint es besser, die Frage, welches die richtigen Gesetze sind, anders anzugehen und zu fragen: Wie müssen Gesetze sein, damit man nicht ihr Sklave ist? Damit sie vielmehr mit dem Streben der Menschen nach Selbstbestimmung vereinbar sind? Wenn man so fragt, folgt die Antwort wie von selbst aus der Logik der Sache: Allein die Gesetze sind richtig, die von den Betroffenen selbst gewollt sind, die die Freiheit also in einer Art beschränken, die von den Betroffenen um ihrer Freiheit oder um anderer Ziele willen selbst gutgeheißen wird. Dies ist die Grundintuition der kontraktualistischen Tradition, die ihre Ursprünge selbst in der Antike hat, allerdings außerhalb der platonischen Philosophie, und die dann in der Moderne seit dem 17. Jahrhundert zu einer dominanten Strömung des politischen Denkens wurde. Von einem Gesetz muss man denken können, dass ihm jeder Betroffene in einer Situation, in der man sich über die Regeln des Zusammenlebens verständigt, zustimmen würde. Ein zentrales – und unaufgebbares – Element der kontraktualistischen Tradition, von Hobbes bis Gauthier, ist die Einstimmigkeit. Jeder Einzelne muss zustimmen können, dann ist niemand der Sklave der Gesetze.

Im Licht dieser Überlegung tritt deutlich zutage, dass die eigentliche Quelle der kontraktualistischen Idee das Freiheitsideal ist. Wir wollen nicht der Sklave eines anderen sein, auch nicht der Sklave von Gesetzen und Gesetzgebern. Wie man diese Idee in einem Staat von 80 Millionen Bürgern wie dem unsrigen umsetzt, ist eine bleibende, immer neu zu stellende Frage. In jedem Fall weist sie, gegen Platon, klar in die Richtung einer demokratischen Verfassung, und zwar einer demokratischen Verfassung, die weder Sklaven noch die Exklusion von Frauen kennt.

5

Ich komme zu einem zweiten Einwand Platons gegen die Idee, frei sei, wer tun kann, was er will. Während bis dahin unangefochten die für den Freiheitsbegriff entscheidende Entgegensetzung die zwischen dem Wollen eines anderen und dem eigenen Wollen war und an dem eigenen Wollen nur wichtig war, dass es eben das eigene ist, richtet Platon im Gorgias seine Aufmerksamkeit nun auf die Qualität des eigenen Wollens. Sein Grundgedanke geht dahin, dass, tun zu können, was man will, immer dann keine Freiheit bedeutet, wenn das eigene Wollen einen Mangel aufweist, wenn es nämlich ohne Einsicht in das wahrhaft Gute, in das wahrhaft Wollenswerte ist. Wir stoßen hier wieder auf das platonische Wissens-Paradigma. Man muss wissen, was das höchste Gut der Menschen ist und was man tun muss, um es zu erreichen. Nur ein Wollen, das von diesem Wissen geleitet ist, ist ein wirkliches Wollen, alles andere ist eine privative Form des Strebens, die nur auf das geht, was einem das Beste zu sein scheint. Und nur wenn das Wollen vom Wissen gesteuert ist, ist der, der tun kann, was er will, frei. Auf dieser Linie kann Platon dann auch gegen die verbreitete Vorstellung argumentieren, der Tyrann sei der Inbegriff des Freien. Denn er könne ohne Einschränkung tun, was er will. Platon setzt dem entgegen, dass der Tyrann nicht weiß, was das Gute ist, und deshalb die falschen Dinge will. Folglich sei der Tyrann nicht frei, sondern unfrei. [22]

Wir sehen, wie eingreifend der Freiheitsbegriff hier verändert und aus seinem Ursprungskontext herausgelöst wird. Der Blick wechselt von der Frage „Was bestimmt, was ich tue, das Wollen eines anderen oder das eigene Wollen?“ hin zu der Frage: „Ist das, was ich will, ein echtes Wollen oder nur ein blindes Wollen ohne Einsicht?“ Für die Frage „frei oder unfrei?“ ist jetzt die Qualität des

Wollens und damit, ob man das Richtige oder das Falsche will, der entscheidende Gesichtspunkt. Folglich kann man auch ohne Eingriff von außen unfrei sein.

