„Jeder weiß, dass die Menschenwürde einen, wenn nicht den höchsten Wert darstellt, der uns zur moralischen Beurteilung, vor allem aber zur moralischen Verurteilung zur Verfügung steht.“ Dieses Statement setzt der Bielefelder Professor für praktische Philosophie Ralf Stoecker an den Anfang seines 2019 erschienenen Buches Theorie und Praxis der Menschenwürde. Obgleich häufig ein Konsens darüber herrscht, dass man bei bestimmten Missständen auf die Menschwürde rekurriert, so ist der zugrunde liegende Maßstab gerade dasjenige, was eine philosophische Untersuchung zu bestimmen hat. Diesen zu erhellen ist Zielsetzung der von 2003 bis 2018 entstandenen Beiträge Stoeckers, welche in der vorliegenden Essaysammlung im Zusammenhang zugänglich gemacht werden. Er selbst bezeichnet sie als Zwischenbilanz seiner Untersuchung zur „systematischen Vielfalt“ und „historischen Tiefe“ des Menschenwürdebegriffs.

Stoecker gliedert sein Werk in zwei Teile – einen theoretischen und einen praktischen. Letztgenannter wird weiter in drei Abschnitte untergliedert: „Menschenwürde in der medizinischen Ethik“, „Menschenwürde in weiteren Bereichen der angewandten Ethik“ und „Leben mit Menschenwürde“. Hierbei nähert er sich dem Thema mit einer dreigeteilten Methode: Erstens zeigt er die historische Entwicklung des Würdebegriffs und die daraus resultierenden Auswirkungen auf das heutige Verständnis der Menschenwürde auf. Zweitens führt er eine negative Betrachtung der Menschenwürde durch, indem der Begriff anhand von Würdeverletzungen erörtert wird. Drittens untermauert er den Stellenwert der Menschenwürde mit einer induktiven Strategie, welche deren Bedeutung in verschiedenen Anwendungskontexten aufzeigt.

Den Einstieg in das Buch bildet eine Übersicht zeitgenössischer Verwendungen des Menschenwürdebegriffs (Kap. 1), welche sich über eine Vielzahl von Bereichen erstrecken. Dabei wird schnell die Ungenauigkeit und Mehrdeutigkeit in der Verwendung des Begriffs ersichtlich. Anhand einer Analyse des Begriffs der Entwürdigung versucht Stoecker im zweiten Kapitel zu einer Präzisierung des Begriffs der Menschenwürde zu gelangen: Sie liegt in dem „Anrecht auf eine eigene Rolle als Mensch, [auf] ein Selbst“; „[j]emanden daran zu hindern, ein solches Selbst aufzubauen oder beizubehalten, ist das Kennzeichen menschenunwürdiger Behandlungen“, so Stoecker (S. 49).

Im Zuge einer Diskussion um das Verhältnis von Embryonen und Selbstachtung erörtert Stoecker in Kapitel 3 den Begriff der Achtung. Hierbei thematisiert er die individuelle (im weiteren Verlauf der Forschung auch kontingent genannte) Würde, welche die Persönlichkeit, das Selbst eines Menschen betrifft. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Selbstachtung in der Sorge um die Verletzlichkeit jener individuellen Würde liegt, obgleich Selbstachtung keine notwendige Bedingung für Menschenwürde ist. Anschließend (Kap. 4) argumentiert Stoecker für die unbedingte Achtung der Menschenwürde und ihre zentrale Rolle in der normativen Ethik. Gleichwohl macht er deutlich, dass nicht jede Würdeverletzung eine fundamentale Menschenwürdeverletzung darstellt. Die darauf folgende historische Ausarbeitung (Kap. 5), die von Ciceros erzieherischem Mahnbrief bis in die Moderne reicht, zeigt, wie der Menschenwürdebegriff aus dem der Würde im Allgemeinen hervorgegangen ist. Damit schließt der theoretische Teil.

Anhand von Grenzfällen der medizinischen Ethik (Kap. 6) wird im ersten praktischen Teil des Buches der Begriff der „kontingenten“ Würde eingeführt. Diese konstituiert sich individuell über die verschiedenen Rollen eines Menschen (z. B. Elternschaft, Mitarbeiter, Trainerin), die er innerhalb der sozialen Welt einnimmt. Daran schließen sich Stoeckers Ausführungen zum Hirntod (Kap. 7) sowie zum assistierten Suizid (Kap. 8) an, wobei er insbesondere das Bestehen der Menschwürde über den Tod hinaus betont. Im Falle der anschließend erörterten Domäne Psychiatrie gilt es, zur Aufrechterhaltung der Menschenwürde die Selbstbestimmtheit der Patienten zu respektieren. In Behandlungssituationen mit unumgänglich würdeschädigendem Charakter (z. B. Zwangsmaßnahmen) sollte dennoch ein Höchstmaß an Selbstbestimmtheit gewahrt werden (Kap. 9). Ein mögliches Instrument sind vorab getroffene Behandlungsvereinbarungen (Kap. 10).

