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Der Umgang mit Wahrscheinlichkeiten und das Vertrauen in die Medizin

Ethische und wissenschaftstheoretische Aspekte einer Evidenz-basierten Medizin am Beispiel der Krebsfrüherkennung

Dealing with probabilities and confidence in medicine

Ethical and scientific aspects of evidence-based medicine in cancer screening

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Ethik in der Medizin Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

„Früh entdecken, effizienter therapieren!“ — Die innereLogik des Früherkennungskonzeptes ist äußerst öffentlichkeitswirksam und wird von den unterschiedlichsten medizinischen und gesellschaftlichen Institutionen unterstützt. In dieser Arbeit werden die vorrangig medizin-ethischen und wissenschaftstheoretischen Bedingungen untersucht, die erfüllt sein müssten, damit sich die Theorie einer Krebsfrüherkennung zum Wohl des Patienten umsetzen lässt: Wer ist kompetent, den jeweils stochastisch zu interpretierenden Nutzen und Schaden adäquat gegeneinander abzuwägen? Was sind angemessene Evaluationsparameter? Gibt es Grenzen der Informationsvermittlung in einer partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung? Vor dem Hintergrund der früherkennungsspezifischen Relativität von medizinischem Wissen und der unklaren Nutzenbestimmung stellt sich die Frage, wie verantwortungsvolles ärztliches Handeln aussehen kann. Der alleinige Hinweis auf die ärztliche Pflicht zur Aufklärung und Stärkung der Eigenverantwortung von Patienten verliert sich dabei zum Teil in paradoxen Scheinlösungen. Durch die genannten Probleme in der Krebsfrüherkennung wird deutlich, dass die Bedingungen für die Möglichkeit von patientenorientierter Informationsvermittlung nur schwer erfüllbar sind.

Abstract

Definition of the problem: “The earlier the detection of cancer, the better for the patient!” — The inner logic of the concept of cancer prevention seems to be obvious and appeals to common sense. Moreover, it is also supported by various medical and social institutions.

Arguments: In this article, priority is given to the ethical and scientific conditions that must be established to guarantee the effectiveness of the theory of cancer prevention from the patient’s viewpoint. Who is competent to give an adequate judgment about the risk-benefit-analysis in terms of the theory of probabilities? What are adequate parameters for a quality assessment of cancer prevention? Are there limitations in communicating statistical information in the relation between physician and patient? Against the background of the relativity of medical knowledge, a crucial ethical question is how a physician could responsibly treat individual patients.

Conclusion: Just pointing out the need for extensive patient information and informed consent would lead to pseudo-solutions. To prevent a decline of public confidence in modern medicine, there should be an ethical discussion about the limitations of informed consent as well as hidden problems like the difficult risk-benefit-analysis in cancer prevention.

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Notes

  1. Es muss angemerkt werden, dass die Erläuterungen zu den genannten Punkten in diesem Rahmen nur sehr skizzenhaft ausfallen konnten. Es wären noch etliche Ergänzungen nötig, um die Komplexität einer Nutzen-Schaden-Abwägung im Rahmen der Krebsfrüherkennung darzustellen. Dabei sind nicht nur biometrische Kenntnisse vonnöten, sondern auch biologische, psychische und sozialmedizinische, deren Erläuterung an dieser Stelle den Rahmen sprengen würde. Zudem sind die hier ausgewählten Aspekte primär für eine patientenorientierte Nutzen-Schaden-Abwägung gedacht. Gesundheitsökonomische Aspekte wurden nicht genannt. Hierbei handelt es sich aber ebenfalls um einen entscheidenden Bereich, der sich indirekt und rückwirkend natürlich auch auf den Patienten auswirkt.

  2. Zur Herleitung und Begründung der Prinzipien s. Beauchamp u. Childress [1]. Die drei genannten Prinzipien werden dort durch das vierte Prinzip der Gerechtigkeit ergänzt.

  3. Nach Miller lassen sich z. B. zwei Typen des Inanspruchnahmeverhaltens unterscheiden. Die „monitors“ wollen sich aktiv über ihre Krankheit informieren und in den Entscheidungsprozess zu Diagnostik und Therapie miteinbezogen werden. Im Gegensatz hierzu fühlen sich die „blunters“ in dieser aktiven Rolle eher überfordert und wünschen sich ein paternalistisch orientiertes Konzept für die Arzt-Patienten-Beziehung. Natürlich ist die Orientierung zu Monitor oder Blunter z. T. auch von der Komplexität der jeweiligen Situation abhängig [14].

  4. Siehe [20], S. 28 ff. Natürlich darf Risikowahrnehmung nicht allein auf den Vertrauensbegriff reduziert werden. Weitere Faktoren, wie Emotionen [12] und gesellschaftliche Prozesse im weitesten Sinne [11], nehmen Einfluss auf die Risikowahrnehmung.

  5. Weymayr u. Koch [24] zeigen anhand vieler Beispiele auf, wie Industrie und Wissenschaft in den verschiedensten Situationen kooperieren.

  6. Nachdem der Nutzen des Mammographiescreenings über Jahre diskutiert und eine Fülle von groß angelegten Studien an über 500.000 Frauen abgeschlossen wurden, stellte eine Metaanalyse vom Nordic Cochrane Center in Kopenhagen den Nutzen wieder deutlich infrage [8, 15].

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Strech, D. Der Umgang mit Wahrscheinlichkeiten und das Vertrauen in die Medizin. Ethik Med 17, 103–113 (2005). https://doi.org/10.1007/s00481-005-0369-7

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