Lassen wir die Frage beiseite, ob denn dieses spezielle Wissen, das Platon fordert, überhaupt zu gewinnen ist. Im Hintergrund dieser Wissenskonzeption steht ein Objektivismus, nämlich die Vorstellung, die Welt, wie sie unabhängig von uns ist, enthalte eine Antwort auf die Frage, was das Beste für den Menschen und sein eigentliches Lebensziel ist. Wir haben jedoch, wie ich meine, keinen Grund, anzunehmen, dass es objektive evaluative oder normative Tatsachen dieser Art gibt, und deshalb auch keinen Grund für die Annahme, dass es das von Platon angezielte Wissen überhaupt gibt. Und wir haben deshalb auch keinerlei Grund, anzunehmen, es gebe, wie Platon meint, für den Menschen nur eine richtige Art zu leben. Hier wäre also eine philosophische Kritik am Platz. Aber mir geht es um einen anderen Punkt.

Das Verständnis der Freiheit als Tun-Können, was man will, lässt, wie wir sahen, völlig offen, was es ist, was man will. Darauf kommt es gerade nicht an. Das ist für die Frage, ob jemand in seinem Handeln frei ist, ohne Belang. Platon duldet diese Offenheit nicht. Für die „wahre“ Freiheit, so denkt er, ist es entscheidend, was man will. Innerhalb des Freiraums des Tun-Könnens muss es in die richtige Richtung gehen. Man muss das Gute, das objektiv Wollenswerte wollen. Und was das ist, wissen allenfalls wenige. Diese Verformung des Freiheitsbegriffs findet ihre Fortsetzung mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer verhängnisvollen Gedankenfolge. Man kann denken: Ich weiß besser als der andere, was er, unabhängig von seinem faktischen Wollen, eigentlich will oder wollen würde, wenn er nur hinreichend aufgeklärt wäre. Wenn ich, so weiter, den anderen nötige, das zu tun, was für ihn tatsächlich gut und richtig ist, tut er damit in Wahrheit nur das, was er selbst eigentlich will. Und deshalb ist er, wenn er so handelt, frei. Er ist also frei, wenn er das tut, wozu ich ihn nötige. Wenn man für das „ich“ in dieser Gedankenfolge den Staat, die Partei, den obersten Führer, die Kaste, die Kirche oder den Wächterrat einsetzt, sieht man, wohin das platonische Manöver führen kann und faktisch vielfach geführt hat: zur Unterdrückung der Menschen im Namen ihrer eigenen Freiheit, gerechtfertigt durch ein höheres Wissen.

Isaiah Berlin hat 1958 in seiner Antrittsvorlesung „Two Concepts of Liberty“ in Oxford in aller Eindringlichkeit auf diese Traditionslinie hingewiesen. Der Sklave eines anderen zu sein, wird hier zur wahren Freiheit. Darin liegt offenkundig eine Perversion des Freiheitsbegriffs. Es bestätigt sich also, dass externes besseres Wissen, vermeintliches oder auch tatsächliches, häufig beglaubigt durch eine behauptete vorgegebene Objektivität, eine der größten Gefahren für die Freiheit ist. Selbst wenn man annimmt, ein Eingriff von außen, sprich: ein Zwang, könne in Einzelfällen aufgrund besseren Wissens gerechtfertigt sein, ändert das nichts daran, dass den Betroffenen damit zugunsten höherer Ziele die Freiheit genommen wird.

Weniger weitgehend, aber nicht weniger bedrohlich sind Versuche, die die für die wirkliche Freiheit notwendige Qualität des Wollens nicht in der Ausrichtung auf bestimmte Inhalte sehen, sondern in eher formalen Eigenschaften des Wollens. Das Wollen muss, so diese Ideen, in jedem Fall rational sein, oder es muss kultiviert oder authentisch sein, oder es muss moralisch unbedenklich sein. Nur dann, so hat man immer wieder gemeint und so meint man bis in unsere Tage, nur dann sei, wer tun kann, was er will, frei. Alles andere sei eine Scheinfreiheit. Jeremy Bentham hat dem die Frage entgegengestellt: Ist die Freiheit, etwas Schlechtes zu tun, keine Freiheit? [23] Auch diese Konzeptionen folgen der platonischen Überlegung, auch sie ertragen es nicht, dass es für das Freisein ohne Belang ist, was man will, dass es nur darauf ankommt, dass es ein eigenes Wollen ist. Auch diese Konzeptionen ziehen den Freiheitsbegriff von seinem eigentlichen Kern weg und nennen etwas anderes „Freiheit“. Es sind, wie jeder sieht, zwei sehr verschiedene Dinge, über jemanden zu sagen, er sei nicht frei, das zu tun, was er will, und über ihn zu sagen, mit seinem Wollen stimme etwas nicht, es sei unaufgeklärt, primitiv oder moralisch anstößig.