Der thematisch weitläufigere zweite Praxisteil beginnt mit einer Untersuchung darüber, inwieweit das Verhängen der Todesstrafe mit Menschenwürde vereinbar ist (Kap. 11). Stoecker gelangt zu einem negativen Urteil: die unweigerlich hervorgerufene psychische Ausnahmesituation, bedingt durch die Absurdität des nahenden Endes im Falle des Strafvollzugs, ist nicht in das individuelle Selbstbild integrierbar. Von einem existentialistischen Standpunkt aus betrachtet könnte man auch die ambivalente Folgerung stützen, dass eine unheilbar erkrankte Person sich legitimerweise in ihrer Würde verletzt fühlt, wenn sie nicht in der Lage ist, das unabwendbare Ableben in das Narrativ des eigenen Lebens zu integrieren. Im zwölften Kapitel wird anhand des potentiellen Problemfalls des Gedankenlesens, als Resultat technischer Innovation, ein Exkurs in die Ethik der Neurowissenschaften gewagt. Zum Abschluss des zweiten Praxisteils thematisiert Stoecker den heutzutage kontroversen Ehrbegriff (Kap. 13). Trotz gewisser Schwierigkeiten möchte er diesen nicht vollends verwerfen, sondern ihn vielmehr, das Archaische überwindend, in ein modernes Konzept der Selbstachtung integrieren. Schließlich ist der Ehrbegriff fest in den alltäglichen Sprachgebrauch integriert und aus der Ethik, die u. a. auch auf Begriffe wie Schande, Scham oder Ansehen zurückgreift, schwerlich wegzudenken.

Im finalen Teil des Buches konzentriert sich Stoecker auf die Lebensphasen, in denen die Würde besonders gefährdet erscheint: die Kindheit (Kap. 14), das Altern (Kap. 15) und das Sterben (Kap. 16). Werden die Eigenheiten der genannten Lebensabschnitte nicht adäquat respektiert, so kommt dies einer Würdeverletzung gleich: etwa wenn als Bewertungsmaßstab eines Kindes lediglich dessen zukünftiges Erwachsensein gilt oder wenn alternde Menschen auf das reduziert werden, was sie im mittleren Alter waren. Die Ausbürgerung und Medikalisierung des Sterbens kritisierend betont Stoecker die Mitverantwortlichkeit jedes Einzelnen für seinen würdevollen Tod.

Wiederkehrend stellt Stoecker heraus, dass sich die Achtung der Menschenwürde in drei Teilverpflichtungen differenzieren lasse. Erstens: Wir sind prima facie verpflichtet, andere Menschen nicht in ihrer kontingenten Würde zu verletzen, d. h. sie nicht zu erniedrigen und zu demütigen. Zweitens: Es gibt Demütigungen und Erniedrigungen, die so schwerwiegend sind, dass sie unbedingt moralisch verboten sind. Drittens: Aus dem Stellenwert der kontingenten Würde ergeben sich nicht nur negative, sondern auch positive Pflichten – wir sollen Menschen, die selbst nicht (mehr) alleine für ihre Würde sorgen können, in der Bewahrung ihrer Würde unterstützen.

Betrachtet man das Buch als Ganzes, liegt das Hauptaugenmerk auf der kontingenten Würde. Den Anspruch auf eine solche kontingente Würde innerhalb der Gesellschaft bezeichnet Stoecker als Menschenwürde und distanziert sich somit von Leistungs- und Mitgifttheorien. Dieser Anspruch beinhaltet, dass einem Jeden die Möglichkeit gegeben sein muss, seine Person selbst zu entwerfen. Eine Menschenwürdeverletzung liegt dementsprechend immer dann vor, wenn das Individuum nach einer erfahrenen Missachtung, Beschämung, Demütigung oder Erniedrigung sein Selbstverständnis nicht mehr aufrechterhalten kann. Weil Menschen jedoch unterschiedlich mit Situationen umgehen, besteht das Problem, dass die gleiche Handlung eine Person in ihrer Würde verletzen kann und eine andere nicht. Somit ist nicht nur die Handlung, sondern auch die Resilienz der Person dafür ausschlaggebend, ob eine Würdeverletzung vorliegt.

