Zusammenfassung
In der zwischen Kommunitaristen und Liberalen ausgetragenen Debatte um die Begründbarkeit universal gültiger Standards hat die Moralphilosophin Martha Nussbaum eine spannungsreiche Annäherung an beide Seiten unternommen: Einerseits plädiert die Aristotelikerin für eine enge Kopplung von Gerechtigkeitsnormen an eine gehaltvolle Konzeption des guten Lebens. Andererseits sucht Nussbaum die Nähe zum politischen Liberalismus. Sie selbst versteht ihre aristotelische Konzeption menschlicher Fähigkeiten und Tugenden als kritische Weiterentwicklung von John Rawls’ Entwurf einer gerechten politischen Ordnung. Der Beitrag stellt Nussbaum als eine auf der Schnittstelle zwischen Kommunitarismus und Liberalismus balancierende Denkerin vor.
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Notes
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An anderer Stelle spricht Nussbaum auch von einer „starken vagen Konzeption“ (Nussbaum 1999, S. 62).
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Mit dem Gegensatzpaar dynamis (Möglichkeit, Fähigkeit, Potenz) und energeia (Verwirklichung, Wirklichkeit, Akt) sucht Aristoteles das Wesen der Veränderung zu bestimmen von einer Potenz hin zu deren Ans-Ziel-Gekommensein. Wie Otfried Höffe schreibt, erhält das Sein durch das Begriffspaar einen zweifachen Sinn. „Der unbehauene Stein ‚ist‘ schon eine Statue, der Same ‚ist‘ schon ein Baum, der Bildhauerlehrling ‚ist‘ schon ein Bildhauer, freilich nur aus dem Rückblick und im Modus der Möglichkeit, während es die fertige Statue, der ausgewachsene Baum und der ausgebildete Kunsthandwerker im Modus der Wirklichkeit ‚sind‘“ (Höffe 1996, S. 106 f.).
- 3.
Walzer selbst bezeichnet sein Konzept als liberale Korrektur des bürgerlichen Republikanismus, des Marxismus, des Radikalliberalismus der ‚libertarians‘ und der verschiedenen Varianten des Nationalismus (vgl. Krause und Malowitz 1998, S. 126), denen er jeweils eine eindimensionale Auffassung der Idee des guten Lebens attestiert (Walzer 1996, S. 67 ff.). Gegen diese Verengungen verknüpft Walzer ein republikanisches Politikverständnis mit der liberalen Anerkennung ausdifferenzierter und autonomer Handlungsbereiche in pluralistischen Gesellschaften. Die positive Freiheit zur aktiven Gestaltung des Gemeinwesens bleibt hier nicht auf den Bereich staatlich-politischen Handeln beschränkt, sondern gewinnt die ihr eigene Praktikabilität und Attraktivität aus den verschiedenen Formen bürgerschaftlichen Engagements in den Netzwerken und freiwilligen Assoziationen der zivilen Gesellschaft.
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Straßenberger, G. (2019). Martha Craven Nussbaum und das kommunitaristische Denken. In: Reese-Schäfer, W. (eds) Handbuch Kommunitarismus. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16859-9_11
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