6

Jetzt zu einem dritten Kritikpunkt, den Platon gegen die Idee der Freiheit, verstanden als Tun-Können, was man will, vorbringt. Platon führt in der Politeia eine Dreiteilung der Seele ein. In den drei Seelenteilen sind verschiedene Motivationen angesiedelt, im unteren das Streben nach Essen, Trinken, Sex und Geld, im mittleren Seelenteil das Streben nach sozialem Rang und Reputation und allem, was damit zusammenhängt, im oberen Seelenteil dann das Streben nach Wahrheit und Wissen zusammen mit den entsprechenden kognitiven Fähigkeiten. Jeder dieser Seelenteile strebt danach, in der Seele zu dominieren und die anderen Teile kleinzuhalten.

Nun wird das eigentliche Selbst des Menschen mit dem oberen Seelenteil identifiziert. Durch ihn sind die Menschen von den Tieren unterschieden, die keine Vernunft besitzen und das hier angestrebte Wissen nicht kennen. Und zugleich bedeutet der obere Seelenteil eine Verbindung mit dem Göttlichen, mit ihm haben die Menschen, wie Platon ausdrücklich sagt, etwas „Göttliches“ in sich. [24] Kein Wunder also, dass dieser Seelenteil zum Herrschen über die anderen Seelenteile bestimmt ist. [25] Die unteren Seelenteile finden sich hingegen auch bei den Tieren. Sie bilden den animalischen Anteil in der Konstitution der Menschen. Dieses Schema – der Mensch als eine Art Zwischenwesen zwischen den Göttern und den Tieren mit den Optionen hinauf zum Göttlichen oder hinab zum Tierischen – dominiert dann über weite Strecken die europäische Denkgeschichte. Wir finden es etwa als ein prägendes Element in der Philosophie Kants.

Das Schema führt bei Platon zu der Conclusio, dass, wenn einer der unteren Seelenteile dominiert und das Handeln bestimmt, die jeweilige Person versklavt ist und sie, wenn sie tut, was sie in dieser Weise will, nicht frei ist. [26] Sie tut dann „am wenigsten das, was sie will“. [27] Denn ihr faktisches Wollen ist ihr dann äußerlich, es ist nur ein animalisches Element in ihr. Die Person ist also versklavt durch etwas in ihr selbst, durch etwas Fremdes, etwas Tierisches in ihr. [28] Eigene, ihr aber fremde Antriebe halten sie davon ab, das Gute zu tun, also das, was sie eigentlich, ihrem Wesen nach will. [29]

In dieser Konzeption wird die für den Freiheitsbegriff zentrale Unterscheidung – das eigene Wollen versus das Wollen eines anderen – internalisiert. Ein Wollen, das mich zu versklaven vermag, existiert jetzt in meiner eigenen Seele. Wenn es meine Handlungen bestimmt, bin ich unfrei. Es gibt jetzt ein Versklavtsein durch sich selbst. Ein bestimmtes eigenes Wollen ist jetzt die fremde Macht, die über mich bestimmt.

Auch in dieser Konzeption kann jemand, der im ursprünglichen Sinne frei ist, weil er selbst bestimmt, was er tut, dennoch versklavt sein, eben durch sein eigenes Wollen. Der Freiheitsbegriff wird damit erneut erheblich verändert. Das eigene Wollen, das bestimmt, was man tut, muss erneut eine bestimmte Qualität haben, es muss aus einer vom oberen Seelenteil geordneten und dominierten Seele kommen. Was diese Dominanz- und Ordnungsfunktion ermöglicht, ist wiederum das Wissen des Guten, nach dem der obere Seelenteil strebt und über das er idealerweise verfügt. Es bleibt also bei der Zentralstellung des Wissens, der sophia.