Für die philosophische Verortung des von Stoecker vorgeschlagenen Konzepts und die im zweiten Teil dargelegten Überlegungen ist insbesondere signifikant, dass er Menschenwürde als einen gesellschaftlich aufgestellten und in der tätigen Praxis inhaltlich ausgefüllten Anspruch versteht. Aus dieser Konzeption der Menschenwürde als eines gesellschaftlichen Konstrukts resultiert, dass der Menschenwürdebegriff obsolet werden kann, sollte sich das soziale Gefüge wesentlich verändern. Kulturelle Unterschiede können somit bei der Interpretation dessen, was Menschenwürde bedeutet, zu fundamental unterschiedlichen Ergebnissen führen. Selbst die von Stoecker behauptete zentrale Rolle des Begriffs könne hierbei gänzlich in Abrede gestellt werden. Somit liefert Stoecker ein Konzept, das auch gegen seine Intention der Stärkung des Begriffs verwendet werden kann. Gleichwohl erlaubt das Konzept, kulturelle Unterschiede bei der Interpretation dessen, was Menschenwürde bedeutet, zu berücksichtigen (und so beispielsweise Vorwürfen des Eurozentrismus zuvorzukommen).

Da Stoecker zu den von ihm gewählten Problematiken jeweils auch historische Entwicklungen aufzeigt, erhält der Leser einen umfassenden Einblick in die ausgewählten Themen der angewandten Philosophie. Insbesondere zu Fragen der medizinischen Ethik gewinnen Stoeckers Argumente durch seine einschlägige praktische Erfahrung besondere Überzeugungskraft. Beispielsweise profitiert sein Vorschlag, das Problem des Verlustes der Selbstbestimmung von Menschen mit psychischen Erkrankungen mit Hilfe von Behandlungsvereinbarungen zu lösen, von Einsichten, die er im Rahmen eines Projekts in Kliniken gesammelt hat. Es gelingt ihm immer wieder, überraschende Denkanstöße zur Relevanz der Menschenwürde in verschiedenen Bereichen der Lebenswirklichkeit zu präsentieren – so z. B. zur Mitverantwortlichkeit des Sterbenden für seinen würdevollen Tod. Hierbei wendet sich Stoecker gegen die Tendenz der Moderne, die Verantwortung für ein würdevolles Sterben auf Krankenhäuser, Hospize, etc. abzuwälzen. Im Fokus steht die Idee, dass zu einem würdevollen Tod gehört, sich mental mit diesem auseinandersetzen zu können und die Art und Weise des Sterbens als Abschluss der Lebensgeschichte in diese zu integrieren.

Der Form des Buches als Sammlung separat erschienener Aufsätze ist geschuldet, dass sich ein gewisses Maß an Redundanz nicht vermeiden lässt. Dadurch entsteht gelegentlich der Eindruck einer mangelnden Systematik. Während es von Stoecker als Vorteil bezeichnet wird, dass die Kapitel unabhängig voneinander lesbar sind, erschwert die Redundanz bei Lektüre des ganzen Werkes das Erkennen des roten Fadens. Um es dem Leser zu erleichtern, die in der Essaysammlung verteilt dargebotene theoretische Konzeption nachzuvollziehen, wären Zwischenfazits an geeigneten Stellen wünschenswert gewesen. In diesen hätte Stoecker beispielsweise seine sich entwickelnde Position zur Menschenwürde schrittweise transparent machen können.

In einem angenehmen Stil liefert Stoecker ein insgesamt rundes Bild seines Menschenwürdebegriffs. Die bei der Erhellung entstehenden Schatten reflektiert er, auch wenn er ihnen natürlich nur teilweise nachgehen kann. Es gelingt ihm, mit neuen Denkanstößen einer reduktionistischen Lesart der Menschenwürde entgegenzuwirken und ihre ethische Bedeutung zu untermauern. Dem Ziel der Präzisierung des Menschenwürdebegriffs wäre noch besser entsprochen worden, wenn Stoecker die durchaus ertragreiche theoretische Substanz seiner Ausführungen am Ende noch einmal für die Leser zusammengefasst hätte. Ungeachtet dessen stellt das Werk eine erhellende Lektüre für die Fachwelt, einen guten Beginn für Einsteiger sowie eine philosophische Fundgrube für verschiedene Disziplinen dar.