Die Dreiteilung der Seele und ihre Ausgestaltung bei Platon ist nicht nur eine Konstruktion. Natürlich beansprucht sie, konkrete Lebenserfahrungen aufzugreifen und zu artikulieren. Und es gibt in der Tat innere Zwänge und Wünsche, die man gerne los wäre, die aber doch immer wieder das Handeln bestimmen. So etwa den suchthaften Wunsch, der eine Person immer neu an den Spieltisch treibt. Das Wollen hat als Wollen gewiss eine besondere Bindung an das Ich, es macht in bestimmter Weise unser Ich aus. Dennoch gibt es diese speziellen Wünsche, die alles andere, was wir wollen, beiseite schieben und gegen unser überwiegendes Wollen und gegen den Versuch ihrer Beherrschung handlungsleitend werden. [30]

Es ist naheliegend, hier im übertragenen Sinn von innerer Unfreiheit zu sprechen. Aber eine solche Form der inneren Unfreiheit ist, so meine ich, ein besonderes und begrenztes Phänomen. Und diese besonderen Wünsche, die an der Überlegung vorbei handlungsleitend werden, haben ihre rebellische Natur nicht dadurch, dass sie auf bestimmte Inhalte gehen, sondern durch den Modus ihres Wollens. [31]

Es scheint nicht überzeugend, zu sagen, wer körperliche Vergnügungen und Geld oder wer Ehre und Ansehen anstrebt und in wessen Leben diese Wünsche Dominanz gewinnen, der werde durch sie versklavt und sei in seinem Handeln unfrei. Die betreffende Person will es so, sie steht durch ihr Wollen hinter ihren Handlungen, diese Handlungen erlangen für sie dadurch, dass sie sie will, Bedeutung und Gewicht. Die Person handelt aus sich, aus ihrem Wollen, sie ist nicht unfrei, und sie kommt sich auch nicht so vor.

Man kann nicht bestimmte Wünsche aufgrund eines „höheren“ Wissens, weil sie in ihrer Ausrichtung vermeintlich „niedrig“ sind, aus dem Ich expropriieren und zu etwas Fremdem in uns machen, durch das man dann versklavt wird. Hier müsste, um das weiter zu explizieren, eine tiefergehende Kritik an der Dissoziation von Ich und einem Wollen in uns ansetzen. Vielleicht reichen die wenigen Bemerkungen jedoch aus, um wenigstens anzudeuten, dass Platons Theorie der Versklavung durch sich selbst nicht nur die Gewichte der Freiheitsidee deutlich verschiebt, sondern auch in sich nicht zu überzeugen vermag.

Das ändert allerdings nichts daran, dass die Idee der inneren Versklavung eine bis heute anhaltende Wirkung entfaltet hat. Es sei noch einmal auf Kant verwiesen. Er spricht von Neigungen, wir sind aufgrund unserer Natur geneigt, bestimmte Dinge zu tun. Wenn wir uns von diesen Neigungen bestimmen lassen, leben wir das Leben von Tieren. Die Tiere sind von der Natur mit bestimmten Impulsen ausgestattet und können nicht anders, als ihnen zu folgen. Bei den Menschen ist der Mechanismus gewiss komplizierter, Menschen haben ein Zukunftsbewusstsein, sie haben Sprache, und dadurch entsteht eine wesentlich komplexere Form der Rationalität. Aber grundsätzlich bleibt es, meint Kant, dabei, dass sie sich, wenn die ursprünglichen Impulse aus ihren naturhaften Neigungen kommen, auf einem animalischen Niveau bewegen. Kant sagt nun, dass wir, wenn wir auf diesem Niveau agieren, heteronom leben. [32] Wir werden durch etwas anderes, uns Fremdes und Äußerliches, „durch den Willen der Natur“ bestimmt. [33] Wir leben dann nach den Gesetzen einer uns fremden, einer uns vorgegebenen Instanz. Kant zögert nicht, vom Versklavtsein zu sprechen. [34] Das heißt, wenn wir unseren eigenen Neigungen folgen, sind wir versklavt und unfrei. Worauf es ankommt, ist, das eigene Handeln nicht durch seine Neigungen bestimmt sein zu lassen, sondern durch eine höhere, „nicht im Dienste der Neigungen“ stehende Vernunft. [35] Nur dadurch erlangen wir Autonomie und das Niveau eines wirklich menschlichen Lebens. Nur so machen wir uns frei von den Fesseln der Natur und erheben uns über sie.

Auch hier stoßen wir also auf die Vorstellung des inneren Versklavtseins. Kant kennt, so zeigen diese Überlegungen, neben der Freiheit, verstanden als buchstäbliche Unabhängigkeit vom Willen eines anderen, noch eine zweite Freiheit: das Freisein von der eigenen animalischen Natur.

Hieran schließt sich dann zwanglos ein weiterer, bereits alter Gedanke an: Die Natur ist bestimmt durch Kausalität. Wer sich, zumindest in manchen seiner Handlungen, frei macht von der Natur, macht sich auch frei von den Gesetzen der Kausalität. Und damit öffnet sich die Tür zu der Vorstellung einer Freiheitssphäre außerhalb der Naturkausalität. Frei zu sein bedeutet dann, nicht der Kausalität zu unterliegen. Eine Person, die frei ist, wird damit zu einem transzendenten Wesen, das außerhalb der Naturkausalität agiert. [36] Man sieht, wohin Kants Freiheitskonzeption führt.

7

Ich komme zu meinem abschließenden Plädoyer. Wir haben gesehen, wie der Freiheitsbegriff schon früh, im vierten Jahrhundert bei Platon, einschneidend verändert, umgedeutet und von seinem Kern weggezogen wurde. Die ungemein einflussreichen Umformungen, die Platon vornahm, verdunkelten die Idee der Freiheit, und sie bereiteten den Weg für weitergehende Fehlentwicklungen. Die Anstößigkeit des Freiheitsideals lag – und liegt bis heute für viele – darin, dass die Freiheit nicht selbst bestimmt, wozu man sie gebraucht. Das bleibt gerade offen, und genau in dieser Offenheit liegt die Besonderheit der Sache.

Es wäre eine falsche Konsequenz aus dieser Diagnose, puristisch darauf zu beharren, dass der Begriff der Freiheit exklusiv in seiner ursprünglichen, im fünften Jahrhundert gefassten Bedeutung verwendet werden dürfe. Selbstverständlich muss die Freiheitsidee in sich verändernden historischen Kontexten immer neu ausgelegt werden. Wir blicken auf eine lange Geschichte dieser Auslegungen zurück. Man denke nur an das Aufkommen eines religiösen Pluralismus innerhalb einer Gesellschaft und die darauf antwortende Einrichtung der Religionsfreiheit. Selbstverständlich muss immer neu darüber nachgedacht werden, wie die Freiheitsidee in die Organisation des politischen Lebens umgesetzt werden kann. Und es ist gewiss naheliegend, den Begriff vorsichtig mit zusätzlichen Bedeutungskomponenten anzureichern. Die vorausgegangenen Überlegungen haben selbst darauf hingewiesen, dass es jenseits des ursprünglichen Freiheitsverständnisses sinnvoll ist, von so etwas wie einer inneren Unfreiheit zu sprechen. Dennoch möchte ich dafür plädieren: Vergessen wir, wenn wir über den Begriff der Freiheit nachdenken, darüber, wie sehr wir an der Freiheit interessiert sind und warum diese Idee in der europäischen, von der griechischen Philosophie geprägten Kultur eine so herausragende Rolle spielt und spielen sollte, vergessen wir nicht, was der eigentliche Kern der Sache ist und worum es eigentlich geht. Frei zu sein, bedeutet, tun zu können, was man will, was man selbst will, und unfrei zu sein, bedeutet, das tun zu müssen, was ein anderer will. Das ist die Freiheit, für die die Griechen gegen externe Fremdherrschaft und gegen die Tyrannis im Inneren gekämpft haben, und das ist die Freiheit, für die die Menschen heute in der Ukraine, in Belarus, in Russland und in vielen anderen Staaten kämpfen. Sie wollen nicht der Sklave eines anderen sein.

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Published Online: 2022-10-14
Published in Print: 2022-10-26

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 4.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/dzph-2022-0040/html
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